Homosapiens
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Ich bin kein Kirchgänger im üblichen Sinne, obwohl ich manchmal gern eine Kirche aufsuche, abseits der konventionellen Gottesdienste. Im Hochsommer mal zur Kühlung und zum Schutz vor der blendenden Sonne, mal, wenn ich Chor oder Organisten üben höre oder auch nur zu kurzem Rückzug aus dem ununterbrochen brausenden Alltag. Oft ist ein Altarraum auf halber Höhe rundum mit Engeln verziert, alle einander ähnlich, den Blick unverstehbar und ewig auf ihren Ursprung gerichtet, über die ganze Welt hinweg.
Bei einem dieser Besuche aber fand ich nahe der Wand zu meiner Überraschung einen von ihnen am Boden liegend, den Engel Andreas. Sie haben ja alle vokalreiche, wohlklingende Namen aus dem Lateinischen wie Gabriel oder Michael oder ähnlich. Andreas nun war offenbar aus der Höhe seiner ursprünglichen Bestimmung abgestürzt und so hart auf den steinernen Boden aufgeschlagen, daß ihm einer der Flügel abgebrochen war. Die Bruchstelle war deutlich sichtbar, vom Flügel fehlte jede Spur. Vielleicht hatte ihn irgendwer mitgenommen, als Andenken, es schauten ja öfter Touristen herein. Ein Trophäensammler, von irgendwo auf der Welt? Das Gesicht des Andreas war nicht pausbäckig wie bei Engeln üblich, sondern schmal und leidvoll, so wie ein schwer verletztes Tier, am Boden liegend, einen stillen, klaren Blick bekommt. Die Augen unter dem silbergrauen, reichen Lockenschopf schienen bis zum Himmel zu sehen, der aber durch tiefgraue Wolken verhangen war.
Ich ging in die Hocke, um den demolierten Engel zu betrachten. Offenbar hatte ihn hier seit dem Verlust seines Flügels niemand bemerkt. Ich hätte gern gefragt, ob es weh tat, aber war das denn nicht klar? Andreas sah mich unverwandt an, fragend, wer er nun sei, so am Boden und zerbrochen. "Du hat einen Namen", versuchte ich, ihn zu ermutigen. Er bewegte den verbliebenen Flügel, aber er hätte nunmal beide gebraucht.
In der Folgezeit kam ich häufig zu Besuch in diese Kirche, und da ich nicht wußte, was ich für Andreas hätte tun können, gewöhnte ich mir an, jedes Brot zu teilen und brachte ihm die Hälfte aller meiner Mahlzeiten mit. Einmal sah er betrübt über sein weißes Gewand, wie ich als Kind ein ähnliches getragen habe, an sich herunter und bemerkte, daß er einen Bauch bekommen hatte. "Alles ehrlich angefuttert", tröstete ich ihn und streckte die Hand zart in Richtung der Bauchrundung. Sind Engel eitel, trotz ihrer ganz eigenen Vollkommenheit? Ich war erstaunt. Vielleicht lag es an seinem ungewollten Trümmer-Dasein, da am Boden unter all den anderen Engeln, die unversehrt an den Wänden schwebten und über die Welt jubilierten. Einige hatten Instrumente in den Händen, andere den Mund rund und weit offen zum ewigen Lobgesang. Andreas sang trotz seiner klaren, schönen Stimme nicht mit, aber manchmal, wenn ich neben ihm kauerte und sein schmales, besänftigtes Gesicht ansah, summte er eine tiefe, volle Tonmelodie nach, leise und nur für sich selbst, wie der Wind um den Turm singt.
Ich gewöhnte mich sehr an den Engel, meine Besuche bei ihm wurden ein wichtiger Teil meines Lebens. Im Laufe der Zeit gab ich ihm manchmal mehr als die Hälfte meiner Mahlzeiten und ermunterte ihn: "nimm, es ist mehr als genug für uns beide da." "Mein Engel", so hat Andreas mich manchmal genannt. Mich hat das immer verwirrt, kam und ging ich doch stets als Mensch. Der himmlische Bote war er, auch mit nur einem Flügel. An manchen Tagen aber fand ich sein Gesicht einfach verschlossen vor, wie aus Stein, aus dem er ja gemeißelt war. Das waren für mich traurige Tage, wenn ich trotz aller Versuche nicht zu ihm finden konnte. Aber wäre es mit den ewig lächelnden Engeln an den Wänden besser gewesen? Sie sagten mir nie etwas, Andreas dagegen erzählte mir aus seiner Welt, die dann auch meine wurde, während ich auf dem kalten Steinboden bei ihm hockte.
Kürzlich fiel mir etwas zwischen seinen Schultern auf, eine Bewegung, eine Erhebung, die sein Gesicht schmerzlich anzuspannen schien. Kann ein Flügel nachwachsen? In der Kirche sollen ja wohl immer mal wieder Wunder geschehen sein. Ist das schmerzhaft? Kindern tut der Durchbruch der Zähne jedenfalls weh.
Meine Stunden mit dem Engel Andreas würden mir mittlerweile sehr fehlen, wenn ich irgendwann ohne Wiederkehr ginge. Lieber verrate ich nicht, in welcher Kirche ich ihn regelmäßig besuche. Die Touristen sind immer auf der Jagd nach Andenken, ob nun brauchbar oder nicht. Sie wollen alles einfach erstmal haben und mitnehmen. Ein gestohlener Flügel aber war genug.
Bei einem dieser Besuche aber fand ich nahe der Wand zu meiner Überraschung einen von ihnen am Boden liegend, den Engel Andreas. Sie haben ja alle vokalreiche, wohlklingende Namen aus dem Lateinischen wie Gabriel oder Michael oder ähnlich. Andreas nun war offenbar aus der Höhe seiner ursprünglichen Bestimmung abgestürzt und so hart auf den steinernen Boden aufgeschlagen, daß ihm einer der Flügel abgebrochen war. Die Bruchstelle war deutlich sichtbar, vom Flügel fehlte jede Spur. Vielleicht hatte ihn irgendwer mitgenommen, als Andenken, es schauten ja öfter Touristen herein. Ein Trophäensammler, von irgendwo auf der Welt? Das Gesicht des Andreas war nicht pausbäckig wie bei Engeln üblich, sondern schmal und leidvoll, so wie ein schwer verletztes Tier, am Boden liegend, einen stillen, klaren Blick bekommt. Die Augen unter dem silbergrauen, reichen Lockenschopf schienen bis zum Himmel zu sehen, der aber durch tiefgraue Wolken verhangen war.
Ich ging in die Hocke, um den demolierten Engel zu betrachten. Offenbar hatte ihn hier seit dem Verlust seines Flügels niemand bemerkt. Ich hätte gern gefragt, ob es weh tat, aber war das denn nicht klar? Andreas sah mich unverwandt an, fragend, wer er nun sei, so am Boden und zerbrochen. "Du hat einen Namen", versuchte ich, ihn zu ermutigen. Er bewegte den verbliebenen Flügel, aber er hätte nunmal beide gebraucht.
In der Folgezeit kam ich häufig zu Besuch in diese Kirche, und da ich nicht wußte, was ich für Andreas hätte tun können, gewöhnte ich mir an, jedes Brot zu teilen und brachte ihm die Hälfte aller meiner Mahlzeiten mit. Einmal sah er betrübt über sein weißes Gewand, wie ich als Kind ein ähnliches getragen habe, an sich herunter und bemerkte, daß er einen Bauch bekommen hatte. "Alles ehrlich angefuttert", tröstete ich ihn und streckte die Hand zart in Richtung der Bauchrundung. Sind Engel eitel, trotz ihrer ganz eigenen Vollkommenheit? Ich war erstaunt. Vielleicht lag es an seinem ungewollten Trümmer-Dasein, da am Boden unter all den anderen Engeln, die unversehrt an den Wänden schwebten und über die Welt jubilierten. Einige hatten Instrumente in den Händen, andere den Mund rund und weit offen zum ewigen Lobgesang. Andreas sang trotz seiner klaren, schönen Stimme nicht mit, aber manchmal, wenn ich neben ihm kauerte und sein schmales, besänftigtes Gesicht ansah, summte er eine tiefe, volle Tonmelodie nach, leise und nur für sich selbst, wie der Wind um den Turm singt.
Ich gewöhnte mich sehr an den Engel, meine Besuche bei ihm wurden ein wichtiger Teil meines Lebens. Im Laufe der Zeit gab ich ihm manchmal mehr als die Hälfte meiner Mahlzeiten und ermunterte ihn: "nimm, es ist mehr als genug für uns beide da." "Mein Engel", so hat Andreas mich manchmal genannt. Mich hat das immer verwirrt, kam und ging ich doch stets als Mensch. Der himmlische Bote war er, auch mit nur einem Flügel. An manchen Tagen aber fand ich sein Gesicht einfach verschlossen vor, wie aus Stein, aus dem er ja gemeißelt war. Das waren für mich traurige Tage, wenn ich trotz aller Versuche nicht zu ihm finden konnte. Aber wäre es mit den ewig lächelnden Engeln an den Wänden besser gewesen? Sie sagten mir nie etwas, Andreas dagegen erzählte mir aus seiner Welt, die dann auch meine wurde, während ich auf dem kalten Steinboden bei ihm hockte.
Kürzlich fiel mir etwas zwischen seinen Schultern auf, eine Bewegung, eine Erhebung, die sein Gesicht schmerzlich anzuspannen schien. Kann ein Flügel nachwachsen? In der Kirche sollen ja wohl immer mal wieder Wunder geschehen sein. Ist das schmerzhaft? Kindern tut der Durchbruch der Zähne jedenfalls weh.
Meine Stunden mit dem Engel Andreas würden mir mittlerweile sehr fehlen, wenn ich irgendwann ohne Wiederkehr ginge. Lieber verrate ich nicht, in welcher Kirche ich ihn regelmäßig besuche. Die Touristen sind immer auf der Jagd nach Andenken, ob nun brauchbar oder nicht. Sie wollen alles einfach erstmal haben und mitnehmen. Ein gestohlener Flügel aber war genug.