Der Enkeltrick

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LUPESIWA

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Aus meiner Reihe "Geschichten über Senioren für Senioren"

Der Enkeltrick

In der Residenz am Park herrscht ziemliche Unruhe. Wie ein Lauffeuer hat sich herumgesprochen, dass Frau Müller aus der zweiten Etage seit dem Frühstück nicht mehr gesehen wurde, das heißt zuletzt wurde sie im Park mit einem jungen Mann beobachtet.
Am Mittagstisch blieb ihr Stuhl leer. Das war nicht ungewöhnlich, denn ab und an werden Bewohner von ihren Kindern, Verwandten oder Freunden abgeholt und verlassen mit ihnen das Haus. Aber dann muss man sich abmelden, so steht es in der Hausordnung.

Vor dem Haupteingang haben sich inzwischen eine Menge Bewohner aus allen Etagen zusammengefunden. Sie reden alle durcheinander und stellen die tollsten Vermutungen an.
„Vielleicht liegt sie im Park irgendwo“, überlegt jemand laut und zwei Frauen machen sich mit dem Rollator gleich auf den Weg.
„Oder sie ist entführt worden, auf jedem Fall war sie mit einem fremden Mann unterwegs“, mutmaßt die Nächste.
„Warum das denn, bei der Müllerin ist doch gar nichts zu holen“, poltert Frau Eberlein dazwischen. „Ich verbring wohl die meiste Zeit mit ihr, ich wüsste das!“
„Bloß weil du Zeit mit ihr verbringst, muss sie dir nicht alles erzählen“, kontert Frau Riemschneider mit spitzer Zunge, „jeder weiß, dass du die Klatschspalte im Haus fütterst.“
Ehe die Eberlein mit giftigen Blicken antworten kann, drängt sich Johanna Helbig dazwischen. Sie ist eine sehr zurückhaltende Frau und manche nennen sie die stumme Johanna. Sie weiß das und lächelt nur darüber.
„Mir hat Gretel, ich meine Frau Müller, schon oft von einem Enkel erzählt, der sie irgendwann zu sich nach Hause holen werde“, berichtet Johanna. „Und heut Morgen nach dem Frühstück kam sie ganz aufgeregt vom Spaziergang aus dem Park, holte ihre Tasche aus dem Zimmer und rief mir auf dem Gang noch zu, Oliver ist da, er ist gekommen.“
„Warum haben sie das nicht schon längst erzählt?“, nörgelt jemand von hinten.
„Warum sollte ich, mich fragt ja keiner“, pariert Frau Helbig mit sanfter Stimme. Aber Martha Eichmann entgeht nicht das .spitzbübische Lächeln in den Augen.
Für eine Weile schauen alle etwas ratlos umher.
„Wer sagt denn, dass es wirklich der Enkel von Frau Müller war, mit dem sie weggefahren ist“, mischt sich Einstein ins Gespräch ein. „Man liest ja oft genug in der Zeitung vom Enkeltrick und anderen Betrügereien.“
„Nun malen sie den Teufel nicht an die Wand, Herr Stein, doch nicht in unserem Haus“, protestiert Isolde Gruber und blitzt ihn streitlustig an.
„So abwegig ist das gar nicht“, unterstützt Martha diese Überlegung, „ oder hat schon jemand Frau Müllers Enkel hier zu Besuch gesehen? Also ich in den letzten vier Jahren nicht.“
„Man höre und staune“, reagiert Einstein mit seinem bekannten Sarkasmus, „Frau Doktor gibt mir auch mal Recht.“
„Was Recht ist, muss Recht bleiben, nicht wahr Herr Stein“, antwortet Martha charmant und dreht sich wieder den anderen zu.

In dem Moment kommt Frau Hilbert aus der Verwaltung auf die Gruppe zu und ruft schon von weitem, dass sich alles aufgeklärt hat.
„Meine Herrschaften, es ist alles in Ordnung. Frau Müller ist tatsächlich mit ihrem Enkel Oliver Müller unterwegs. Bis vor ein paar Wochen hat er im Ausland gearbeitet und besucht die Oma nach langer Zeit zum ersten Mal. Erst vor einer halben Stunde ist ihr eingefallen, dass sie in der Aufregung vergessen hat Bescheid zu sagen und sich für den ganzen Tag abzumelden. Darauf hat Herr Müller sofort hier angerufen.“
Beruhigt aber auch aufgeheitert über die Abwechslung spazieren die Bewohner zum Haupteingang und bringen sich vor dem aufkommenden Herbstwind in Sicherheit. .
 



 
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