Der Brief, überarbeitet

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Der Brief

Er saß, über einen handschriftlich verfassten Brief gebeugt, etwas gekrümmt an dem alten eichenen Schreibtisch seines Vaters. Sein ergrautes Haar fiel ihm in langen Strähnen um das Gesicht, und immer wieder strich er es nervös aus der Stirn. Der Kaffee in der Tasse war längst kalt geworden. Der Brief war heute mit der Post gekommen. Eine Weile hatte er unbeachtet in der Schale auf der Kommode gelegen, ohne weiter beachtet zu werden; bis nach dem Essen sein Blick darauf fiel; auf den Absendernamen genauer, bis er ihn schnell genommen und in die Tasche gesteckt hatte, krampfhaft, von einer schrecklichen Vorahnung ergriffen. Jetzt, da er ihn gelesen hatte, hatte er Gewissheit. Nicht gänzlich unerwartet, war ein zerstörerisches Grauen über seine Existenz hereingebrochen.

Monoton tickte die alte Uhr auf dem Sims des ungenutzten Kamins. Sie nannten sie lächelnd „Großvaters Uhr“, doch jeder fürchtete sie. Ursprünglich musste sie hübsch gewesen sein, aus einem wuchtigen Marmorblock geschlagen, mit winzigen Verzierungen, einigen Miniaturen und Vergoldungen versehen. Sie stellte eine Art Vogel dar – eine Eule wahrscheinlich – der mit ausgebreiteten Flügeln zum Sprung in die Tiefe ansetzt. Die beiden Augen des Vogels waren einst mit glitzernden Edelsteinen besetzt, deren einer im Laufe der Jahre verschwunden war. In der Brust arbeitete ein mechanisches Uhrwerk. Als Kind hatte der Mann Angst vor dem imposanten Vogel gehabt, der nicht wesentlich kleiner war als ein echter Waldbewohner. Doch mit der Zeit verwandelte der flügelschlagende Dämon sich in einen Schutzgeist, von welchem Ruhe und Sicherheit ausstrahlten; feste Werte, Disziplin und Strenge.
Die Uhr hatte einem Offizier gehört, der im Ersten Weltkrieg in Italien von einer Granate in Stücke gerissen wurde. Daraufhin gelangte sie auf Umwegen in das Antiquariat, dessen Inhaber bis heute sein Vater war. Der alte Mann war inzwischen bettlägerig und sprach nur noch selten, seine blinden Augen blieben meist geschlossen. Er siechte seit einigen Jahren schon, dennoch weigerte er sich, das Geschäft endlich an den Sohn abzutreten, der sein Leben in Wartestellung verbrachte, endlich die Herschafft über des Vaters Imperium übernehmen zu können. Heute war er fast fünfzig. Der Alte war 102 Jahre alt. Er war ein mittlerer Angestellter mit einem Gehalt, von dem er seine Lebenskosten nicht bestreiten konnte. Ohne den Reichtum des Vaters, ohne den Gewinn, den das Antiquariat abwarf, könnte er nicht auskommen; wäre er niemals in der Lage, seine Frau und seine Tochter angemessen zu ernähren, anzukleiden. Lange mochte es nicht mehr so weiter gehen.

Die Uhr war des Alten liebstes Stück. Er hatte seine Kinder und deren Kinder darauf eingeschworen. Niemals durfte sie verkauft werden. Sie war das Heiligtum, und obgleich das Ziffernblatt nahezu vergilbt war und braune Flecken aufwies, obgleich das Glas von einem dünnen Netz feiner Risse dutzendfach zerteilt war, konnte niemals angezweifelt werden, dass sie für die Ewigkeit geschaffen war. Auch durfte sie von niemandem außer dem Vater selbst aufgezogen werden – bis heute. Sie mussten sie alle paar Tage nach oben, an des Kranken Bett, wuchten, und ihm die zitternde Hand halten, damit er den Schlüssel drehen konnte, bis sie wieder im Takt schlug. Sie tickte mit stoischer Ruhe, durchdrungen von ihrer Wichtigkeit. Niemand, der sie nicht voller Ehrfurcht betrachtete. Sie war die Uhr des alten, sterbenden Mannes, zugleich Wahrzeichen seines Lebens und seines Reichtums.
Unter dieser Uhr hatte der Mann gestanden, wenn er als kleiner Junge etwas ausgefressen hatte. Es war überhaupt der einzige Grund gewesen, aus dem er das Arbeitszimmer des Vaters hatte betreten dürfen – wenn er hereinzitiert wurde, und das verhieß nichts Gutes. Der Vater war ein strenger Vater, er hatte genaue Vorstellungen davon, wie man Kinder erziehen sollte. Manches Mal ließ er bei den Töchtern, die verweichlicht waren wie alle Frauen, Gnade walten – indessen, niemals bei seinem einzigen Sohn, den er mit brutalen Methoden zu strafen wusste. Sein Sohn war sein Erbe, sein Sohn war der künftige Mann, das Oberhaupt der Familie; er durfte nicht verweichlicht sein oder nachgiebig, er musste in Strenge und Disziplin erzogen werden. Er entsann sich des harten Knüppels, der auf dem Bücherschrank gelegen hatte. Ob er dort immer noch lag? Er wagte es nicht, nachzusehen.

Der alte Vater würde bald sterben; er wurde immer schwächer. Die Uhr aber, sie würde weiterhin ticken, auch wenn sie den alten Mann begraben hätten. Sie würde immer auf dem Kaminsims stehen, sie würde immer an den Vater erinnern, ein tickendes Mahnmal sein. Sie war der Mittelpunkt, nicht nur des Zimmers, des Hauses – sie war der Mittelpunkt der Welt. Von diesem Zimmer aus hatte der Alte seine Entscheidungen getroffen, hatte regiert und mit einigem Geschick das ansehnliche Familienvermögen erwirtschaftet. Der Alte würde gehen, aber sein Geist, den er der Uhr vererbt hatte, würde stets auf dem Kaminsims spürbar sein.

Es war düster in dem Raum, weil die Rollläden nicht geöffnet waren. Er schauderte plötzlich, als ein kühler Hauch durch das Zimmer wehte. Spärliches Licht einer warmen Nachmittagssonne fand vereinzelt Wege, die Ritzen und Schlitze zu durchdringen, um in langen, dünnen Strahlen wild tanzende Staubkörner zu beleuchten. Auf der Wiese im Garten hörte er Kinder schreien und lachen; die einzigen Geräusche, die weit und breit zu vernehmen waren. Manchmal meinte er, den Vater oben röcheln zu hören. Er hatte darauf bestanden, sein Bett exakt oberhalb des Arbeitszimmers zu bekommen. Der Alte wachte über den Sohn, auch noch, als seine Stimme versagte und seine Augen längst erblindet waren.
In einer Schublade des massiven Tisches steckten neun andere Briefe, gleicher Handschrift, fast gleichen Inhalts. Er hatte sie in groben Monatsabständen bekommen.
Der Mann fuhr sich zitternd durchs Haar. Ein weiteres Mal las er den Brief. Er wagte noch nicht, den Inhalt zu begreifen. Die zarte, etwas dünne und krakelige Schrift verteilte sich platzsparend nur über ein Drittel des Blattes. Darunter fand sich eine feminine Unterschrift, kleiner noch als der Rest, sehr unleserlich. Die Zeilen waren voller Fehler, so gravierend, als hätte jemand ohne Kenntnis der Sprache einen Text mittels eines Wörterbuches übertragen. Der Umschlag trug einen Stempel aus Frankreich. Wie alt war sie?, fragte er sich. Zwanzig? Dreiundzwanzig? Als er sie kennen gelernt hatte, wirkte sie wie ein Schulmädchen, mit ihren streng zurückgebundenen Haaren, der kleinen, hässlichen Brille, die so unvorteilhaft ihre lange Nase hervorstechen ließ... Was hatte ihm an ihr gefallen? Die lustigen kleinen Augen, vielleicht. Der schmale Mund, der so selten lächelte, - nein. Im Grunde genommen war sie nicht schön gewesen, hübsch auch nicht. Sie hatte ihn angelächelt, der weit weg vom Vater war.
Sie war einfach da gewesen, und sie hatte ihn gemocht. Damals, vor fast zehn Monaten. Es war eines der wenigen Male in seinem Leben, dass er vom Vater getrennt war.
Dieses Wochenende in Frankreich – er erinnerte sich gut, zunächst hatte er nicht mitfahren wollen. Er hasste Betriebsausflüge ... er kam nicht gut mit seinen Mitarbeitern aus. Für ihn war all das eine Zweckgemeinschaft; ein stetiges Streben nach dem einen gemeinsamen Ziel. Es war ein moderner, aus Amerika stammender Aberglaube, dass Kollegen auch Freunde sein mochten. Der Vater hatte niemals nach der Sympathie seiner Angestellten gesucht. Er behandelte sie streng und bezahlte sie gut. Er war anständig und prinzipientreu, ohne freundlich zu sein, oder verweichlicht. Er hatte ein klares Bild davon, wie ein Mann zu sein hatte.

Er schreckte auf, als er das Trippeln nackter Kinderfüße hinter sich hörte, im Flur.
„Papa!“, schrie eine helle Stimme, „Papa!“, und wieder „Papa!“
Er drehte sich halb um, sodass er einen Blick ins Dunkel werfen konnte. Das Mädchen, dessen Augen noch die Helligkeit von draußen gewohnt waren, tastete sich vorsichtig voran, sorgsam darauf bedacht, nirgendwo anzustoßen, an keinem der Relikte, die an den Vater erinnerten. Es streckte die kurzen Kinderarme weit von sich und arbeitete sich voran, bis es kurz vor ihm stand. Er nahm rasch die Brille ab, weil er wusste, dass sie die Brille nicht mochte. Sie fand, er sähe damit aus wie eine Kröte.
Er griff nach ihrer dünnen Schulter und zog sie heran. Sie schrie leise auf, jedoch eher neckisch, denn sie hatte gewusst, wo er war. Er hob sie hoch und setzte sie auf seinen Schoß.
„Mmmh..?“, machte er und küsste sie im Nacken. Sie lachte glockenhell.
„ Hör auf, das kitzelt ...“, kicherte sie und wand sich ungeschickt. Plötzlich schnüffelte sie neugierig. „Hast du geraucht?“, erkundigte sie sich streng. Sie hatte die kleinen, klugen Augen ihres Großvaters, und auch sein glattes, blondes Haar. Manchmal war es ihm unheimlich, wie sein Vater aus ihr zu sprechen schien. Sie war nicht wie andere Kinder ihres Alters. Sie hielt nichts von Puppen, sie hielt nichts vom „Spielen“. Die meiste Zeit saß sie allein in ihrem Zimmer und las in ihren Büchern.
Verwirrt blickte er auf und sah sich um – im Aschenbecher glomm ein Stummel. Feiner blauer Dunst schlängelte sich empor. Er konnte sich nicht daran erinnern.
„Ja“, seufzte er reuevoll. Der Brief lag offen da, weil er vergessen hatte, ihn wegzustecken, als sie kam.
„Papa, du sollst doch nicht mehr rauchen! Du willst doch nicht sterben, oder, Papa?“
Er dachte darüber nach, als ob er eine Wahl hätte.
„ Nein“, sagte er, „Natürlich nicht.“
Der Brief brüllte ihn an. Die unterstrichenen, eng beschriebenen drei oder vier Zeilen kreischten in seinem Kopf.
Sie hatte das Kind. Ein Junge, Olivier. Dreieinhalb Wochen alt. Wie schwer war er doch? Es stand in dem Brief, er wusste es nicht. Frankreich, dachte er, Betriebsausflug. Wer kam auf die Idee, für einen dummen Betriebsausflug nach Frankreich zu reisen? Vater, spotteten die Zeilen, unehelich, flüsterten die Zeilen, Schwächling, lachten sie.
„ Du darfst nicht sterben“, sagte sie mit belegter Stimme, „sonst wären ich und Mama allein...“
Er umarmte sie und zog sie fester an sich. „Du musst keine Angst haben. Ich lasse euch nicht allein.“ Oben lag der Vater. Der Mann wusste, dass sein Vater ihn lieber sterben sähe, als zu erfahren, was in den Briefen stand.
Sie wollte Geld für das Kind. Olivier, dachte er nüchtern. Eigentlich kein schlechter Name. Olivier würde ohne Vater aufwachsen, ohne Vogeluhr, ohne Erbschaft. Olivier würde seinen Vater niemals kennen lernen. Er könnte es nicht ertragen, ihm in die Augen zu sehen. Olivier war eine Schande. Sein Vater hätte ihn dafür zu Tode geprügelt. Er hätte mehr getan, als ihm nur den Arm zu brechen, wie er es einmal, vor langer Zeit, getan hatte. Er wäre rasend gewesen vor Zorn, und seine Mutter (die schon lang tot war) hätte einmal mehr getan, als höre sie die Schreie aus dem Arbeitszimmer nicht.

Das Mädchen schlief in seinen Armen ein, und er brachte sie so leise wie möglich zu Bett. In diesem Moment setzte die Uhr aus.
 

Renee Hawk

Mitglied
Hallo Nicholas,


oh, dass ist rund und schön geworden. Die Mühe hat sich gelohnt.
Einige Verdopplungen sind noch drin, aber die Atmosphäre hast du wirklich schön rüber gebracht. Einzig der Titel passt meiner Meinung nach nicht mehr zur Geschichte.
Um den Mann darzustellen hast du hauptsächlich vom Vater gesprochen und von der Uhr, was hältst du dann von einem Titel in diese Richtung?

liebe Grüße
Reneè


PS.: Hat der Vater wirklich mit 52 Jahren noch einen kleinen Jungen bekommen? (Das irritiert mich etwas)
 
Liebe Zefira, Renée!

Vielen Dank, ich war nämlich kurz davor, mich zu erhängen ...
Tatsächlich habe ich jetzt auch den Eindruck, dass der Titel nicht mehr stimmt - ich habe ihn aber unverändert gelassen, weil die Geschichte zwar im Großen und Ganzen kaum von dem Brief spricht und deutlich mehr von dem Vater, zugleich aber dieser Brief das ausschlaggebende Element daran ist: Durch den Brief muss der Sohn erkennen (das tut er zwar nicht, wird er aber, soz. nach der Geschichte), dass er in einer Art von seinem Vater abhängig ist (auch emotional), die ihn zu einem Kind werden lassen ... er ist alles andere als reif, und das wird auch klar, wenn er mit dem erstbesten Schulmädchen ins Bett springt. Klar, der Vater bleibt dominant und ist für den Schreibenden sicherlich auch die interessantere Figur (wahrscheinlich ist er es auch eher, an den der Leser sich erinnert - er ist einfach theatralischer), aber die Geschichte selbst soll nur diese eine, kleine Szene widergeben; um die Unreife des Sohnes zu beleuchten.

Um ehrlich zu sein, weiß ich es nicht besser und habe nicht mal annäherungsweise das Alter, um so etwas beurteilen zu können, aber ich ging davon aus, dass ein Mann mit 52 noch zeugungsfähig sein kann. Seine Partnerin sollte vermutlich jünger sein, nehme ich an - aber ihr mögt recht haben, da kenne ich mich nun wirklich nicht aus. Eines nur: Der Vater ist, für mich, in irgendeiner Hinsicht auch ein, tyrannischer, Über-Mensch; vielleicht gibt es ihm sogar noch mehr Charakter ...
Vielen Dank!
C
 



 
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