Der Buchhalter und sein Bleistift

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Es war einmal ein Bleistift, der lag in der Schreibtischschublade eines Buchhalters. Es war eine andere Zeit als heute. Es gab weder Computer noch Rechenmaschinen und der Bleistift hatte in der rechten Hand des Buchhalters liegend, wochentags eine Menge zu tun. Da schrieb er nämlich Zahlenreihe um Zahlenreihe in ein grosses, dickes Buch. In regelmässigen Abständen durfte er auch einen dicken Strich ziehen. Das war dann, wenn der Buchhalter addierte oder subtrahierte.

Der Buchhalter war ein gewissenhafter und fleissiger Mann und so war es selten nötig, dass des Bleistifts Arbeit ausradiert werden musste. An den Wochenenden durfte der Bleistift ruhen. Und auch der Buchhalter erholte sich. Der Bleistift langweilte sich in der dunklen Schublade. Der Buchhalter langweilte sich in seiner kleinen Wohnung.

Der Bleistift hatte Gesellschaft von einem roten Farbstift, einem kleinen, spitzen Messer und einem gräulich verfärbten Gummi. Der Buchhalter hatte Gesellschaft von einer grau-weissen Taube, einer dicken, haarigen Spinne und einer aufdringlichen Nachbarin.

Der rote Farbstift hielt sich für etwas Besonderes, weil er halt eben rot schreiben konnte und viel grösser war als der Bleistift selbst. Das Messer verbrachte die meiste Zeit in sich geklappt und der Gummi, ja der war halt eben einfach ein Gummi. So einer wie ihn jeder von uns kennt.

Die grau-weisse Taube erschien Wochentags erst wenn es eindunkelte, doch an den Wochenenden wartete sie schon frühmorgens auf die Brotkrümmel, die ihr vom Buchhalter jeweils zugeworfen wurden. Die dicke, haarige Spinne fristete in einer Ecke der Wohnzimmerdecke ihr Dasein und freute sich über jedes fliegende Insekt, das in ihrem Netz kleben blieb. Die aufdringliche Nachbarin, ja die war halt eben einfach eine aufdringliche Nachbarin. So eine wie sie jeder von uns kennt.

Wenn es Sonntagnachmittag wurde, freute sich der Buchhalter bereits auf die neue Arbeitswoche und auch dem Bleistift ging es so. Alles lief seinen gewohnten Gang. Fast alles. In letzter Zeit ertappte sich der Buchhalter immer mal wieder dabei, dass er Dinge dachte, die er all die Jahre zuvor nie gedacht hatte. So als würde ein anderer sein Denken übernehmen.

Er stellte sich vor, wie er die aufdringliche Nachbarin anschrie, ihr die Türe vor der Nase zuschlug. Dabei übersah er, dass die Nachbarin gar nicht wissen konnte, dass ihre Besuche bei ihm nicht erwünscht waren, da er sich ja stets freundlich und korrekt zeigte und seinen Ärger nicht sichtbar machte.

Dem Bleistift ging es in seiner Schublade nicht viel anders. Zwar verhielten sich seine Mitbewohner ruhig, klopften schon gar nicht von Aussen an die Schublade, doch auch er ertappte sich dabei, wie er dunklen Gedanken nachhing. Regelmässig wurde er vom Buchhalter mit dem kleinen, spitzen Messer gespitzt. Das mochte er nicht so besonders, es ging ihm an die Substanz und je kleiner er wurde, desto argwöhnischer beäugte er das kleine, spitze Messer. Wollte es gar seinen Platz einnehmen? Seine Empörung wuchs immer mehr. Dabei übersah er, dass Messer gar nicht schreiben können.

Der Bleistift hörte das vertraute Geräusch des Schlüssels im Schloss, vernahm die schlurfenden Schritte des Buchhalters und wartete auf die Hand, die ihn emporheben würde. Doch an seiner Statt war es das kleine, spitze Messer, das vom Buchhalter ergriffen wurde und ehe er sich versah, war es wiederum stockdunkel um ihn herum. Was wurde er da wütend. Nun hatte es das Messer geschafft, es durfte Zahlenreihe für Zahlenreihe in das grosse, dicke Buch schreiben.

Der Buchhalter jedoch machte keine Anstalten das dicke, grosse Buch zu öffnen. Er legte das Messer in seine Hosentasche, umschloss es fest mit der Hand und ging nach Hause um auf den neuerlichen Besuch der aufdringlichen Nachbarin zu warten.

Ein paar Tage später wehte ein frischer Wind durch das Büro des Buchhalters. Der Bleistift freute sich auf seinen neuerlichen Einsatz. Doch das Gesicht das sich über die Schublade beugte, war nicht dasjenige des Buchhalters, sondern ein völlig fremdes. Und auch die Hand die nach ihm griff, kannte er nicht. "Altes Ding", sagte die junge Stimme verächtlich und warf ihn in den Abfalleimer.

Und dann setzte sich der junge Buchhalter hin und las die Schlagzeile der Zeitung: "Buchhalter dreht durch... ... ..."
 
Hallo Claudia,
ich liebe Alltagsgeschichten, die zum Ende noch eine Überraschung parat haben. Das ich das Schöne am Schreiben, dass man einen Bleistift zum Leben erwecken kann und eine aufdringliche Nachbarin ins Jenseits befördert.

Die Formulierung "die Taube kam, wenn es eindunkelte" hat mich irritiert, könnte man anders beschreiben. Den Begriff "eindunkeln" kenne ich nicht. Schau noch nach den Kommas. Ist nicht meine Stärke, aber ein paar fehlen.

Es hat Spaß gemacht, deine Geschichte zu lesen!

Gruß
Anita K-M
 
Es war einmal ein Bleistift, der lag in der Schreibtischschublade eines Buchhalters. Es war eine andere Zeit als heute. Es gab weder Computer, noch Rechenmaschinen und der Bleistift hatte, in der rechten Hand des Buchhalters liegend, wochentags eine Menge zu tun. Da schrieb er nämlich Zahlenreihe um Zahlenreihe in ein grosses, dickes Buch. In regelmässigen Abständen durfte er auch einen dicken Strich ziehen. Das war dann, wenn der Buchhalter addierte oder subtrahierte.

Der Buchhalter war ein gewissenhafter und fleissiger Mann und so war es selten nötig, dass des Bleistifts Arbeit ausradiert werden musste. An den Wochenenden durfte der Bleistift ruhen. Und auch der Buchhalter erholte sich. Der Bleistift langweilte sich in der dunklen Schublade. Der Buchhalter langweilte sich in seiner kleinen Wohnung.

Der Bleistift hatte Gesellschaft von einem roten Farbstift, einem kleinen, spitzen Messer und einem gräulich verfärbten Gummi. Der Buchhalter hatte Gesellschaft von einer grau-weissen Taube, einer dicken, haarigen Spinne und einer aufdringlichen Nachbarin.

Der rote Farbstift hielt sich für etwas Besonderes, weil er halt eben rot schreiben konnte und viel grösser war als der Bleistift selbst. Das Messer verbrachte die meiste Zeit in sich geklappt und der Gummi, ja der war halt eben einfach ein Gummi. So einer wie ihn jeder von uns kennt.

Die grau-weisse Taube erschien Wochentags erst wenn es allmählich dunkel wurde, doch an den Wochenenden wartete sie schon frühmorgens auf die Brotkrümmel, die ihr vom Buchhalter jeweils zugeworfen wurden. Die dicke, haarige Spinne fristete in einer Ecke der Wohnzimmerdecke ihr Dasein und freute sich über jedes fliegende Insekt, das in ihrem Netz kleben blieb. Die aufdringliche Nachbarin, ja die war halt eben einfach eine aufdringliche Nachbarin. So eine wie sie jeder von uns kennt.

Wenn es Sonntagnachmittag wurde, freute sich der Buchhalter bereits auf die neue Arbeitswoche und auch dem Bleistift ging es so. Alles lief seinen gewohnten Gang. Fast alles. In letzter Zeit ertappte sich der Buchhalter immer mal wieder dabei, dass er Dinge dachte, die er all die Jahre zuvor nie gedacht hatte. So, als würde ein anderer sein Denken übernehmen.

Er stellte sich vor, wie er die aufdringliche Nachbarin anschrie, ihr die Türe vor der Nase zuschlug. Dabei übersah er, dass die Nachbarin gar nicht wissen konnte, dass ihre Besuche bei ihm nicht erwünscht waren, da er sich ja stets freundlich und korrekt zeigte und seinen Ärger nicht sichtbar machte.

Dem Bleistift ging es in seiner Schublade nicht viel anders. Zwar verhielten sich seine Mitbewohner ruhig, klopften schon gar nicht von Aussen an die Schublade, doch auch er ertappte sich dabei, wie er dunklen Gedanken nachhing. Regelmässig wurde er vom Buchhalter mit dem kleinen, spitzen Messer gespitzt. Das mochte er nicht so besonders, es ging ihm an die Substanz und je kleiner er wurde, desto argwöhnischer beäugte er das kleine, spitze Messer. Wollte es gar seinen Platz einnehmen? Seine Empörung wuchs immer mehr. Dabei übersah er, dass Messer gar nicht schreiben können.

Der Bleistift hörte das vertraute Geräusch des Schlüssels im Schloss, vernahm die schlurfenden Schritte des Buchhalters und wartete auf die Hand, die ihn emporheben würde. Doch an seiner Statt, war es das kleine, spitze Messer, das vom Buchhalter ergriffen wurde und ehe er sich versah, war es wiederum stockdunkel um ihn herum. Was wurde er da wütend. Nun hatte es das Messer geschafft, es durfte Zahlenreihe für Zahlenreihe in das grosse, dicke Buch schreiben.

Der Buchhalter jedoch machte keine Anstalten das dicke, grosse Buch zu öffnen. Er legte das Messer in seine Hosentasche, umschloss es fest mit der Hand und ging nach Hause, um auf den neuerlichen Besuch der aufdringlichen Nachbarin zu warten.

Ein paar Tage später wehte ein frischer Wind durch das Büro des Buchhalters. Der Bleistift freute sich auf seinen neuerlichen Einsatz. Doch das Gesicht, das sich über die Schublade beugte, war nicht dasjenige des Buchhalters, sondern ein völlig fremdes. Und auch die Hand, die nach ihm griff, kannte er nicht. "Altes Ding", sagte die junge Stimme verächtlich und warf ihn in den Abfalleimer.

Und dann setzte sich der junge Buchhalter hin und las die Schlagzeile der Zeitung: "Buchhalter dreht durch... ... ..."
 
Hallo Anita

Danke für Deine Bemerkung betreffend "eindunkeln". Habe nun "allmählich dunkel werden" verwendet.

Jetzt sind es ein paar Kommas mehr, eventuell nun zu viele ;-) (Ist so gar nicht mein
Ding, arbeite aber daran und bin dankbar für den Hinweis).

Ich mag es, wenn Dinge in den Geschichten "lebendig" werden. Viele meiner Geschichten handeln von Dingen und was sie "erleben".

Viele Grüsse

Claudia
 



 
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