Der Brief

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Maribu

Mitglied
Der Brief

Sie stand vor dem Balkongitter, die Arme aufgestützt und schaute freudlos und gedankenverloren hinunter.
Die Kleinkinder spielten, wie immer bei trockenem Wetter, in der Sandkiste. Frau Dreesen saß davor auf der Bank und stillte ihr Baby. Zwei größere Mädchen schaukelten juchend nebeneinander, eine die andere an Höhe übertreffen wollend.
Einige Jungen spielten Fußball. Die vier Birken auf der kleinen Wiese waren die Pfosten. Das laute Torgeschrei und Abklatschen, lässig wie die Profis, nahm sie teilnahmslos hin.
Der heute morgen vom Hausmeister abgegebene Brief hatte sie beim Frühstück getroffen wie ein Faustschlag in die Magengrube. Ihr Toastbrot wurde kalt und hart wie Zwieback; sie bekam keinen Bissen hinunter.
Wie viele Kinder hatte sie hier schon aufwachsen gesehen?
Die meisten kannte sie mit Namen. Auch die Jungs, die jetzt Fußball spielten. Vor acht oder zehn Jahren saßen sie unter ihr in der Sandkiste. An ihre Kinder musste sie auch denken, wie ihre Tochter Marianne unermüdlich Sandkuchen formte, und ihr Sohn Gerhard ihn genüsslich mit Fußtritten zerstörte.
Manchmal hatte sie mit Nachbarinnen Ärger bekommen, weil er ihren Kindern das Spielzeug weggenommen hatte.
Sie war mit Gretel Schulz, die Anfang des Jahres gestorben war, die einzige Erstmieterin des im Jahre 1954 erbauten Wohnblocks und hatte gedacht, so lange wie möglich in dieser Wohnung zu bleiben. Wenn sie Schwierigkeiten bekäme, die Treppe bis zum dritten Stock hochzugehen, würde sich schon ein gutes Heim finden lassen.
Sie ging zurück ins Wohnzimmer, griff zum Telefon und drückte die Verbindungstaste zum Sohn. Ihre Schwiegertochter meldete sich. "Du hast Glück, dass Gerhard noch da ist. Er muss gleich zur Schicht. Warte einen Moment, er ist gerade im Bad."
Ihr Sohn war bei VW in Wolfsburg beschäftigt.
Sie las ihm das Schreiben vor. "Da kann ich jetzt nicht viel zu sagen. In zehn Minuten muss ich aus dem Haus. Sag mir noch mal den Paragrafen, auf den sie sich beziehen. Ich muss das aufschreiben und nachschlagen."
"573 Absatz 2 Nr.3 BGB", antwortete sie.
"Notiert! Unabhängig davon solltest du das Kaufangebot annehmen! Dann hast du einen Sachwert. Das Geld weiterhin bei den niedrigen Zinsen auf der Bank zu halten, wäre unklug! - Heute ist Mittwoch, und Marianne kommt nachmittags zu dir. Sprich das mit ihr durch. Ich melde mich spätestens am Wochenende."
"Ja, das genügt! - Kannst du mir noch eins von den Kindern ans Telefon geben?"
"Tut mir leid, einer ist noch in der Schule, der andere spielt draußen. Tschüss!"
Das Gespräch hatte sie nun noch mehr durcheinander gebracht. Was hatte ihr Sohn für eine Vorstellung? Wie könnte sie für ihr Guthaben auf dem Sparbuch eine Wohnung kaufen? Abgesehen davon, dass Rentner über siebzig keinen Kredit von den Banken bekommen, wie alt müsste sie werden, um die Wohnung abbezahlt zu bekommen?
Die Zeit bis zum Besuch der Tochter nutzte sie zum Einkaufen.
Während sie sich um den Kaffee kümmerte, konnte Marianne sich schon mal mit dem Brief beschäftigen. "Die spinnen wohl!" hörte sie ihr Schimpfen bis in die Küche. "Von wegen sechs Monate!" Und einen Augenblick später, bevor sie mit dem Tablett ins Wohnzimmer kam: "Das werden wir nachprüfen, ihr verfluchten Immobilien-Haie!"
Trotz ihrer Niedergeschlagenheit musste sie schmunzeln, dass ihre Tochter sich so empören konnte.
Marianne wartete, bis ihre Mutter den Kaffee eingeschenkt hatte. "Ich glaube, dass sie dir durch das sechzigjährige Mietverhältnis eine Kündigungsfrist von achtzehn Monaten einräumen müssen. - Also kein Grund, jetzt schon unruhig zu werden!"
"Soll ich mich darüber freuen? Wenn die anderen Familien nach sechs Monaten ausziehen müssen, werde ich nicht ein Jahr allein in diesem Geisterhaus leben wollen!"
"Die Gesellschaft muss sowieso erst mal nachweisen, dass sie dieses Gebäude wegen wirtschaftlicher Unzumutbarkeit abreißen und duch einen Neubau ersetzen dürfen!"
"Den Paragraf hat Gerhard sich aufgeschrieben. Er will das auch nachprüfen."
"Ja, vielleicht lohnt sich eine Sanierung!"
"Und wie ist das mit Denkmalschutz?"
Marianne lachte. "Das kannst du vergessen! In den 50-ziger Jahren haben sie noch Asbest verarbeitet!"
Sie reichte ihrer Tochter eine Dose mit Keksen. "Und was hälts du von dem Kaufangebot?"
Marianne nahm sich eine Schokorolle und erwiderte kauend: "Das ist Schwachsinn" Wie kann man einer Zweiundachtzigjährigen eine Wohnung verkaufen wollen?!"
"Aber sie würden mir doch vorübergehend bis zum Neubau eine moderne Wohnung in der Nähe zum selben Mietpreis überlassen!"
"Ja, das ist der Köder, den sie ausgelegt haben! Das sind doch abgebrühte Geschäftsleute! Der angebliche Vorzugspreis von 280.000 Euro ist der Normalpreis, und der spätere von 320.000 ist ein "Mondpreis", den niemand bezahlen würde. Das ist doch für dich unerschwinglich! Oder hat Vater dir ein Vermögen hinterlassen?"
Ihre Mutter nippte nur am Kaffee und sagte: "Dein Bruder meinte vorhin am Telefon, dass ich auf jeden Fall kaufen sollte."
"Was hat der für eine Vorstellung?"
"Das habe ich mich auch gefragt."
"Ich werde heute abend mit ihm telefonieren und ihm die Augen öffnen!"
Sie wechselten das Thema und sahen sich noch "ihre" Kultserie
im Vorabendprogramm an, bevor ihre Tochter sich verabschiedete.
"Ich nehme die Kündigung mit und zeige sie morgen meinem Chef.
Mach dir bitte keine Sorgen!"
Sie war jetzt beruhigt. Mariannes Chef ist Rechtsanwalt, der wird das schon abwenden!

Sie war gerade eingeschlafen, als sie durch Lärm aufschreckte, der durch die Klappe des Wohnzimmerfensters eindrang. Sie zog ihren Bademantel über und ging auf den Balkon. Fünf oder sechs Jugendliche saßen grölend auf der Banklehne, jeder hatte eine Bierflasche in der Hand. Sie rauchten. Einer schnippte die Kippe in den Sand. Ein anderer lag in der Sandkiste auf dem Bauch und machte Schwimmbewegungen. "Ich bin Deutschlands bester Trockenschwimmer!" prahlte er. Die anderen johlten und ließen eine Schnapsflasche kreisen.
Inzwischen standen auch Nachbarn auf den Balkons und fingen an zu schimpfen. Herr Dreesen vom Nebenhaus rief hinunter: "Könnt ihr nicht woanders saufen und rumschreien? Ihr habt schon unser Baby wachgemacht. Sonst komme ich runter und mach euch Beine!"
"Bleib lieber oben, du Wichser!" kam die Antwort. "Oder soll dein Baby ein Krüppel als Vater haben?"
Das darf doch nicht wahr sein! dachte sie und lehnte sich über das Geländer. "So laut wie sie konnte rief sie:
"Wenn ihr nicht sofort verschwindet, rufe ich die Polizei!"
"Halt die Fresse, du alte Hexe!" Diese Stimme kannte sie. Eine Unverschämtheit von dem ehemaligen Hosenscheißer, der sie oft um Süßigkeiten angebettelt hatte! "Kevin, womit habe ich das verdient?" Ihre Stimme war leiser und man hörte ihre Enttäuschung heraus. Trotzdem kam sie unten an; es sprang jemand von der Lehne und duckte sich dahinter.
Sie beugte sich weiter nach vorne und schrie: "Ja, schäm dich, Kevin!" Plötzlich verlor sie das Gleichgewicht, versuchte noch, sich am Geländer festzuklammern, bemüht, die Füße wieder auf den Boden zu bekommen.
Neben dem "Schwimmer" in der Sandkiste schlug sie auf und blieb regungslos liegen. Der Junge wurde schlagartig nüchtern, schüttelte ihren Arm ab, der auf seinen Beinen
liegen geblieben war, sprang hoch und ergriff panikartig mit seinen still gewordenen Freunden die Flucht.
Sechs Monate später wurde der Block abgerissen.
 
U

USch

Gast
Hallo Maribu,
eine sicher aktuelle Problematik, wo immer mehr Sozialwohnungen von staatlichen Institutionen an private Immobiliengesellschaften (Deutsche Annington ist die größte und wohl skrupelloseste), die natürlich Kohle machen wollen, verkauft wurden.
Ein paar kleine formale Fehler haben sich eingeschlichen:

Zwei größere Mädchen schaukelten juchend nebeneinander, eine die andere an Höhe übertreffen wollend.
Den zweiten Teil des Satzes finde ich sehr sperrig.
Vorschlag:
Zwei größere Mädchen schaukelten juchend nebeneinander. Eine wollte die andere an Höhe übertreffen.

Marianne nahm sich eine Schokorolle und erwiderte kauend[blue]: Doppelpunkt[/blue] "Das ist Schwachsinn"[blue]. Punkt[/blue] Wie kann man einer Zweiundachtzigjährigen eine Wohnung verkaufen wollen?!"
"Ich bin Deutschlands bester Trockenschwimmer!"[blue], Komma [/blue]prahlte er.
"Bleib lieber oben, du Wichser!"[blue], Komma[/blue] kam die Antwort.
Das darf doch nicht wahr sein![blue], Komma[/blue] dachte sie und lehnte sich über das Geländer. [red]"kein Anführungszeichen [/red]So laut wie sie konnte rief sie:
Der Junge wurde schlagartig nüchtern, schüttelte ihren Arm ab, der auf seinen Beinen [red]kein Absatz[/red]
liegen geblieben war, sprang hoch und ergriff panikartig mit seinen still gewordenen Freunden die Flucht.
Deine wörtlichen Reden verschwinden leicht im Text. Üblich ist es, Absätze zu machen, wenn die Rede zu Ende ist. Das hebt besser vom Fließtext ab. Wenn die Rede beginnt, setzt man üblicherweise die Anführungszeichen [blue]unten[/blue].Schau mal in aktuelle Romane.
Vielleicht könntest du den Text auch noch etwas straffen. So kommt er für mich eher wie eine Erzählung daher.
LG USch
 

Maribu

Mitglied
Der Brief

Sie stand vor dem Balkongitter, die Arme aufgestützt und schaute freudlos und gedankenverloren hinunter.
Die Kleinkinder spielten, wie immer bei trockenem Wetter, in der Sandkiste. Frau Dreesen saß davor auf der Bank und stillte ihr Baby. Zwei größere Mädchen schaukelten juchend nebeneinander. Eine wollte die andere an Höhe übertreffen.
Einige Jungen spielten Fußball. Die vier Birken auf der kleinen Wiese waren die Pfosten. Das laute Torgeschrei und Abklatschen, lässig wie die Profis, nahm sie teilnahmslos hin.
Der heute morgen vom Hausmeister abgegebene Brief hatte sie beim Frühstück getroffen wie ein Faustschlag in die Magengrube. Ihr Toastbrot wurde kalt und hart wie Zwieback; sie bekam keinen Bissen hinunter.
Wie viele Kinder hatte sie hier schon aufwachsen gesehen?
Die meisten kannte sie mit Namen. Auch die Jungs, die jetzt Fußball spielten. Vor acht oder zehn Jahren saßen sie unter ihr in der Sandkiste. An ihre Kinder musste sie auch denken, wie ihre Tochter Marianne unermüdlich Sandkuchen formte, und ihr Sohn Gerhard ihn genüsslich mit Fußtritten zerstörte.
Manchmal hatte sie mit Nachbarinnen Ärger bekommen, weil er ihren Kindern das Spielzeug weggenommen hatte.
Sie war mit Gretel Schulz, die Anfang des Jahres gestorben war, die einzige Erstmieterin des im Jahre 1954 erbauten Wohnblocks und hatte gedacht, so lange wie möglich in dieser Wohnung zu bleiben. Wenn sie Schwierigkeiten bekäme, die Treppe bis zum dritten Stock hochzugehen, würde sich schon ein gutes Heim finden lassen.
Sie ging zurück ins Wohnzimmer, griff zum Telefon und drückte die Verbindungstaste zum Sohn. Ihre Schwiegertochter meldete sich. "Du hast Glück, dass Gerhard noch da ist. Er muss gleich zur Schicht. Warte einen Moment, er ist gerade im Bad"
Ihr Sohn war bei VW in Wolfsburg beschäftigt.
Sie las ihm das Schreiben vor. "Da kann ich jetzt nicht viel zu sagen. In zehn Minuten muss ich aus dem Haus. Sag mir noch mal den Paragrafen, auf den sie sich beziehen. Ich muss das aufschreiben und nachschlagen."
"573 Absatz 2 Nr.3 BGB", antwortete sie.
"Notiert! Unabhängig davon solltest du das Kaufangebot annehmen! Dann hast du einen Sachwert. Das Geld weiterhin bei den niedrigen Zinsen auf der Bank zu halten, wäre unklug! - Heute ist Mittwoch, und Marianne kommt nachmittags zu dir. Sprich das mit ihr durch. Ich melde mich spätestens am Wochenende."
"Ja, das genügt! - Kannst du mir noch eins von den Kindern ans Telefon geben?"
"Tut mir leid, einer ist noch in der Schule, der andere spielt draußen. Tschüss!"
Das Gespräch hatte sie nun noch mehr durcheinander gebracht. Was hatte ihr Sohn für eine Vorstellung? Wie könnte sie für ihr Guthaben auf dem Sparbuch eine Wohnung kaufen? Abgesehen davon, dass Rentner über siebzig keinen Kredit von den Banken bekommen, wie alt müsste sie werden, um die Wohnung abbezahlt zu bekommen?
Die Zeit bis zum Besuch der Tochter nutzte sie zum Einkaufen.
Während sie sich um den Kaffee kümmerte, konnte Marianne sich schon mal mit dem Brief beschäftigen. "Die spinnen wohl!" hörte sie ihr Schimpfen bis in die Küche. "Von wegen sechs Monate!" Und einen Augenblick später, bevor sie mit dem Tablett ins Wohnzimmer kam: "Das werden wir nachprüfen, ihr verfluchten Immobilien-Haie!"
Trotz ihrer Niedergeschlagenheit musste sie schmunzeln, dass ihre Tochter sich so empören konnte.
Marianne wartete, bis ihre Mutter den Kaffee eingeschenkt hatte. "Ich glaube, dass sie dir durch das sechzigjährige Mietverhältnis eine Kündigungsfrist von achtzehn Monaten einräumen müssen. - Also kein Grund, jetzt schon unruhig zu werden!"
"Soll ich mich darüber freuen? Wenn die anderen Familien nach sechs Monaten ausziehen müssen, werde ich nicht ein Jahr allein in diesem Geisterhaus leben wollen!"
"Die Gesellschaft muss sowieso erst mal nachweisen, dass sie dieses Gebäude wegen wirtschaftlicher Unzumutbarkeit abreißen und duch einen Neubau ersetzen dürfen!"
"Den Paragraf hat Gerhard sich aufgeschrieben. Er will das auch nachprüfen."
"Ja, vielleicht lohnt sich eine Sanierung!"
"Und wie ist das mit Denkmalschutz?"
Marianne lachte. "Das kannst du vergessen! In den 50-ziger Jahren haben sie noch Asbest verarbeitet!"
Sie reichte ihrer Tochter eine Dose mit Keksen. "Und was hälts du von dem Kaufangebot?"
Marianne nahm sich eine Schokorolle und erwiderte kauend: "Das ist Schwachsinn! Wie kann man einer Zweiundachtzigjährigen eine Wohnung verkaufen wollen?!"
"Aber sie würden mir doch vorübergehend bis zum Neubau eine moderne Wohnung in der Nähe zum selben Mietpreis überlassen!"
"Ja, das ist der Köder, den sie ausgelegt haben! Das sind doch abgebrühte Geschäftsleute! Der angebliche Vorzugspreis von 280.000 Euro ist der Normalpreis, und der spätere von 320.000 ist ein "Mondpreis", den niemand bezahlen würde. Das ist doch für dich unerschwinglich! Oder hat Vater dir ein Vermögen hinterlassen?"
Ihre Mutter nippte nur am Kaffee und sagte: "Dein Bruder meinte vorhin am Telefon, dass ich auf jeden Fall kaufen sollte."
"Was hat der für eine Vorstellung?"
"Das habe ich mich auch gefragt."
"Ich werde heute abend mit ihm telefonieren und ihm die Augen öffnen!"
Sie wechselten das Thema und sahen sich noch "ihre" Kultserie
im Vorabendprogramm an, bevor ihre Tochter sich verabschiedete.
"Ich nehme die Kündigung mit und zeige sie morgen meinem Chef.
Mach dir bitte keine Sorgen!"
Sie war jetzt beruhigt. Mariannes Chef ist Rechtsanwalt, der wird das schon abwenden!

Sie war gerade eingeschlafen, als sie durch Lärm aufschreckte, der durch die Klappe des Wohnzimmerfensters eindrang. Sie zog ihren Bademantel über und ging auf den Balkon. Fünf oder sechs Jugendliche saßen grölend auf der Banklehne, jeder hatte eine Bierflasche in der Hand. Sie rauchten. Einer schnippte die Kippe in den Sand. Ein anderer lag in der Sandkiste auf dem Bauch und machte Schwimmbewegungen. "Ich bin Deutschlands bester Trockenschwimmer!", prahlte er. Die anderen johlten und ließen eine Schnapsflasche kreisen.
Inzwischen standen auch Nachbarn auf den Balkons und fingen an zu schimpfen. Herr Dreesen vom Nebenhaus rief hinunter: "Könnt ihr nicht woanders saufen und rumschreien? Ihr habt schon unser Baby wachgemacht. Sonst komme ich runter und mach euch Beine!"
"Bleib lieber oben, du Wichser!", kam die Antwort. "Oder soll dein Baby ein Krüppel als Vater haben?"
Das darf doch nicht wahr sein! dachte sie und lehnte sich über das Geländer. So laut wie sie konnte rief sie:
"Wenn ihr nicht sofort verschwindet, rufe ich die Polizei!"
"Halt die Fresse, du alte Hexe!" Diese Stimme kannte sie. Eine Unverschämtheit von dem ehemaligen Hosenscheißer, der sie oft um Süßigkeiten angebettelt hatte! "Kevin, womit habe ich das verdient?" Ihre Stimme war leiser und man hörte ihre Enttäuschung heraus. Trotzdem kam sie unten an; es sprang jemand von der Lehne und duckte sich dahinter.
Sie beugte sich weiter nach vorne und schrie: "Ja, schäm dich, Kevin!" Plötzlich verlor sie das Gleichgewicht, versuchte noch, sich am Geländer festzuklammern, bemüht, die Füße wieder auf den Boden zu bekommen.
Neben dem "Schwimmer" in der Sandkiste schlug sie auf und blieb regungslos liegen. Der Junge wurde schlagartig nüchtern, schüttelte ihren Arm ab, der auf seinen Beinen
liegen geblieben war, sprang hoch und ergriff panikartig mit seinen still gewordenen Freunden die Flucht.
Sechs Monate später wurde der Block abgerissen.
 

Maribu

Mitglied
Der Brief

Sie stand vor dem Balkongitter, die Arme aufgestützt und schaute freudlos und gedankenverloren hinunter.
Die Kleinkinder spielten, wie immer bei trockenem Wetter, in der Sandkiste. Frau Dreesen saß davor auf der Bank und stillte ihr Baby. Zwei größere Mädchen schaukelten juchend nebeneinander. Eine wollte die andere an Höhe übertreffen.
Einige Jungen spielten Fußball. Die vier Birken auf der kleinen Wiese waren die Pfosten. Das laute Torgeschrei und Abklatschen, lässig wie die Profis, nahm sie teilnahmslos hin.
Der heute morgen vom Hausmeister abgegebene Brief hatte sie beim Frühstück getroffen wie ein Faustschlag in die Magengrube. Ihr Toastbrot wurde kalt und hart wie Zwieback; sie bekam keinen Bissen hinunter.
Wie viele Kinder hatte sie hier schon aufwachsen gesehen?
Die meisten kannte sie mit Namen. Auch die Jungs, die jetzt Fußball spielten. Vor acht oder zehn Jahren saßen sie unter ihr in der Sandkiste. An ihre Kinder musste sie auch denken, wie ihre Tochter Marianne unermüdlich Sandkuchen formte, und ihr Sohn Gerhard ihn genüsslich mit Fußtritten zerstörte.
Manchmal hatte sie mit Nachbarinnen Ärger bekommen, weil er ihren Kindern das Spielzeug weggenommen hatte.
Sie war mit Gretel Schulz, die Anfang des Jahres gestorben war, die einzige Erstmieterin des im Jahre 1954 erbauten Wohnblocks und hatte gedacht, so lange wie möglich in dieser Wohnung zu bleiben. Wenn sie Schwierigkeiten bekäme, die Treppe bis zum dritten Stock hochzugehen, würde sich schon ein gutes Heim finden lassen.
Sie ging zurück ins Wohnzimmer, griff zum Telefon und drückte die Verbindungstaste zum Sohn. Ihre Schwiegertochter meldete sich. "Du hast Glück, dass Gerhard noch da ist. Er muss gleich zur Schicht. Warte einen Moment, er ist gerade im Bad"
Ihr Sohn war bei VW in Wolfsburg beschäftigt.
Sie las ihm das Schreiben vor. "Da kann ich jetzt nicht viel zu sagen. In zehn Minuten muss ich aus dem Haus. Sag mir noch mal den Paragrafen, auf den sie sich beziehen. Ich muss das aufschreiben und nachschlagen."
"573 Absatz 2 Nr.3 BGB", antwortete sie.
"Notiert! Unabhängig davon solltest du das Kaufangebot annehmen! Dann hast du einen Sachwert. Das Geld weiterhin bei den niedrigen Zinsen auf der Bank zu halten, wäre unklug! - Heute ist Mittwoch, und Marianne kommt nachmittags zu dir. Sprich das mit ihr durch. Ich melde mich spätestens am Wochenende."
"Ja, das genügt! - Kannst du mir noch eins von den Kindern ans Telefon geben?"
"Tut mir leid, einer ist noch in der Schule, der andere spielt draußen. Tschüss!"
Das Gespräch hatte sie nun noch mehr durcheinander gebracht. Was hatte ihr Sohn für eine Vorstellung? Wie könnte sie für ihr Guthaben auf dem Sparbuch eine Wohnung kaufen? Abgesehen davon, dass Rentner über siebzig keinen Kredit von den Banken bekommen, wie alt müsste sie werden, um die Wohnung abbezahlt zu bekommen?
Die Zeit bis zum Besuch der Tochter nutzte sie zum Einkaufen.
Während sie sich um den Kaffee kümmerte, konnte Marianne sich schon mal mit dem Brief beschäftigen. "Die spinnen wohl!" hörte sie ihr Schimpfen bis in die Küche. "Von wegen sechs Monate!" Und einen Augenblick später, bevor sie mit dem Tablett ins Wohnzimmer kam: "Das werden wir nachprüfen, ihr verfluchten Immobilien-Haie!"
Trotz ihrer Niedergeschlagenheit musste sie schmunzeln, dass ihre Tochter sich so empören konnte.
Marianne wartete, bis ihre Mutter den Kaffee eingeschenkt hatte. "Ich glaube, dass sie dir durch das sechzigjährige Mietverhältnis eine Kündigungsfrist von achtzehn Monaten einräumen müssen. - Also kein Grund, jetzt schon unruhig zu werden!"
"Soll ich mich darüber freuen? Wenn die anderen Familien nach sechs Monaten ausziehen müssen, werde ich nicht ein Jahr allein in diesem Geisterhaus leben wollen!"
"Die Gesellschaft muss sowieso erst mal nachweisen, dass sie dieses Gebäude wegen wirtschaftlicher Unzumutbarkeit abreißen und duch einen Neubau ersetzen dürfen!"
"Den Paragraf hat Gerhard sich aufgeschrieben. Er will das auch nachprüfen."
"Ja, vielleicht lohnt sich eine Sanierung!"
"Und wie ist das mit Denkmalschutz?"
Marianne lachte. "Das kannst du vergessen! In den 50-ziger Jahren haben sie noch Asbest verarbeitet!"
Sie reichte ihrer Tochter eine Dose mit Keksen. "Und was hälts du von dem Kaufangebot?"
Marianne nahm sich eine Schokorolle und erwiderte kauend: "Das ist Schwachsinn! Wie kann man einer Zweiundachtzigjährigen eine Wohnung verkaufen wollen?!"
"Aber sie würden mir doch vorübergehend bis zum Neubau eine moderne Wohnung in der Nähe zum selben Mietpreis überlassen!"
"Ja, das ist der Köder, den sie ausgelegt haben! Das sind doch abgebrühte Geschäftsleute! Der angebliche Vorzugspreis von 280.000 Euro ist der Normalpreis, und der spätere von 320.000 ist ein "Mondpreis", den niemand bezahlen würde. Das ist doch für dich unerschwinglich! Oder hat Vater dir ein Vermögen hinterlassen?"
Ihre Mutter nippte nur am Kaffee und sagte: "Dein Bruder meinte vorhin am Telefon, dass ich auf jeden Fall kaufen sollte."
"Was hat der für eine Vorstellung?"
"Das habe ich mich auch gefragt."
"Ich werde heute abend mit ihm telefonieren und ihm die Augen öffnen!"
Sie wechselten das Thema und sahen sich noch "ihre" Kultserie
im Vorabendprogramm an, bevor ihre Tochter sich verabschiedete.
"Ich nehme die Kündigung mit und zeige sie morgen meinem Chef.
Mach dir bitte keine Sorgen!"
Sie war jetzt beruhigt. Mariannes Chef ist Rechtsanwalt, der wird das schon abwenden!

Sie war gerade eingeschlafen, als sie durch Lärm aufschreckte, der durch die Klappe des Wohnzimmerfensters eindrang. Sie zog ihren Bademantel über und ging auf den Balkon. Fünf oder sechs Jugendliche saßen grölend auf der Banklehne, jeder hatte eine Bierflasche in der Hand. Sie rauchten. Einer schnippte die Kippe in den Sand. Ein anderer lag in der Sandkiste auf dem Bauch und machte Schwimmbewegungen. "Ich bin Deutschlands bester Trockenschwimmer!", prahlte er. Die anderen johlten und ließen eine Schnapsflasche kreisen.
Inzwischen standen auch Nachbarn auf den Balkons und fingen an zu schimpfen. Herr Dreesen vom Nebenhaus rief hinunter: "Könnt ihr nicht woanders saufen und rumschreien? Ihr habt schon unser Baby wachgemacht. Sonst komme ich runter und mach euch Beine!"
"Bleib lieber oben, du Wichser!", kam die Antwort. "Oder soll dein Baby ein Krüppel als Vater haben?"
Das darf doch nicht wahr sein! dachte sie und lehnte sich über das Geländer. So laut wie sie konnte rief sie:
"Wenn ihr nicht sofort verschwindet, rufe ich die Polizei!"
"Halt die Fresse, du alte Hexe!"
Diese Stimme kannte sie. Eine Unverschämtheit von dem ehemaligen Hosenscheißer, der sie oft um Süßigkeiten angebettelt hatte! "Kevin, womit habe ich das verdient?" Ihre Stimme war leiser und man hörte ihre Enttäuschung heraus. Trotzdem kam sie unten an; es sprang jemand von der Lehne und duckte sich dahinter.
Sie beugte sich weiter nach vorne und schrie: "Ja, schäm dich, Kevin!" Plötzlich verlor sie das Gleichgewicht, versuchte noch, sich am Geländer festzuklammern, bemüht, die Füße wieder auf den Boden zu bekommen.
Neben dem "Schwimmer" in der Sandkiste schlug sie auf und blieb regungslos liegen. Der Junge wurde schlagartig nüchtern, schüttelte ihren Arm ab, der auf seinen Beinen
liegen geblieben war, sprang hoch und ergriff panikartig mit seinen still gewordenen Freunden die Flucht.
Sechs Monate später wurde der Block abgerissen.
 

Maribu

Mitglied
Der Brief

Sie stand vor dem Balkongitter, die Arme aufgestützt und schaute freudlos und gedankenverloren hinunter.
Die Kleinkinder spielten, wie immer bei trockenem Wetter, in der Sandkiste. Frau Dreesen saß davor auf der Bank und stillte ihr Baby. Zwei größere Mädchen schaukelten juchend nebeneinander. Eine wollte die andere an Höhe übertreffen.
Einige Jungen spielten Fußball. Die vier Birken auf der kleinen Wiese waren die Pfosten. Das laute Torgeschrei und Abklatschen, lässig wie die Profis, nahm sie teilnahmslos hin.
Der heute morgen vom Hausmeister abgegebene Brief hatte sie beim Frühstück getroffen wie ein Faustschlag in die Magengrube. Ihr Toastbrot wurde kalt und hart wie Zwieback; sie bekam keinen Bissen hinunter.
Wie viele Kinder hatte sie hier schon aufwachsen gesehen?
Die meisten kannte sie mit Namen. Auch die Jungs, die jetzt Fußball spielten. Vor acht oder zehn Jahren saßen sie unter ihr in der Sandkiste. An ihre Kinder musste sie auch denken, wie ihre Tochter Marianne unermüdlich Sandkuchen formte, und ihr Sohn Gerhard ihn genüsslich mit Fußtritten zerstörte.
Manchmal hatte sie mit Nachbarinnen Ärger bekommen, weil er ihren Kindern das Spielzeug weggenommen hatte.
Sie war mit Gretel Schulz, die Anfang des Jahres gestorben war, die einzige Erstmieterin des im Jahre 1954 erbauten Wohnblocks und hatte gedacht, so lange wie möglich in dieser Wohnung zu bleiben. Wenn sie Schwierigkeiten bekäme, die Treppe bis zum dritten Stock hochzugehen, würde sich schon ein gutes Heim finden lassen.
Sie ging zurück ins Wohnzimmer, griff zum Telefon und drückte die Verbindungstaste zum Sohn. Ihre Schwiegertochter meldete sich. "Du hast Glück, dass Gerhard noch da ist. Er muss gleich zur Schicht. Warte einen Moment, er ist gerade im Bad"
Ihr Sohn war bei VW in Wolfsburg beschäftigt.
Sie las ihm das Schreiben vor. "Da kann ich jetzt nicht viel zu sagen. In zehn Minuten muss ich aus dem Haus. Sag mir noch mal den Paragrafen, auf den sie sich beziehen. Ich muss das aufschreiben und nachschlagen."
"573 Absatz 2 Nr.3 BGB", antwortete sie.
"Notiert! Unabhängig davon solltest du das Kaufangebot annehmen! Dann hast du einen Sachwert. Das Geld weiterhin bei den niedrigen Zinsen auf der Bank zu halten, wäre unklug! - Heute ist Mittwoch, und Marianne kommt nachmittags zu dir. Sprich das mit ihr durch. Ich melde mich spätestens am Wochenende."
"Ja, das genügt! - Kannst du mir noch eins von den Kindern ans Telefon geben?"
"Tut mir leid, einer ist noch in der Schule, der andere spielt draußen. Tschüss!"
Das Gespräch hatte sie nun noch mehr durcheinander gebracht. Was hatte ihr Sohn für eine Vorstellung? Wie könnte sie für ihr Guthaben auf dem Sparbuch eine Wohnung kaufen? Abgesehen davon, dass Rentner über siebzig keinen Kredit von den Banken bekommen, wie alt müsste sie werden, um die Wohnung abbezahlt zu bekommen?
Die Zeit bis zum Besuch der Tochter nutzte sie zum Einkaufen.
Während sie sich um den Kaffee kümmerte, konnte Marianne sich schon mal mit dem Brief beschäftigen. "Die spinnen wohl!" hörte sie ihr Schimpfen bis in die Küche. "Von wegen sechs Monate!" Und einen Augenblick später, bevor sie mit dem Tablett ins Wohnzimmer kam: "Das werden wir nachprüfen, ihr verfluchten Immobilien-Haie!"
Trotz ihrer Niedergeschlagenheit musste sie schmunzeln, dass ihre Tochter sich so empören konnte.
Marianne wartete, bis ihre Mutter den Kaffee eingeschenkt hatte. "Ich glaube, dass sie dir durch das sechzigjährige Mietverhältnis eine Kündigungsfrist von achtzehn Monaten einräumen müssen. - Also kein Grund, jetzt schon unruhig zu werden!"
"Soll ich mich darüber freuen? Wenn die anderen Familien nach sechs Monaten ausziehen müssen, werde ich nicht ein Jahr allein in diesem Geisterhaus leben wollen!"
"Die Gesellschaft muss sowieso erst mal nachweisen, dass sie dieses Gebäude wegen wirtschaftlicher Unzumutbarkeit abreißen und duch einen Neubau ersetzen dürfen!"
"Den Paragraf hat Gerhard sich aufgeschrieben. Er will das auch nachprüfen."
"Ja, vielleicht lohnt sich eine Sanierung!"
"Und wie ist das mit Denkmalschutz?"
Marianne lachte. "Das kannst du vergessen! In den 50-ziger Jahren haben sie noch Asbest verarbeitet!"
Sie reichte ihrer Tochter eine Dose mit Keksen. "Und was hälts du von dem Kaufangebot?"
Marianne nahm sich eine Schokorolle und erwiderte kauend: "Das ist Schwachsinn! Wie kann man einer Zweiundachtzigjährigen eine Wohnung verkaufen wollen?!"
"Aber sie würden mir doch vorübergehend bis zum Neubau eine moderne Wohnung in der Nähe zum selben Mietpreis überlassen!"
"Ja, das ist der Köder, den sie ausgelegt haben! Das sind doch abgebrühte Geschäftsleute! Der angebliche Vorzugspreis von 280.000 Euro ist der Normalpreis, und der spätere von 320.000 ist ein "Mondpreis", den niemand bezahlen würde. Das ist doch für dich unerschwinglich! Oder hat Vater dir ein Vermögen hinterlassen?"
Ihre Mutter nippte nur am Kaffee und sagte: "Dein Bruder meinte vorhin am Telefon, dass ich auf jeden Fall kaufen sollte."
"Was hat der für eine Vorstellung?"
"Das habe ich mich auch gefragt."
"Ich werde heute abend mit ihm telefonieren und ihm die Augen öffnen!"
Sie wechselten das Thema und sahen sich noch "ihre" Kultserie
im Vorabendprogramm an, bevor ihre Tochter sich verabschiedete.
"Ich nehme die Kündigung mit und zeige sie morgen meinem Chef.
Mach dir bitte keine Sorgen!"
Sie war jetzt beruhigt. Mariannes Chef ist Rechtsanwalt, der wird das schon abwenden!

Sie war gerade eingeschlafen, als sie durch Lärm aufschreckte, der durch die Klappe des Wohnzimmerfensters eindrang. Sie zog ihren Bademantel über und ging auf den Balkon. Fünf oder sechs Jugendliche saßen grölend auf der Banklehne, jeder hatte eine Bierflasche in der Hand. Sie rauchten. Einer schnippte die Kippe in den Sand. Ein anderer lag in der Sandkiste auf dem Bauch und machte Schwimmbewegungen. "Ich bin Deutschlands bester Trockenschwimmer!", prahlte er. Die anderen johlten und ließen eine Schnapsflasche kreisen.
Inzwischen standen auch Nachbarn auf den Balkons und fingen an zu schimpfen. Herr Dreesen vom Nebenhaus rief hinunter: "Könnt ihr nicht woanders saufen und rumschreien? Ihr habt schon unser Baby wachgemacht. Sonst komme ich runter und mach euch Beine!"
"Bleib lieber oben, du Wichser!", kam die Antwort. "Oder soll dein Baby ein Krüppel als Vater haben?"
Das darf doch nicht wahr sein! dachte sie und lehnte sich über das Geländer. So laut wie sie konnte rief sie:
"Wenn ihr nicht sofort verschwindet, rufe ich die Polizei!"
"Halt die Fresse, du alte Hexe!"
Diese Stimme kannte sie. Eine Unverschämtheit von dem ehemaligen Hosenscheißer, der sie oft um Süßigkeiten angebettelt hatte! "Kevin, womit habe ich das verdient?" Ihre Stimme war leiser und man hörte ihre Enttäuschung heraus. Trotzdem kam sie unten an; es sprang jemand von der Lehne und duckte sich dahinter.
Sie beugte sich weiter nach vorne und schrie: "Ja, schäm dich, Kevin!"
Plötzlich verlor sie das Gleichgewicht, versuchte noch, sich am Geländer festzuklammern, bemüht, die Füße wieder auf den Boden zu bekommen.
Neben dem "Schwimmer" in der Sandkiste schlug sie auf und blieb regungslos liegen. Der Junge wurde schlagartig nüchtern, schüttelte ihren Arm ab, der auf seinen Beinen
liegen geblieben war, sprang hoch und ergriff panikartig mit seinen still gewordenen Freunden die Flucht.
Sechs Monate später wurde der Block abgerissen.
 

Maribu

Mitglied
Hallo USCH,

danke dir für das aufmerksame Lesen und die Mühe der
Übermittlung!
Vieles habe ich korrigiert und fast alles von deinen Vorschlägen angenommen.
Die direkte Rede sieht man an den Anführungszeichen. (Leider
irritiert das hier am Beginn mit dem Anführungstrichen "oben")
Ich bekomme das leider nicht geändert.
Das ist mir beim Eingeben gar nicht aufgefallen. Wahrscheinlich
spinnt meine alte Kiste. Ich werde sie nachher mal durchschütteln oder gegen die Wand klatschen!
Ebenso der Absatz zum Schluss war und ist nicht gewollt. In der Vorschau sieht es ganz normal aus; ich weiß nicht, wie ich das ändern kann. - Vielleicht liegt es im System. Es ärgert mich auch!
Bis zum nächsten Mal
Lieben Gruß
Maribu
 
U

USch

Gast
Wenn du das ins System direkt eingibst, funktioniert das nicht. Ändere es in deinem Textprogramm und kopiere es dann hinüber.
LG USch
 

Maribu

Mitglied
Der Brief

Sie stand vor dem Balkongitter, die Arme aufgestützt und schaute freudlos und gedankenverloren hinunter.
Die Kleinkinder spielten, wie immer bei trockenem Wetter, in der Sandkiste. Frau Dreesen saß davor auf der Bank und stillte ihr Baby. Zwei größere Mädchen schaukelten juchend nebeneinander. Eine wollte die andere an Höhe übertreffen.
Einige Jungen spielten Fußball. Die vier Birken auf der kleinen Wiese waren die Pfosten. Das laute Torgeschrei und Abklatschen, lässig wie die Profis, nahm sie teilnahmslos hin.
Der heute morgen vom Hausmeister abgegebene Brief hatte sie beim Frühstück getroffen wie ein Faustschlag in die Magengrube. Ihr Toastbrot wurde kalt und hart wie Zwieback; sie bekam keinen Bissen hinunter.
Wie viele Kinder hatte sie hier schon aufwachsen gesehen?
Die meisten kannte sie mit Namen. Auch die Jungs, die jetzt Fußball spielten. Vor acht oder zehn Jahren saßen sie unter ihr in der Sandkiste. An ihre Kinder musste sie auch denken, wie ihre Tochter Marianne unermüdlich Sandkuchen formte, und ihr Sohn Gerhard ihn genüsslich mit Fußtritten zerstörte.
Manchmal hatte sie mit Nachbarinnen Ärger bekommen, weil er ihren Kindern das Spielzeug weggenommen hatte.
Sie war mit Gretel Schulz, die Anfang des Jahres gestorben war, die einzige Erstmieterin des im Jahre 1954 erbauten Wohnblocks und hatte gedacht, so lange wie möglich in dieser Wohnung zu bleiben. Wenn sie Schwierigkeiten bekäme, die Treppe bis zum dritten Stock hochzugehen, würde sich schon ein gutes Heim finden lassen.
Sie ging zurück ins Wohnzimmer, griff zum Telefon und drückte die Verbindungstaste zum Sohn.
Ihre Schwiegertochter meldete sich. "Du hast Glück, dass Gerhard noch da ist. Er muss gleich zur Schicht. Warte einen Moment, er ist gerade im Bad"
Ihr Sohn war bei VW in Wolfsburg beschäftigt.
Sie las ihm das Schreiben vor. "Da kann ich jetzt nicht viel zu sagen. In zehn Minuten muss ich aus dem Haus. Sag mir noch mal den Paragrafen, auf den sie sich beziehen. Ich muss das aufschreiben und nachschlagen."
"573 Absatz 2 Nr.3 BGB", antwortete sie.
"Notiert! Unabhängig davon solltest du das Kaufangebot annehmen! Dann hast du einen Sachwert. Das Geld weiterhin bei den niedrigen Zinsen auf der Bank zu halten, wäre unklug! - Heute ist Mittwoch, und Marianne kommt nachmittags zu dir. Sprich das mit ihr durch. Ich melde mich spätestens am Wochenende."
"Ja, das genügt! - Kannst du mir noch eins von den Kindern ans Telefon geben?"
"Tut mir leid, einer ist noch in der Schule, der andere spielt draußen. Tschüss!"
Das Gespräch hatte sie nun noch mehr durcheinander gebracht. Was hatte ihr Sohn für eine Vorstellung? Wie könnte sie für ihr Guthaben auf dem Sparbuch eine Wohnung kaufen? Abgesehen davon, dass Rentner über siebzig keinen Kredit von den Banken bekommen, wie alt müsste sie werden, um die Wohnung abbezahlt zu bekommen?
Die Zeit bis zum Besuch der Tochter nutzte sie zum Einkaufen.
Während sie sich um den Kaffee kümmerte, konnte Marianne sich schon mal mit dem Brief beschäftigen. "Die spinnen wohl!" hörte sie ihr Schimpfen bis in die Küche. "Von wegen sechs Monate!" Und einen Augenblick später, bevor sie mit dem Tablett ins Wohnzimmer kam: "Das werden wir nachprüfen, ihr verfluchten Immobilien-Haie!"
Trotz ihrer Niedergeschlagenheit musste sie schmunzeln, dass ihre Tochter sich so empören konnte.
Marianne wartete, bis ihre Mutter den Kaffee eingeschenkt hatte. "Ich glaube, dass sie dir durch das sechzigjährige Mietverhältnis eine Kündigungsfrist von achtzehn Monaten einräumen müssen. - Also kein Grund, jetzt schon unruhig zu werden!"
"Soll ich mich darüber freuen? Wenn die anderen Familien nach sechs Monaten ausziehen müssen, werde ich nicht ein Jahr allein in diesem Geisterhaus leben wollen!"
"Die Gesellschaft muss sowieso erst mal nachweisen, dass sie dieses Gebäude wegen wirtschaftlicher Unzumutbarkeit abreißen und duch einen Neubau ersetzen dürfen!"
"Den Paragraf hat Gerhard sich aufgeschrieben. Er will das auch nachprüfen."
"Ja, vielleicht lohnt sich eine Sanierung!"
"Und wie ist das mit Denkmalschutz?"
Marianne lachte. "Das kannst du vergessen! In den 50-ziger Jahren haben sie noch Asbest verarbeitet!"
Sie reichte ihrer Tochter eine Dose mit Keksen. "Und was hälts du von dem Kaufangebot?"
Marianne nahm sich eine Schokorolle und erwiderte kauend: "Das ist Schwachsinn! Wie kann man einer Zweiundachtzigjährigen eine Wohnung verkaufen wollen?!"
"Aber sie würden mir doch vorübergehend bis zum Neubau eine moderne Wohnung in der Nähe zum selben Mietpreis überlassen!"
"Ja, das ist der Köder, den sie ausgelegt haben! Das sind doch abgebrühte Geschäftsleute! Der angebliche Vorzugspreis von 280.000 Euro ist der Normalpreis, und der spätere von 320.000 ist ein "Mondpreis", den niemand bezahlen würde. Das ist doch für dich unerschwinglich! Oder hat Vater dir ein Vermögen hinterlassen?"
Ihre Mutter nippte nur am Kaffee und sagte: "Dein Bruder meinte vorhin am Telefon, dass ich auf jeden Fall kaufen sollte."
"Was hat der für eine Vorstellung?"
"Das habe ich mich auch gefragt."
"Ich werde heute abend mit ihm telefonieren und ihm die Augen öffnen!"
Sie wechselten das Thema und sahen sich noch "ihre" Kultserie
im Vorabendprogramm an, bevor ihre Tochter sich verabschiedete.
"Ich nehme die Kündigung mit und zeige sie morgen meinem Chef.
Mach dir bitte keine Sorgen!"
Sie war jetzt beruhigt. Mariannes Chef ist Rechtsanwalt, der wird das schon abwenden!

Sie war gerade eingeschlafen, als sie durch Lärm aufschreckte, der durch die Klappe des Wohnzimmerfensters eindrang. Sie zog ihren Bademantel über und ging auf den Balkon. Fünf oder sechs Jugendliche saßen grölend auf der Banklehne, jeder hatte eine Bierflasche in der Hand. Sie rauchten. Einer schnippte die Kippe in den Sand. Ein anderer lag in der Sandkiste auf dem Bauch und machte Schwimmbewegungen. "Ich bin Deutschlands bester Trockenschwimmer!", prahlte er. Die anderen johlten und ließen eine Schnapsflasche kreisen.
Das war das erste Mal, dass sich Jugendliche diesen Treffpunkt ausgesucht hatten und bestimmt kein Zufall!, dachte sie.
Marianne nannte die neuen Vermieter nicht ohne Grund
'Immobilien-Haie'! Die hatten dafür bezahlt! Jeden Abend werden die Krakeeler wiederkommen, um die Mieter zu nerven und zum widerstandslosen Auszug zu bewegen!
Inzwischen standen auch Nachbarn auf den Balkons und fingen an zu schimpfen. Herr Dreesen vom Nebenhaus rief hinunter: "Könnt ihr nicht woanders saufen und rumschreien? Ihr habt schon unser Baby wachgemacht. Sonst komme ich runter und mach euch Beine!"
"Bleib lieber oben, du Wichser!", kam die Antwort. "Oder soll dein Baby ein Krüppel als Vater haben?"
Das darf doch nicht wahr sein!, dachte sie und lehnte sich über das Geländer. So laut wie sie konnte rief sie:
"Wenn ihr nicht sofort verschwindet, rufe ich die Polizei!"
"Halt die Fresse, du alte Hexe!"
Diese Stimme kannte sie. Eine Unverschämtheit von dem ehemaligen Hosenscheißer, der sie oft um Süßigkeiten angebettelt hatte! "Kevin, womit habe ich das verdient?" Ihre Stimme war leiser und man hörte ihre Enttäuschung heraus. Trotzdem kam sie unten an; es sprang jemand von der Lehne und duckte sich dahinter.
Sie beugte sich weiter nach vorne und schrie: "Ja, schäm dich, Kevin!"
Plötzlich verlor sie das Gleichgewicht, versuchte noch, sich am Geländer festzuklammern, bemüht, die Füße wieder auf den Boden zu bekommen.
Neben dem "Schwimmer" in der Sandkiste schlug sie auf und blieb regungslos liegen. Der Junge wurde schlagartig nüchtern, schüttelte ihren Arm ab, der auf seinen Beinen
liegen geblieben war, sprang hoch und ergriff panikartig mit seinen still gewordenen Freunden die Flucht.
Sechs Monate später wurde der Block abgerissen.
 



 
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