Der Fall Legrand

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knudknudsen

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In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts erregte in ganz Paris der mysteriöse Fall des Monsieur Eric Legrand viel Aufmerksamkeit. Zeitungen, wie der Pariser „LeFigaro“ widmeten diesem Ereignis einen kleinen Artikel auf ihrer Titelseite. Erst viele Jahre später wurde der Fall aufgeklärt und gelangte erneut in die Presse.

Warum Monsieur Legrand dem Wahnsinn verfiel, nachts mit irrem Blick, nackt und schreiend durch Paris torkelte, wurde nicht restlos geklärt. Jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Meldung in der Presse zum ersten Mal eine breitere Öffentlichkeit erreichte. Fakt war, dass dieser Mann umgehend in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wurde. Daraufhin versuchten nicht wenige Psychologen und andere Seelenheiler sich mit jenem Fall zu profilieren. Doch scheiterten sie kläglich. Die wahren Hintergründe Legrandes Wahnsinn zu erfassen, blieb ihnen versagt. Vergeblich versuchte die Polizei bereits im Vorfeld, die Identität jenes geheimnisvollen Mannes zu klären. Entweder verweigerte er die Aussage, oder er entfernte sich soweit von der realen Welt, falls er sich nicht schon längst in einer anderen Sphäre befand, in dem er völlig geistesabwesend vor sich hin stierend in ein irres kichern verfiel. Eben jene hysterischen Laute konnten dann über mehrere Stunden andauern, und unter Umständen den ihn verhörenden Polizisten oder Psychiater den Verstand rauben, wenn sie nicht umgehend den Raum verließen.

Erst einige Tage später konnte die Identität, durch die Veröffentlichung seines Fotos, mit Hilfe seiner Nachbarn, die sich daraufhin bei der Polizei meldeten, geklärt werden. Die Durchsuchung seiner Wohnung brachte keine näheren Erkenntnisse über seinen Wahnsinn. Die Wohnung wurde trotz allem zunächst für einen unbestimmten Zeitraum versiegelt. All jene Geschehnisse ereigneten sich innerhalb einer Woche. Im weiteren Verlauf der Ermittlungen blieb dieser ungewöhnliche Fall zunächst ohne weitere Ergebnisse. So kam es das das Polizeiarchiv, nach einigen Monaten, eine zusätzliche Akte im Bereich der ungelösten Fälle aufnehmen musste. Zwar entschwand jenes Vorkommnis kurz darauf aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit, von Zeit zu Zeit jedoch wurden durch die Presse immer wieder Fragen gestellt, ob sich denn nicht etwas neues ergeben habe. Was allerdings negativ beantwortet wurde. So schien es bereits als ob dieser Fall im Sande verlaufen würde.

Einige Jahre nach der Einweisung Legrandes wurde sein Fall, völlig überraschend, aufgeklärt. Das Haus, indem er gewohnt hatte, war nach den Ereignissen innerhalb kürzester Zeit ziemlich heruntergekommen. Der Putz bröckelte von den Wänden, das Glas der Fenster war entweder verdreckt oder von irgendwelchen Halbstarken eingeworfen worden. Niemand wohnte mehr dort. Kurz nach dem Aufgreifen Legrandes überkam die Bewohner ein ungutes Gefühl in diesem Haus. Doch konnten sie sich diese Empfindungen nicht erklären. Einer nach dem anderen verlies das Haus, es verwaiste. In den Jahren des Zerfalls schlugen dort Wohnungslose und Jugendliche ihr Quartier auf. Doch niemanden hielt es länger als zwei, drei Nächte.

Am 5. Oktober 1978 nahm sich der zweiundvierzigjährige desillusionierte und dem Alkohol zugeneigte Inspektor Jean-Pierre Duvall des Falls Legrand an. Duvall wurde des öfteren mit dieser Art Fall beschäftigt. Er zeichnete sich nicht gerade durch besonderen Ehrgeiz aus, und als ihn dann noch seine Frau verließ und er zu trinken begann fiel er endgültig in Ungnade bei seinen Vorgesetzten. Duvall arbeitete sich durch intensives Aktenstudium in den Fall „Legrand“ ein. Daraufhin beschloß er Legrand persönlich aufzusuchen.

In einem Besuchszimmer der Psychiatrie saßen sich beide gegenüber. Legrand war ziemlich gealtert, hatte eine faltige und leicht grünliche Gesichtsfarbe. Er wirkte völlig abwesend und machte auf den Inspektor den Eindruck eines unter Drogen stehenden Abhängigen. Der Inspektor versuchte ihm einige Fragen zu stellen. Aber es kam keine Antwort, nichts. Keine Regung war im Gesicht des Wahnsinnigen zu verzeichnen. Dann fing er plötzlich an zu kichern. Leise ging dieses irre kichern in ein lautes höhnisches Lachen über. Es war hoffnungslos.

Duvall sah ein, dass er so nicht weiterkam. Also entschied er sich mit jenen zu reden, die dazu noch in der Lage waren, wie die ehemaligen Nachbarn Legrands. Zwar konnten sie ihm auch nicht viel berichten, aber durch diese Befragungen fokussierte sich sein Blick auf das ehemalige Mietshaus welches Legrand damals bewohnte. Einige Tage nach der Einweisung Legrands berichteten manche seiner einstigen Nachbarn über merkwürdige Vorgänge im Haus. So schien es, als ob des nächtens in der Wohnung des Unglücklichen jemand auf und ab ging. Andere meinten, dass wehklagende Seufzen eines Kindes zu hören. Wiederum andere vernahmen ein kratzen an den Wänden. Nicht wenige erklärten, sie hätten das Tropfen eines undichten Wasserhahnes gehört. Offenbar mussten die Wände dort sehr dünn sein. In einem Punkt jedoch waren sie sich alle einig. Ging jemand an der Wohnungstür Legrands vorbei befiehl diesen unweigerlich ein unangenehmes Schwindelgefühl und ein frösteln.

Inspektor Duvall entschloß sich daraufhin einige Nächte in dieser Wohnung zu verbringen. Die zerfallene Fassade des Gebäudes bestätigte seine Vorstellungen, die sich in seiner Fantasie entwickelt hatten. Er stapfte durch das staubige Treppenhaus in die zweite Etage bis zu Legrands Wohnung. Das Polizeisiegel war immer noch unversehrt. Noch bevor Duvall die Tür öffnete, überkam ihn ein leichter Schwindel. Er versuchte ihn abzuschütteln und trat ein.

Ein Zimmer, Küche, Bad. Das Mobiliar war spärlich. Im einzigen Zimmer stand ein altes Drahtbett, daneben ein Nachttisch, an der Fensterseite stand ein Tisch mit einer Lampe darauf. Der Lampenschirm war verziert mit chinesischen Schriftzeichen. Die Polizei ermittelte damals, dass die Tischlampe von einem Flohmarkt stammte. Der Verkäufer konnte nicht gefunden werden. Der Bedeutung der Schriftzeichen konnte nicht gänzlich auf den Grund gegangen werden. Man brachte nur so viel in Erfahrung, dass es sich um die alt-chinesische Art einer mystischen Lampe handeln musste. Hatte jemand ein Verbrechen begangen oder gelogen, so würde diese Lampe den Schuldigen überführen. So die Überlieferung einer alten chinesischen Religion.

Nachdem sich Duvall in der Wohnung umgesehen hatte bereitete er sich auf die Nacht vor. Er hatte eine Liege mitgebracht auf der er sich nun ausstreckte. Langsam schlief er ein.

Es war nach Mitternacht als Duvall erwachte. Er schwitzte und fühlte sich unwohl. Irgendetwas schien zu tropfen. Von Müdigkeit geplagt richtete Duvall sich auf.

Tropf, tropf, tropf...

Dem Inspektor überkam das beklemmende Gefühl nicht allein zu sein. Langsam tastete er sich in Richtung des Tisches, von dem das Tropfen herrührte. Bei dem Versuch die Taschenlampe zu ergreifen, die er dort abgelegt hatte, fasste Duvall in eine Flüssigkeit. Er fröstelte. Der Lichtkegel der Taschenlampe streifte über den Tisch. Diese Flüssigkeit war Blut. Blut, dass aus der Tischlampe tropfte. Ein Rinnsal floss über den Tisch, tropfte auf den Fußboden und bildete einen Blutstrom, der bis in den Korridor reichte, wo er an einem bestimmten Punkt in einer Blutlache endete.

Duvall kam dies sehr merkwürdig vor. Entsetzt sprang er zurück. Eine furchtbare Ahnung überkam ihn. Er musste den Boden aufbrechen. In der Wohnung fand er einen Hammer mit dem er sofort begann die Dielen aufzubrechen. Holz splitterte. Duvall arbeitete wie besessen. Seine Hände bluteten. Ein großes Loch tat sich auf, in das er mit seiner Taschenlampe hineinleuchtete. Langsam kam er mit dem Gesicht näher an die Öffnung heran, blickte hinein ... und wurde fast wahnsinnig.

Er blickte in die Gesichter zweier halbverwester Leichen, noch im Angesicht des Todes fest umschlungen, die ihn anzustarren schienen. Fast hatte es den Anschein, als ob diese ihn angehen würden. Doch nichts geschah. Als Duvall sich von diesem Schock erholte beschloß er noch einmal mit Legrand zu sprechen nachdem er die Spuren in der Wohnung sichern ließ. Als er Legrand mit seiner Entdeckung konfrontierte, brach dieser sein Schweigen.

Legrand hatte in seiner Jugend ein Verhältnis mit einer jungen Zigeunerin gehabt, die eines Nachts mit einem Kind vor seiner Tür stand und behauptet hatte es wäre von ihm, und da sie damals noch minderjährig war drohte sie zur Polizei zu gehen, wenn er sich nicht um sie beide kümmern würde. Er lachte sie aus und schickte sie weg. Die nächste Nacht kam sie wieder und so wiederholte sich das über mehrere Tage. Schließlich hatte er genug und bat beide in seine Wohnung, wo er die Frau und das Kind erschlug und sie bei Nacht irgendwo außerhalb von Paris begrub. Fortan quälten ihn Alpträume, bis zu jener Nacht als beide in der Gestalt von Wiederkehrern, mit herabhängenden Hautfetzen und hervorstehenden Knochen, vor seinem Bett standen und ihn mit leuchtenden Augen anstarrten und ihn auslachten. Da verlor er den Verstand und lief schreiend auf die Strasse.

Nach dieser Beichte brach Legrand tot zusammen. Für Duvall war der Fall erledigt. Wie die Frau und das Kind unter die Diele kamen wurde niemals geklärt.
 

Isildur

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Mein lieber knud, also das ist sehr gut!

Mir gefällt dein Stil, und deine Sprache, die, meiner Meinung nach, sehr bildhaft und kräftig ist.

Eine Kleingkeit hab ich aber doch anzumerken.
Ist es wirklich nötig besagte Tischlampe so ausführlich zu beschreiben? Ich denke nicht das diese der Gegenstand einer polizeilichen Ermittlung sein würde. Das stört ein wenig den Lesefluß, und nimmt die, sonst durchgehend vorhandene, Spannung raus. Ich denke in diesem Fall wär weniger mehr.

Conclusio: Dankeschön und bitte mehr davon!

mfg
Isildur
 

knudknudsen

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Hallo,

erstmal danke für die Kritik.

Die Frage ist ja meist,zumindest bei mir,was beschreibe ich ausführlicher und was nicht.
Manche Kritik, die ich bekomme, geht oft in Richtung Spannungsbogen. Also das ich zu schnell zum Schluß komme bzw. 'auflöse'.Wurde mir z.B. mal von nem "Bastei"-Lektor gesagt.

ahoi
knudsen
 

Isildur

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Naja ich meine die Geschichte ist so gut, sie braucht kein mysthisches Objekt um zu funktionieren.
Mir scheint, als willst du hier eine Erklärung für die Vorgänge abliefern, die sich ereignen. Ich finde das ist nicht nötig.

Evtl. könntet du dann auch am Titel feilen? Er bereitet einen nicht auf das vor, was man zu lesen bekommen wird (Titel langweilig, Geschichte das Gegenteil). Mir fällt zb. spontan "Legrands Wahnsinn" ein. Aber bei einem Titel sind Autoren heikel, ich weiß :)

Alles andere finde ich, wie schon erwähnt, hervorragend.

mfg
Isildur
 

knudknudsen

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naja-Titelfindung ist ein Kapitel für sich.

Es sollte auch nicht zu reißerisch sein.Erinnert mich immer an das große Hetzblatt mit den 4 Buchstaben.
Aber stimmt schon, die Überschrift sollte Neugier wecken...werd mir Mühe geben. :)
 

dpunkt

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spannend und gruselig, es war ein vergnügen, die geschichte zu lesen.
die "lampe" sticht tatsächlich etwas aus der erzählung heraus, die sich ja sonst eher mit der aufzählung der fakten beschäftigt und mich persönlich hat auch das tropfende blut ein wenig gestört, zumal ich mich sofort gefragt hab, wie lange aus einer verwesenden leiche denn noch blut tropft -gerinnt das nicht recht schnell (quincy sei wachsam!)?
ich war durch deinen stil schon gefesselt genug, so dass es meiner meinung nach solcher "kunstgriffe" nicht bedarf. (duvall könnte den leichen doch auch aufgrund von modergeruch oder dem regen treiben von aaskäfern an der decke auf die spur kommen)
aber das sind kleinigkeiten,
und die geschichte ist prima!
 
Hallo Knud,

es gibt da eine Zeile, die du ändern solltest.

"wo er an einem bestimmten Punkt in einer Blutlache endete.

Duvall kam dies sehr merkwürdig vor. Entsetzt sprang er zurück. Eine furchtbare Ahnung überkam ihn."

Du bringst mit diesem Merkwürdig-vorkommen eine Ironie in den Text, wie ich finde, die der Geschichte nicht gerecht wird. An deiner Stelle würde ich den Satz einfach streichen und den Absatz mit: "Entsetzt sprang Duvall zurück." beginnen. Das erhöht die Spannung und mindert den Einfluss des Erzählers.
Der ist in deiner Geschichte sehr stark und gibt ihm einen Protokollcharakter.
Du hast den Titel übrigens gut gewählt, Fall und Protokoll passen gut zusammen.

Eine Bewertung lass ich mal, weil ich nicht gut Freund mit diesem Schreibstil bin. Ich bin, was Gruselgeschichten angeht, eher für´s Unmittelbare. Aber trotzdem gut gemacht,

mit freundl. Grüssen, Marcus
 



 
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