Der Dämon

Gimli

Mitglied
Von Tenkow,
Ich weiß nicht, was mich dazu bewogen haben könnte, dies jetzt und hier zu schreiben. Ich kann nicht schreiben, um das sofort zu sagen. Wenn irgendwelche Missverständnisse aufkommen sollten, weil ich irgendwas irgendwie komisch formuliert haben sollte, ist es darauf zurückzuführen.
Seien sie nicht überrascht, wenn sie von mir jetzt hören, oder lesen. Wir haben uns eine Zeit lang nicht mehr gesehen, ich hab’s halt abgebrochen – müssen sie verstehen.
Also, ich bin aufgewachsen hier in Berlin. Ich bin in einem Eckhaus in der Körnerstraße aufgewachsen, nahe dem Zentrum also – oder was immer als Zentrum dargestellt wird. Hier also war mein Kiez, wenn sie verstehen. Geboren worden bin ich 1975, aber das wissen sie ja bestimmt noch.
Ist aber auch nicht von Bedeutung. Es war eigentlich eine ganz normale Kindheit, ganz normale Jugend mit Schule, Freunden, gelegentlichen Krach mit den Eltern und Versöhnungen in einer ungezählten Anzahl.
Meine Eltern sind Marie und Peter Tenkow, meine Mutter ist geborene Aue. Meine Schwester Tanja ist ein Jahr jünger als ich.

Wir haben uns eigentlich immer recht gut vertragen. Sozial ging es uns auch ganz gut. Vater hatte eine Stelle als Krankenpfleger - dort, im Krankenhaus, hatte er auch meine Mutter kennen gelernt. Nach meiner Geburt hatte diese ihren Beruf als Krankenschwester an den Nagel gehängt und war nur noch für uns Kinder da. Ich glaube, sie hat sich häufig gefragt, ob sie nicht noch mal anfangen sollte zu arbeiten. Vor allem nach der Sache mit Tanja hat sie sich das bestimmt gefragt. Aber ich kam sowieso selten mit ihr zusammen, unsere Leitungen sind lange schon gekappt, auch wenn sie hin und wieder in den letzten zwei Jahren versucht hatte, Kontakt zu mir herzustellen.
Ich war mal ganz erschrocken, das Telefon klingelte bei mir, ich ging ran und sie war dran. Ihre Stimme hat sich ziemlich verändert, ziemlich zerbrechlich wirkte sie, ziemlich traurig und zittrig. Okay, kann auch daran gelegen haben, dass sie plötzlich wieder mit ihrem Sohn sprach – das wird es wohl gewesen sein. Obwohl sie schon ziemlich viel durchgemacht haben muss, das hat sie mit Sicherheit. Vater hat sie, glaub ich, verlassen. Das tut mir schon leid, aber die Vergangenheit liegt hinter mir. Ich schreibe die jetzt noch mal hin und dann ist sie auf Papier gebannt und fertig.

Es soll jetzt so eine Art Geständnis werden, was ich hier ablege.
Stellen sie sich vor: gerade hat mich ein dummer Pfaffe angequatscht, mich gefragt, ob er mir helfen könne. Ein Pfaffe, können sie sich das vorstellen? Was soll ich mit seiner Hilfe! Gestehen muss ich aber, dass ich echt darüber nachgedacht habe, ihm alles zu beichten. Um es irgendeinem zu erzählen. Aber das ist nicht das Gleiche. Besser ist es, wenn sie es erfahren. Ich glaube das mit aller Betonung. Sie haben versucht mir zu helfen, und ich habe das nie richtig eingesehen. Obwohl ich natürlich zu ihnen hin gekommen bin – das erinnert mich ein wenig an genau diesen Augenblick. Jetzt wo ich in der dämmerigen Kirche ihnen, die sie jetzt vielleicht in der warmen Sonne liegen, dieses hier aufschreibe. Und ich weiß nicht, warum!

Mit den Eltern gab es also auch nie Krach, bis auf die normalen Auseinandersetzungen in Punkto Ausgehen. Zu meiner Schwester hatte ich eigentlich auch ein ganz gutes Verhältnis.
In der Schule hatte ich keine Probleme – kein Überflieger, aber auch nie ein Problemfall. Der normale, graue Durchschnitt halt. Nur in Sport, da war ich echt richtig gut. Basketball habe ich für mein Leben gern gespielt.

Tanja war eine Zeit lang im Schwimmverein, bis halt zum Beginn dieser dummen Geschichte. Es war eigentlich nur eine Bagatelle. Ich hatte halt, nun, wie das ein ganz normaler Junge von – ich glaube, ich war damals fünfzehn – von fünfzehn Jahren halt macht, aus Neugierde ohne nachzudenken, ihre Sachen mal durchstöbert. Nichts aufregendes, weiß Gott nicht!

Ihre Briefe, die zudem recht interessant waren. So, wie man sich das bei Mädchen vorstellt: auf hellblauem Briefpapier hatte sie nun also Liebesbriefe geschrieben. Entweder sie hatte den Mut nicht aufgebracht, diese abzuschicken oder aber, was ich für das Wahrscheinlichste halte, gab es diesen Jungen gar nicht. Es war eigentlich der reinste Kitsch. Ich fand das lustig zu lesen. Nein, sie hatte da keinen Freund. Sie war immer schon ein bisschen schüchtern gewesen. Und so schrieb sie halt all ihre Wünsche in den nicht abgeschickten Brief an ihren Michael – auch mit bestimmten Details, die ich häufig, immer wieder, aufmerksam durchgelesen habe. Solche Sachen wie sie davon träumt, wieder von ihm geküsst zu werden, wie sie sich das erste Mal vorstellt und halt solche Sachen. Auch ganz harmlose - und eigentlich nur ganz harmlose Sachen - waren in diesen Briefen zu finden. Eisessen gehen, Kino, „Ich liebe dich“, was sie an Jungens süß findet und so weiter und so fort. Sogar Gedichte hatte sie geschrieben.
Es waren eigentlich Briefe voller Klischees, aber sie waren halt da und ich las sie. Tanja hatte sogar über mich geschrieben, sie schrieb glaub ich, dass ich ganz nett sei, dass sie sich sogar mal ertappt fühlte beim Gedanken, ich wäre eigentlich ein ganz hübscher Junge.

Die Eltern waren nicht da an diesem Tag, Tanja war eigentlich beim Schwimmverein, ich wähnte mich in Sicherheit. Doch wie es dann so ist, sie kam diesmal früher als sonst nach Hause. Und Herr Gott! Wie musste sie sich da auch anstellen, als sie mich in ihrem Zimmer fand. Ich hatte die Briefe alle schnell unter ihr Bett geschmissen, doch sie schöpfte schnell Verdacht. Erst hatte sie mich ganz erstaunt angeguckt und mich gebeten, raus zu gehen. Sie kam mir ein bisschen verheult vor, im nachhinein.

Ich weiß noch ganz genau, wie ich da stand, mitten in ihrem Zimmer, fast unfähig zu sprechen und nur irgendwas dummes hervorbrachte, wahrscheinlich etwas vollkommen unverständliches. Erstens fühlte ich mich ertappt. Ich hatte unheimliches Herzklopfen. Zudem kann ich eine bestimmte Erregung zu diesem Augenblick nicht verleugnen. Überhaupt – während meiner ganzen Aktion fühlte ich das. Ein Gefühl der Gemeinheit gewissermaßen. Vielleicht auch Gewissensbisse. Aber vor allem machte sich ein Gefühl in mir breit, wie verrucht ich doch war, dass ich die intimsten Sachen meiner eigenen Schwester durchwühlte, mich an dieser Schamlosigkeit aufgeilte. Zudem kam noch Fantasie dazu, was sich alles hätte finden lassen können, in dem ganzen Stapel Papier. Auch wenn es komisch klingt: aber ich hoffte, dass sie vielleicht irgendwo Nacktfotos von sich in den Papieren versteckt hatte, Fotos für ihren Liebhaber. Suchte also auch danach, fand dabei aber wie gesagt nur Ansätze ihrer eigenen, tiefst geheimen sexuellen Fantasien.

Und, was war schon so ungewöhnlich? Ich war mitten in der Pubertät, muss man wissen. Und ich glaube nicht, dass andere unbedingt anders handeln. Das ist doch was ganz normales, Neugierde und solche Sachen.
Ich machte es also so, wie es wahrscheinlich verdammt viele tun, war aber dummerweise erwischt worden.
Sie wollte also erst nur, dass ich raus ginge. Verdammt, was soll man denn darauf antworten, wie soll man denn dann reagieren? Einfach rausgehen, in mein Zimmer? Und dann wissen: gleich guckt sie in den Schrank, findet ihre Briefchen nicht – ja, und dann? Dann gute Nacht, Streit wollte ich keinen. Ein dummer Junge war ich damals, und ich fühlte mich damals in dieser Situation auch sehr, sehr dumm.

Erwischt worden, nicht wissen was tun, unfähig zu handeln. Ich musste sie also irgendwie fern halten, es durfte nicht rauskommen, was ich getan hatte. Zudem hatte ich ein Stechen in der Magengrube, was mich auch zu anderen Gedanken drängte:
Sollte ich es ihr vielleicht sagen? Mich ganz doll dafür entschuldigen, sagen, dass es nie mehr vorkommen werde und zeigen, wie sehr es mir leid tut?
Diese Gedanken hatte ich tatsächlich. Und man kann sich nicht vorstellen, wie schnell die Gedanken dann in einer solchen Ausnahmesituation im Kopf herumschießen. Wie eine gedankliche Waage drängte sich mal der eine Gedanke, dann ein anderer auf, bis es sich auspendeltet hatte, bis ich zu handeln begann.

Irgendwas belangloses müsste ich sagen und ich fragte sie dann auch, ob sie nicht kurz warten könne, ich hätte noch eine Überraschung für sie, nur kurz vor der Tür müsste sie warten. Gleich, nachdem ich es ausgesprochen hatte, fand ich es so lächerlich, so ungemein dumm das zu sagen – woher sollte ich denn plötzlich eine Überraschung für sie haben? Und warum? Da kam schon der nächste Satz aus mir heraus, die nächste Dummheit. Ob sie Kuchen essen wolle, in der Küche wäre welcher, ich käme gleich nach, sie könne schon Wasser aufsetzen. Da versagte meine Stimme, ich sah wie verwirrt sie mich anstarrte, sie war eh schon ziemlich blass, jetzt war sie wirklich absolut weiß im Gesicht.

Ich stand da nun, sah sie an, wusste nichts und hätte mich schlagen - zu Brei schlagen können. Eine ungeheure Wut hatte ich auf mich, wünschte mich sonst wo hin.
Meine Hände waren kalt, schweißnass. Ich erinnere mich deutlich, wie ich meine Hände wie unbekannte Gegenstände mal hier hin, mal dort hin steckte, mal in die Hosentasche, mal die Arme verschränkte, mal aufgeregt gestikulierte.

Sekunden verstrichen, keiner sagte einen Ton. Da stürzte sie in ihr Zimmer, riss die Schranktür auf, fand sie nicht, fand ihre Briefe nicht und bewegte sich plötzlich wie ein gehetztes Tier, ihre Lippen zitterten, ihre Augen sprühten. Sie starrte mich an und das Herz rutschte mir in die Hose. Plötzlich fing sie an zu kreischen, verwandelte sich zu einer wildgewordenen Katze, sprang auf mich zu, und schrie die ganze Zeit „Wo sind sie? Raus mit dir! Raus! Du dummer Wichser, du!“
Ihre Stimme ging in Tränen unter, versagte völlig. Sie raste auf mich los, immer wieder zerrte sie an mir, versuchte mich rauszustoßen aus ihrem Zimmer. Sie atmete unheimlich schnell, sie war total verzweifelt, als sie merkte, dass ich auf ihren Ansturm hin nicht gleich wie von einer Keule getroffen aus ihrem Zimmer auf den Flur taumelte. Ich stand da, ihr zugewendet – sie mit aufgerissenen Augen – und betrachtete sie.
Es kam mir sehr irritierend vor, wie sie da so stand, ihre Ärmchen gehoben – sie war so verletzlich, so schwach aber so in Rage. Ihre Brust hob und senkte sich schnell und ihre zarten, kalten Hände versuchten zu Fäusten geballt mich zu verletzen.
Sie hatte ganz eindeutig Angst. Schämte sich. Und hasste mich bestimmt in diesem Augenblick. Ich betrachtete sie ganz unverhohlen, ihren schönen, feingegliederten Mädchenkörper, ihre klaren Konturen, ihre Brüste, ihre Lippen. Sie war so nah, sie presste ihren ganzen Körper gegen den meinen, boxte und knuffte mich, versuchte an mir zu zerren. Sie begann zu schwitzen und zu zittern, brach jetzt tatsächlich schon voll und ganz in Tränen aus. Dabei quietschte sie leise, keuchte und bibberte. Ihre blauen, ihre wunderbar reinen Augen starrten mich an, in ihnen war ein solcher Ausdruck der Bedrückung, der Scham gefangen, dass es mich im tiefsten Innern regte.

Ich weiß nicht, ich spürte halt meine Stärke ihr gegenüber - sie spürte meine Stärke und meinen festen Entschluss nicht einfach rausgeschoben zu werden. Und sie anzustarren.
Es passierte alles automatisch. Denken konnte ich nicht mehr. Mann, ich sah doch nur noch sie, und sie war unheimlich – betörend. So zart und so zerbrechlich.
Gleichzeitig war ich fast schon wütend auf sie, wie sie sich anstellte, wie sie mich mit aller Gewalt verletzen wollte. Plötzlich jedenfalls packte ich ihre strampelnden Ärmchen und hielt sie fest. Ich schaute sie wütend an, sie jaulte auf – vor Überraschung oder Schmerz, vielleicht auch beides – sah mir direkt in die Augen. Es war ein magischer Augenblick. Wenn man es nicht anders gewusst hätte, man hätte uns in diesem einen Augenblick glatt für ein Liebespaar halten können. Sie presste sich an meinen Körper und ich heulte innerlich auf. Ich spürte ihren Herzschlag und das war ein derartiges Gefühl – es lässt sich einfach nicht beschreiben. Spürte, roch ihren Atem, ich spürte ihr Beben und alles in mir war auf sie visiert.
Und was dann folgte, das war ganz komisch, wie in Trance. Sie war ein Mädchen, ein wunderhübsches - und noch nie war ich einem Mädchen so nah gewesen.
Ich merkte meine Erregung, wollte sie noch zurückdrängen, doch dann tat ich es einfach. Sie schrie erst auf, sie wehrte sich, wurde fast richtig kräftig. Doch ich packte sie, sie verzweifelte vollkommen, sie spürte, wie machtlos sie war, mir ausgeliefert. Sie jammerte und schrie, und ermattete dann und ließ es über sich ergehen.

Danach stand ich wortlos auf, ging zum Fenster, öffnete es, hielt meinen pochenden Kopf hinaus, atmete die kalte Herbstluft tief ein und aus. Dann ging ich wortlos an ihr vorbei (sie lag noch genauso da) aus dem Zimmer.

Daraufhin war alles anders – natürlich. Tanja zog sich immer mehr zurück, man sah sie kaum noch. In dieser Zeit, hatte ich eine unheimliche Angst, ihr zu begegnen, ich versteckte mich geradezu vor ihr. Ich bin mir sicher, dass sie das Gleiche umgekehrt machte. Hin und wieder hörte ich aus ihrem Zimmer ein Schluchzen. Es machte mich derartig wütend, wenn sie schluchzte, dass ich am Liebsten ein Messer genommen und sie abgestochen hätte.

Wenn wir am Mittagstisch saßen, war das die Hölle. Für mich und für sie. Morgens stand sie nun extra später auf, um mir nicht zu begegnen. Und ich beeilte mich, schneller mit dem Frühstück fertig zu werden. Es war wie ein Spiel, nein: anders. Ein nicht geschlossener Pakt zwischen mir und Tanja uns nicht mehr zu begegnen, uns so wenig wie eben möglich zu sehen. Meinen Eltern fiel natürlich Tanjas merkwürdig verändertes Verhalten auf, meines beachteten sie glaub ich nicht ganz so sehr. Ich versuchte mich unauffällig zu benehmen.

Vielleicht fragen sie sich, warum ich so sicher war, dass Tanja es nicht irgendjemanden erzählte. Ob ich sie nicht eingeschüchtert hätte, ihr Angst gemacht. Ich kann nur sagen: ich wusste es in der Tat nicht.
Meistens lebte ich die ganze Zeit über in einer wirren Welt, immer in Angst, sie würde was sagen. Wenn Mutter das Gespräch mit ihr suchte, hatte ich, man kann es ganz klar so sagen, panische Angst. Es war eine schreckliche Hitze, die sich bis in die Beine hinein erstreckte, ein Kribbeln im Kopf, als wenn Armeen von Ameisen in meiner Arterie herumwanderten. Ich versuchte dann an der Wand zu lauschen, doch man hörte nicht viel.
Danach, wenn ich hörte wie Mutter das Zimmer von Tanja verließ, stürzte ich aus meinem Zimmer um in ihrer Reaktion zu testen, ob sie nun was wusste oder nicht.

Tanja bekam dann auch noch Fieber. Es dauerte nicht lang, nur einen Tag lang hatte sie eine sehr hohe Temperatur – meine Eltern gaben ihr fiebersenkende Medikamente. Bei all ihrer Besorgtheit um Tanja fanden sie es klüger, nicht sofort einen Arzt zu benachrichtigen, sondern noch zu warten.

Ich lag die ganze folgende Nacht wach und bibberte vor Angst, sie könnte jetzt, in diesem Zustand, etwas erzählen. Fieberhaft suchte ich nach Antworten, wenn es zu einer Anklage kommen sollte. Fieberhaft, die ganze Zeit, die ganze schwarze Nacht über lag ich da, dachte und dachte, und dachte - doch nichts wirkliches. Nur sehr verwirrende, immer schneller um sich selbst drehende Gedankenströme rissen mich weg, ich drehte und drehte mich, mir wurde es schwindelig und übel.

Wie gesagt, Tanja war am nächsten Morgen wieder auf den Beinen, was ich nicht verstehen konnte. Nachdem ich Mutters Verhalten mit einem zufriedenstellenden Ergebnis analysiert hatte, war ich erleichtert und hätte die ganze Welt umarmen können.

Ich sprach sogar am gleichen Tag noch mit Tanja. Sie sagte mir gegenüber fast nichts, nur irgendetwas dahingesagtes.
Doch ich hielt es für möglich, dass sie es vergessen könnte, verdrängen.
Und in den nächsten Tagen und Wochen schienen tatsächlich die Wolken aufzureißen. Tanja wurde wieder lebhaft, zwar mir gegenüber noch recht schweigsam, aber sie versuchte wohl all das zu verdrängen. Sie ging wieder weg, war nicht mehr die ganze Zeit in ihrem Zimmer, verkrochen in einer Ecke und vor sich hin stierend oder weiß der Teufel was machend.

Auch ich versuchte meine panische Angst niederzudrücken. Es gelang mir tatsächlich fast. Jedenfalls tagsüber. Doch nachts konnte ich meist nicht einschlafen, lag häufig stundenlang wach.

Die Zeit verstrich, es wurde November, es wurde Dezember. Tanjas Geburtstag näherte sich und in mir hatte sich die wahnwitzige Idee eingenistet, ihr etwas ganz großartiges zu schenken - mit einem Geschenk mich zu entschuldigen, sie zu beruhigen. Vor allem wollte ich, dass meine Welt voller Angst endlich zerbreche. Denn panische Angst hatte ich immer noch, mal war es schlimmer, mal weniger schlimm. Aber die dunklen Schatten blieben die ganze Zeit über. Ich trieb in der Nacht in Fluten von Alpträumen, ich sah an meinem Bett plötzlich schwarze Gestalten, alte Männlein sitzen, gesichtslose Zwerge die einfach da saßen und nichts sagten, einfach da saßen und auf mich starrten. Oder in einer mir vollkommen unbekannten Sprache uralte Märchen erzählten, von der Menschheit vergessene Geschichten voller Tod, Schuld und Pein. Falsch, nicht wahr aber doch irgendwie voller Wahrheit.

Als dann ihr Geburtstag kam, der Tag, an dem alles ein Ende nehmen sollte, schenkte ich ihr eine Katze aus Glas. Ein wirklich hübsches Ding, und vor allem sehr teuer. Tanja bedankte sich bei mir, doch was genutzt hatte es nichts. Sie schwieg mich aus. Sie stellte die Glaskatze auch nicht in ihrem Zimmer auf, wie ich gedacht hatte.

Ich wusste, ich müsste mit ihr reden. Mich ihr stellen. Häufig nahm ich es mir vor, ging zu Bett mit dem eisernen Entschluss, morgen „es zu tun“. Ich malte es mir in tausend Farben aus, das ganze Gespräch verfolgte ich in Gedanken schon im voraus, jeden Satz den sie sagen könnte, jeden den ich sagen könnte, hörte ich in meinem Kopf schon vorher – doch immer hatte ich, in jeder Version, eine unheimlich gescheite Art und Weise mit ihr zu reden, ich löste immer das Problem, die große Versöhnung folgte immer.

Immer, nach den heldenhaften Reden der Nacht, war mein plötzlich aufflammender Mut am Morgen wieder erloschen. Doch eines Tages, wie im Traum, tat ich es einfach.

Die Eltern waren weg, so wie damals – wann, wenn nicht jetzt, dachte ich mir, und trat zu ihr ins Zimmer.
Sie sah mich nicht überrascht an, sah mich nur an und sagte nichts. Nun setzte ich also zu meiner Entschuldigungsrede an. Wollte ich. Konnte aber nicht. Alle Worte waren wie gelöscht, ich stand nun also da, im Zimmer, geschlossene Tür, und das Zimmer kam mir plötzlich vor wie eine dunkle Zelle, wie ein Kerker.

„Nun? Was willst du?“ fragte sie nach Minuten des Schweigens. Sie lächelte böse und spöttisch. Ich antwortete nicht. Was sollte ich antworten? Was?
Tanja stand dann auf, ging zum Schrank, kramte die Glaskatze daraus hervor und drückte sie mir wortlos in die Hand.
„Kannst wieder gehen,“ sagte sie und wandte sich ab. Ich sah auf die Katze, auf ihre schöne Form, sah in dieses rote Glas und bewegte mich nicht.
Mir kam es vor, als wenn die Katze mich hämisch anstarren würde - dass an ihren Pfoten Krallen, scharfe Krallen gewachsen seien, sie kam mir lebendig vor.

„Krallen die Töten können,“ dachte ich nur. Sah die Katze an. Was war das gewesen, dachte ich? Die Katze bewegte sich auf einmal. Ich konnte mich nicht rühren, ich war wie gelähmt, starrte sie an, starrte nur in ihre plötzlich lebendigen, glühend gelben Augen. Konnte nicht mehr atmen.

Dann kam der Schmerz, sie sprang, die Katze sprang auf mich zu, auf mein Gesicht, verkrallte sich in mir, in meinem Fleisch, krallte sich in meine Augen, fauchte. Schreie.
Ich ließ die Katze fallen, einfach so. Sie zersprang in zwei gleich große Stücke.

„Warum sagst du nichts? Bin ich so widerwärtig, dass man mich meiden muss? Stinke ich, oder was?“
Ich schrie Tanja an, die mich wundernd musterte. Sie sagte nichts. Kein Muskel, nichts rührte sich, sie schaute mich nur an, oder starrte mich an, als sei ich Luft, schaute dann auf die Scherben der Katze und fing an zu lachen.
Sie lachte falsch. Anders. Verzerrt. Es zeriss meine Seele - eine auf mich einbrechende Erkenntnis, wer sie war, überrollte mich wie eine Lawine: ein Dämon, aus der tiefsten Hölle ausgebrochen, emporgestiegen. Sie, ein Parasit, sie saugte mich aus, mein Blut, bis auf die Knochen saugte sie mich aus!
Sie war meine Schwester. Sie war Tanja. Aber nicht die, die ich einst gekannt hatte - sie war etwas anderes, ein Wesen, eine Kreatur der Dunkelheit.

„Es tut mir leid!“ die Worte starben auf meinen Lippen - ich warf mich auf sie. Wie sie dalag: Lässig. Kühl. Überlegen. Sie kam mir wie eine Göttin vor.
Ich machte eine riesige Dummheit. Ich schlug ihr mit aller Wucht ins Gesicht. Während ich schlug, wusste ich schon, dass ich es nicht machen sollte, dass es nur schlimmer werden würde.

Doch damals, zu dieser Zeit, war meine Hand, wie man so sagt, eh recht locker. Wer kann das nicht verstehen, frage ich?
Ich kam Tage vor diesem Ereignis mitten in der Nacht, übersät mit Blutergüssen, nach Hause, kroch in mein Zimmer und „floss“ in mein Bett. In dieser Nacht hatte ich, nachdem ich mit Freunden aus einer Kneipe, dem Treffpunkt unserer Klasse, gekommen war, mich mit ein paar Rüpeln angelegt. Oder besser: sie sich mit mir. Sie kannten meine Schwester und waren zudem vollkommen besoffen. Diese Typen jedenfalls brüllten in der schwarzen Nacht mir zu, dass meine Schwester derartig hässlich sei, dass selbst ein Penner sie nicht ficken werden wolle.
Ich schlug mindestens zwei von denen Krankenhausreif, ich war wie in einem Rausch, als ich die vollkommen abgefüllten Säcke, die Menschen darzustellen hatten, zusammenschlug. Wir, ich und meine Freunde, waren in der Überzahl. Wir schlugen und schlugen – man musste mich schließlich von den am Boden liegenden Leibern trennen.

Warum ich das hier erwähne, werden sie sich fragen. Jugendsünden werden sie vielleicht sagen. Ich wollt nur sagen, dass ich damals in der Tat zu Gewaltausbrüchen neigte.

Am Tag der zerbrochenen Katze schlug ich nun also meine Schwester.
Ich kam mir nach dem Schlag derartig doof vor, wie ein Idiot, dass mir ein „Das wollte ich nicht!“ entkam.
Sie sagte nichts. Nur dann ein
„Willst du es etwa mit mir noch mal tun?“.
Ich lag auf ihr und sie sagte das so ganz einfach. Ich weiß nicht warum es dann passierte. Trotz wahrscheinlich. Danach fühlte ich mich noch schlechter als jemals zuvor, ich prügelte danach auf ihren wehrlosen, entblößen Körper minutenlang ein.

Sie schrie nicht. Das machte mich noch rasender. Ich schlug und schlug, bei jedem Schlag zuckte ihr ganzer Körper, sie schluchzte und fing an zu heulen. Da rannte ich aus dem Zimmer und raus aus der Wohnung, rannte nur weg. Stundenlang irrte ich in der Stadt umher, ohne Gedanken, ohne Gefühle – ich ging nur weiter. Nicht wissend wohin, nicht wissend warum.

Tanja sah natürlich furchtbar aus. Die Eltern fragten sie aus, aber sie antwortete nichts.
Sie sollte nie mehr sprechen. Sie war verstummt. Nur das Allernötigste brachte sie hervor.

Ich weiß nicht, aber ich schreib es doch. Zu der Zeit hatte ich dann ein Mädchen, Miriam.
Es war mir recht peinlich, die ganze Sache mit Tanja. In der Schule sprach man auch schon von ihr, Gerüchte machten die Runde. Sie schwänzte nun häufig den Unterricht.
Und ihre Merkwürdigkeit zu dieser Zeit war tödlich für mich.

Miriam versuchte sich mit ihr anzufreunden, mit diesem, in der Schule negativ als Wunder titulierten, Wesen. Dazu gehörte dann auch eine Reihe Fragen zu meiner Schwester. Miriam fragte derartig viel, dass ich Tanja mehr denn je hasste.
Ja, so kann man es beschreiben: als Hass.

Jetzt versuchte ich tatsächlich Tanja einzuschüchtern, sie mundtot zu machen. Das war mein einziges Ziel, meine einzige Möglichkeit.
Immer hatte ich ein klopfendes Herz, wenn Miriam auf Tanja traf. Deshalb versuchte ich auch so oft wie möglich von zu Hause fern zu bleiben, so oft wie möglich auszugehen. Aber ich konnte dieser Person nicht entfliehen. Wenn sie auf den dummen Gedanken gekommen wäre, Miriam anzurufen, sogar auch nur Andeutungen zu machen – ich beobachtete Miriam und, wie es mir schien, sie mich. Ich redete auf Tanja ein, drohte ihr. Versuchte ihren Zustand anderen gegenüber runterzuspielen. Und Tag und Nacht Angst. Depressionen.
Und immer wieder die bohrenden Fragen meiner Freundin. Alles war nur noch Tanja. Ich war aufgelöst. Denken konnte ich nicht mehr, leben konnte ich nicht mehr – musste immer darauf achten, dass Tanja keinen Boden gewann, ich verhöhnte sie, ging einfach in der Nacht in ihr Zimmer, starrte sie an, fasste sie an. Ich wurde zu den Schatten meiner Träume. Eine unheilvolle Nachtwache. Sie schloss sich ein. Ich machte einen Dietrich.
Immer auf der Hut sein. Die Bewacher von Tanja wachen im Elternschlafzimmer, auf dem gleichen Flur. Leise sein. Vorsicht walten lassen.

Eines Tages war sie verschwunden. Ich konnte es nicht glauben. Sie war nicht mehr da. Einfach nicht mehr da. Es dauerte so lange, bis es mir bewusst wurde, dass sie wohl nie mehr zurückkehren würde (oh, betete ich darum).
Erst hatte ich noch Angst, sie könnte zur Polizei gehen. Zu einer Beratungsstelle. Aber nichts davon schien zu passieren. Ich war frei. Endlich war ich sie los.
Doch Miriam fragte und fragte.
„Wenn du mir was erzählen möchtest, kannst du es jederzeit!“
Ob sie mir mal ihr Herz geöffnet hätte, Last auf meine Schultern gelegt – ich könne es ihr sagen. Warum musste sie mich fragen? Warum? Die Welt war doch perfekt, die Gitterstäbe zerbrochen!
Und sie musterte mich immer so komisch, heimlich, von der Seite. Ich stieß sie ab. Ich wartete lang, aber dann stieß ich sie ab. Es musste ein Ende haben. Und ich machte mit ihr Schluss.
Sie verstand es erst nicht. Rief mich häufig noch an, hörte nicht auf mein Flehen, mich in Ruhe zu lassen.
„Ich kann es verstehen! Du hast Tanja sehr geliebt, nicht wahr?“
Solche Wörter hörte ich oft. Oft wünschte ich mir dann ein Messer, mit dem ich auf die verdammte Person einstechen könnte.
Ich zog aus, Miriam gab auf, meine Eltern waren eh nur noch Wracks.

Und nun? Nun schreibe ich ihnen diesen Brief. Versuchen sie nicht, mich aufzufinden.
Tanja habe ich übrigens wiedergesehen. Auf einem Spielplatz. Mit ihren Kindern. Drei Jahre danach hatte sie nun also Kinder, einen liebevollen Mann vielleicht. Sie ist doch wohl glücklich. Ich beobachtete sie heimlich, fragte mich, ob eines ihrer Kinder wohl von mir ist.
Traute mich nicht, mich ihr zu zeigen. Ich kam mir lächerlich vor, ich, hinter einem Baum versteckt, nicht weit von ihr weg - sie unentwegt musternd.
Ich hätte sie wohl auch erschreckt. Nicht, dass sie mich sofort wiedererkannt hätte. Oh, nein! Fraglich, ob sie das noch könnte. Es bräuchte jedenfalls Zeit.

Es tut mir leid, dass ich sie nun hiermit womöglich belaste. Aber ich kann ja auf ihre Verschwiegenheit rechnen, oder? Und wenn schon. Zeigen sie den Brief meinetwegen der ganzen Welt. Gehen sie zur Polizei. Lassen sie mich suchen.
Finden werden sie mich wohl kaum.

Mit freundlichem Gruß
 



 
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