Der Dealer und ich

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Allgemein anerkannte Sehenswürdigkeiten haben mich meistens gelangweilt. Was überall abgebildet ist, muss nicht auch von mir betrachtet werden. Paris und der Eiffelturm, Venedig und der Markusplatz - darf es nicht mal was anderes sein? Wer das tausendfach Reproduzierte reproduziert, wird selbst zur schlechten Kopie.

In Nürnberg habe ich immer einen Bogen um das Dürerhaus gemacht. Dafür saß ich gern in einem Kaufhausrestaurant am Aufseßplatz. Das war ein großer, düsterer Saal in fahlen Braun- und Gelbtönen, ganz im Alt-Nürnberger Geschmack, wie ihn so erst das 20. Jahrhundert entwickelt hat. Herrlich, diese schwerfälligen, wie gedrechselten Holzmöbel ... An den Wänden Reproduktionen zum Wiedererkennen - Dürers Tucherin war auch darunter. Man aß deutsch, also fränkisch, und das Publikum war fast rein deutsch und in der Mehrzahl im Rentenalter. Da saß ich bei gebratenen Klössen und sinnierte über Dürer und das Wirtschaftswunder nach: Betende Hände in den Schulbüchern und Frau Tucher auf der Banknote, ja, ja.

Es war in der Nürnberger Südstadt, die kaum ein Tourist zu Gesicht bekommt. Man könnte sie das Brooklyn von Nürnberg nennen. Hier ist das zweite Geschäftszentrum der Stadt, mitten in einem überwiegend proletarischen Stadtbezirk. An den Rändern sind noch immer große Industriebetriebe. Der Verkehr ist sehr dicht und die Luft vermutlich ungesund. Die Häuser sind teils Mietskasernen aus der Zeit um 1900, teils schnell hochgezogener Wiederaufbau nach dem Krieg. Die Südstadt ist dichter besiedelt als irgendein anderes deutsches Großstadtquartier, das ich kenne, von Berlin abgesehen. Ihre Völkermischung ist selbst für eine heutige Großstadt ungewöhnlich. Ich habe die Gegend einmal zufällig aus der Straßenbahn heraus entdeckt und bin danach oft für ein oder zwei Stunden hingefahren.

Manchmal bin ich den ganzen Tag auf dem Land gewesen und zum Abendessen in die Südstadt gefahren. So bummelte ich einmal in der Dämmerung die Wölckernstraße entlang. Sie ist, wie viele dort, nach einer Altnürnberger Patrizierfamilie benannt. Ich blickte forschend in jede Seitenstraße. ich suchte ein neues Restaurant zum Ausprobieren. Mein hungriger Blick fiel auf, er fiel gewissermaßen auf unfruchtbaren Boden. Das kam so: Statt an einem Ecklokal blieben meine Augen für Sekunden an einer Vierergruppe von jungen Schwarzen hängen. Sie standen müßig auf dem Gehsteig dieser Nebenstraße und beobachteten scharf den Hauptstrom der Fußgänger auf der Magistrale. Menschen, die andere Menschen beobachten, finde ich stets betrachtenswert. Sie filterten mich gleich aus der Menge heraus und machten sich gegenseitig auf mich aufmerksam; so viel bekam ich aus dem Augenwinkel noch mit. Dann war einer von ihnen hinter mir.

Mit Drogen habe ich fast keine Erfahrungen, außer mit viel Koffein und ab und zu Alkohol. Dennoch wusste ich als Ex-Hamburger, dass sie einen potentiellen Abnehmer in mir sahen. Ich ging rasch weiter und blickte gleichzeitig auf die Geschäftsauslagen. So versuchte ich, dem Mann hinter mir zu signalisieren: Ich bin ein ganz normaler Passant, ich interessiere mich für Handys, Damenunterwäsche und alte Sammeltassen. Behalt deine Ware! - Offenbar wirkte ich unglaubwürdig, er blieb mir auf den Fersen und holte langsam auf. Dann gab er mir ein Zeichen: Er schlurfte anhaltend im Weitergehen. Aus diesem Geräuschbrei ringsum - Motorengedröhn, Klingeln von Straßenbahnen, Quietschen von Reifen und dem unendlichen Summen in zweihundert Menschensprachen - hörte ich zwei Minuten lang heraus, wie zwei Ledersohlen sich am Gehwegpflaster rieben. Dann fand ich einen Italiener, der mir zusagte, und ging schnell hinein. Überrascht stellte ich fest, wie bürgerlich es da zuging. Als hätte ich eine andere Stadt betreten.
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo Arno,
Deine Texte sin dimmer so schön flüssig geschrieben, man merkt, mit welcher Lässigkeit Du Deine Wortwahl triffst, die Sätze bildest. Da sag ich nur: Respekt!
Das Ende der Geschichte hat mir gut gefallen, der “Cut” beim Italiener: Als habe man eine andre Stadt betreten.
Nicht verstanden habe ich diesen Satz:
Dennoch wusste ich als Ex-Hamburger, dass sie einen potentiellen Abnehmer in mir sahen.
Und diesen hier auch nicht:
hörte ich zwei Minuten lang heraus, wie zwei Ledersohlen sich am Gehwegpflaster rieben.
Dachte mir, frag mal nach, wie Du vielleicht weisst, ich weit weg, manchmal nix capire…
Jedenfalls scheinen mir Deine Texte immer sehr professionell. Wünschte mir auch so zu schreiben!
Mit Gruss,
Ji
 
Danke, Ji Rina, für die Blumen. Lass dich bitte nicht täuschen, der gelegentliche Eindruck von Leichtigkeit bedeutet nicht, dass dahinter nicht viel Arbeit stünde. Es gibt viele begabte Schreiber und mit Fleiß, Beharrlichkeit und Selbstkritik können die meisten, glaube ich, ähnlich Brauchbares wie ich produzieren, oder sogar noch Besseres. Talent ist das eine und mindestens ebenso wichtig ausdauernde Textarbeit im Stillen.

Zu deinen Fragen: 1. Zu jener Zeit - die Begebenheit spielt zwischen 2005 und 2007 - war ein beträchtlicher Teil des (Straßen-)Drogenhandels in Hamburg in den Händen junger Schwarzafrikaner. 2. Das absichtlich hervorgerufene Schlurfgeräusch sollte mir wohl etwas signalisieren, was genau, bleibt Interpretationssache.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

ThomasQu

Mitglied
Hallo Arno,

in der von dir sehr treffend beschriebenen Gegend habe ich einen großen Teil meiner Kindheit verbracht. Das ist allerdings schon etwas länger her. Stimmt schon, seit dem Bau der U-Bahn ist die Südstadt ziemlich heruntergekommen. Die kleinen Fachgeschäfte mussten zusperren, weil jeder für seinen Einkauf bequem in die Innenstadt fahren konnte. Seitdem gibt es dort überall nur noch Ramschläden.
Die gebratenen Klöße lesen sich erstmal sperrig, auch wenn es sinngemäß stimmt. Du meinst wahrscheinlich ein Gröstl.

Grüße, Th.
 
Lieber Thomas, danke für deine Rückmeldung mit lokalem Bezug. Jenes Gericht firmierte damals im Kaufhof-Restaurant tatsächlich als "Gebratene Klöße". Fleisch war nicht dabei! Heute Morgen las ich, dass die Kaufhof-Filiale dort sei 2012 geschlossen und ein neues Geschäftszentrum geplant ist.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 
Hallo Arno.

Auf mich wirkt die Geschichte, zur einen Hälfte, wie eine gelungene Stadtbeschreibung.
Wenn ich das richtig interpretiere, sucht jemand nach neuen Eindrücken, weicht ihnen dann aber aus, wenn sie zu fremd sind. Nett bürgerlich rübergebracht.
 
Norbert, danke für deine Wortmeldung. Neuen Eindrücken in der Nürnberger Südstadt ausgewichen? Das gerade nicht, wie die Vorstellung des Stadtviertels zeigen sollte, das außerhalb von Nürnberg recht unbekannt ist. Auf der anderen Seite ist die Begegnung mit Drogendealern für einen, der in Hamburg und Berlin seit Jahrzehnten viel herumkommt, eben nichts Neuartiges.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 
Hallo Arno.

Dann verstehe ich den Text anders, als du ihn gemeint hast. Ich hatte einen Teil meines Kommentares auch wieder gelöscht, weil ich mir nicht sicher war.
Wenn ich durch manche Viertel in Amsterdam laufe, gehen die Straßendealer an mir vorbei, zischen leise "Haschisch" und schauen, ob ich reagiere. Es erschien mir unwahrscheinlich, das sie jemanden verfolgen und auf irgendeine schwer interpretierbare Weise darauf aufmerksam machen. Wahrscheinlicher schien mir, das sie dieses bei Augenkontakt mit einer Geste tun.
Deshalb dachte ich, unser Freund bildet sich die Verfolgung nur ein und flüchtet schnell zu einem Italiener, der ihm einladend neu, aber doch üblich bürgerlich erscheint.
Ich nehme an, es ging dir darum, zu zeigen, das eine Stadt mehr zu bieten hat als seine Sehenswürdigkeiten. "Ich" bin mir bei der Interpretation des Textes jedoch nicht im Klaren. Auf mich wirkt es, als wenn unser Freund das immer gleiche "Neue" sucht. Wie eine Kritik an einer bürgerlich einfältigen Neugierde. Auf der anderen Seite scheint die Begegnung mit den Schwarzen nicht wichtig für die Geschichte und treibt ihn nur ein Stück weiter, als er vorhatte. Ich dachte zunächst, er geht hier dem nicht bürgerlich-Neuen aus dem Weg. Die Vorzüge des Besuches anderer Stadtteile kam mir dabei nur unterschwellig in den Sinn.
 



 
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