Der Feenkrieg 2

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agilo

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Nachdem ich mich leider vergeblich bemüht habe, den "Feenkrieg" in einem Sammelklappentext zu veröffentlichen (die beiden gelöschten Versuche sind das Ergebnis meiner Bemühungen), kommt das zweite Kapitel nun als einzelner Text. Ich freue mich nach wie vor über konstruktive Kritik.

Kapitel 2
Es war eine düstere Nacht. Gewaltige Unwetter zogen über Dreieich hinweg, begleitet von lautem Donnergrollen und grellen Blitzen, welche die Welt der Dorfbewohner jedes Mal für kurze Augenblicke in unnatürliches, weißes Licht tauchten. Die Anhänger des Donnergottes Donezil warfen sich zu Boden und beteten darum, nicht vom Blitz erschlagen zu werden und auch alle anderen schickten sicherheitshalber ein kurzes Gebet zu ihren bevorzugten Gottheiten, Heiligen oder Naturgeistern.
Gewitter waren in Nauthia im Grunde keine seltenen Ereignisse, aber solche heftigen Unwetter wie jenes kamen auch dort nur alle paar Jahre vor. Die Menschen nannten diese Art von Wetterphämonen „Feensturm“. Diese - immer nur abends oder nachts auftretenden - Stürme zogen, von den Markbergen her kommend, über das ganze Hügelland hinweg. Man erkannte sie an den schwarzen, schweren Wolken, deren Ränder allerdings seltsam hell erstrahlten, ganz so, als würde sich mitten in ihrem dunkelsten Inneren eine geheimnisvolle Lichtquelle befinden. Nie ergoss sich daraus auch nur ein Tropfen Regen. Es gab zwar Blitz und Donner, doch sie folgten nicht zwangsläufig direkt aufeinander, ganz so, als hätte das eine mit dem anderen nichts zu tun. Die Winde waren böig, erreichten mitunter eine solche Stärke, dass sie die Dächer der Hütten abdeckten, konnten aber auch innerhalb von Sekunden fast zur völligen Stille abflauen, wobei die Richtung, aus der sie wehten, dabei völlig beliebig zu sein schien. Sie brachten mal die dünnen Äste der nördlich des Dorfes gelegenen Nadelwälder mit und im nächsten Augenblick die Blüten und Blätter der Obstbäume im Westen. Malfalda behauptete, dass diese Unwetter ein Zeichen seien für Unruhe, möglicherweise sogar Krieg im Feenland. Die Anhänger Donezils betrachteten ihre Aussagen gemeinhin als rückständigen Aberglauben einer verrückten Alten und hielten sich lieber an ihren viel handfesteren Amuletten aus Blitzeisen fest.

In solchen Nächten trafen sich alle Dorfbewohner im Hause des alten Coldar. Er galt als der weiseste Mann in ganz Dreieich, möglicherweise sogar in ganz Nauthia und verfügte, nach Art der Leute aus der Ebene, über ein großzügig bemessenes, einer Empfangshalle fast gleichkommendes Kaminzimmer. Überall an den Wänden dieses Raumes standen Regale, voll bepackt mit dicken Büchern. Das machte in einem Dorf wie Dreieich, dessen Bewohner nicht einmal zu einem Zehntel überhaupt nur ihren eigenen Namen lesen, geschweige denn ihn schreiben, konnte, gewaltig Eindruck. Coldar begrüßte und bewirtete seine Mitbürger in den stets mit freundlichem Lächeln und strahlte gemeinhin einen Gleichmut aus, der die durch die Feenstürme verunsicherten Dorfbewohnern sofort beruhigte. Darüber hinaus stand einige Schritte neben seinem Haus eine hohe Tanne, von deren Wirkung als Blitzableiter der Alte felsenfest überzeugt war.
Coldars Haus stand an einem kleinen Pfad, der den Hang aufwärts in die Richtung des Waldes führte. Den weitesten Weg dahin hatte Bardur mit seiner Familie, denn seine Werkstatt und auch sein Wohnhaus standen etwas außerhalb des Dorfes direkt an dem schmalen Bach, der auch hier in den Bergen schon Taron hieß und somit den gleichen Namen trug wie jener breite Strom in den Ebenen, zu dem er nach vielen hundert Meilen anwuchs.
Es waren bereits fast alle Dorfbewohner versammelt, als es an der Tür klopfte. Coldar öffnete und herein traten Lona, die Frau des Schmiedes, im Arm Jost, ihr wenige Wochen alter Säugling, und an der Hand der zweijährige Elgo, ihr älterer Sohn. Ihr folgte Bardur, der sich mit aufmerksamen Blick umsah und eine Schaufel abwehrbereit mit dem Blatt nach oben in den Händen hielt.
„Damit wirst du einem Gewittersturm kaum etwas anhaben können“, sagte Coldar lächelnd und deutete auf das Gartengerät.
Dann sah er in das Gesicht des kräftigen Schmiedes. Sein Lächeln erstarb. Bardur war so bleich wie eine frisch gekalkte Wand, er wirkte nervös, die Hände hielten den Stiel der Schaufel so fest umklammert, dass sie zitterten, die Muskeln seiner Kiefer arbeiteten unablässig.
Coldar schloss die Tür und begleitete Bardur zu der breiten Bank am Kamin. Jetzt bemerkte er auch, das Lona nicht minder blass und aufgeregt zu sein schien.
„Kalinda“, rief er, an seine Haushälterin gewandt, „bring zwei Becher Würzwein für Bardur und Lona. Ach ja, und fülle meinen bitte auch nach.“
Bardur saß nun auf der Bank, hielt aber nach wie vor die Schaufel wie eine Hiebwaffe in den Händen und in dem angestrengten Ausdruck seines Gesichtes glaubte Coldar lesen zu können, dass der Schmied nach irgendetwas zu lauschen schien.
„Was ist denn mit dir?“, fragte Coldar, „hat der Blitz irgendwo eingeschlagen?“
Bardur reagierte nicht auf die Ansprache. Nach wie vor hielt er den Kopf erhoben, starrte gleichzeitig auf die geschlossene Tür, als erwartete er jeden Moment, dass sich dort irgendetwas unsagbar Schreckliches Zutritt verschaffen wollte.
Der Schmied war ein Berg von einem Mann, mit Muskeln, die aussahen, als seien auch sie durch das alltägliche Hämmern so gehärtet worden wie seine berühmten Werkstücke. Es gab niemanden um Umkreis von fünf Dörfern, der es an Kraft und Zähigkeit mit ihm aufnehmen konnte. Umso besorgniserregender erschien Coldar nun dessen offensichtlich verängstigter Gemütszustand.
„Da ist etwas“, antwortete an seiner Statt Lona mit zögernder Stimme, „da draußen. Am Bach.“
Nun war auch Malfalda an die Neuankömmlinge herangetreten.
„Was ist da draußen?“, fragte sie.
„Ich weiß es nicht. Wir entdeckten sie, als wir unser Haus verließen, um hierher zu kommen. Sie liefen jenseits des Baches entlang. Fremde Wesen. Fürchterliche Geschöpfe!“
Ein Blitz zuckte. Einen Augenblick lang waren alle in dem Raum in weißes Licht getaucht. Einige der Kinder schrieen auf. Der kleine Jost im Arm von Lona begann leise zu weinen.
„Feenvolk!“, rief nun Bardur plötzlich aus und starrte in die Runde, als sei er soeben als einem Albtraum erwacht, „das war es! Nichts anderes! Hässliche Kreaturen, dunkel, schuppig, überall mit dornenartige Auswüchsen und riesigen Mäulern, aus denen lange spitze Zähne wuchsen, die im Licht der Blitze leuchteten wie geschliffene Diamanten. Und auf dem Rücken hatten sie gewaltige schwarze Flügel, als wären sie riesige Krähen.“
„Es waren ja vielleicht Tiere. Hierher verirren sich doch manchmal seltsame Geschöpfe aus der Welt jenseits der Markberge. Fliegende Eidechsen zum Beispiel oder Paradiesvögel“, warf Coldar ein.
„Keine Tiere“, sagte Bardur bestimmt, „sie gingen auf zwei Beinen und hatten zwei Arme, die in langen Klauen endeten.“
„Nun, ich habe auf meinen Reisen schon so manches seltsame Tier gesehen. Einige davon hatten ebenfalls Arme und Beine ...“
„Es waren keine Tiere!“, unterbrach Bardur heftig die Ausführungen des Weisen, „Tiere können nicht reden!“
„Heißt das ...?“
„Ja! Sie sprachen zu uns!“
Ein Raunen ging durch die versammelte Dorfgemeinschaft.
„Und was sagten sie?“, fragte Malfalda.
„Ihre Stimmen waren furchtbar! Es war mehr ein Zischen. Es klang für mich so, als wollten Schlangen versuchen, mit ihren gespaltenen Zungen die Worte der Menschen nachzubilden.“
„Lasst uns hinein“, sagte Lona im Flüsterton.
„Was?“, rief Coldar.
„Das war es, was sie gesagt haben: Lasst uns hinein!“
„Wo hinein?“, fragte der Weise, „was meinten die Wesen damit? Wollten sie etwa in euer Haus?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete Bardur, „und ich habe sie auch nicht gefragt. Ich habe meine Familie genommen und bin auf direktem Wege hierher gelaufen.“
„Und sind sie euch gefolgt?“
„Ich habe mich einige Male umgesehen. Mir ist nichts aufgefallen. Aber es ist dunkel dort draußen und diese Kreaturen besaßen immerhin Flügel. Sie könnten überall sein. Direkt vor der Tür. Rund um dieses Haus herum. Sogar auf dem Dach.“
Im ganzen Raum bewegten sich nun Köpfe, starrten auf die im Sturmwind knarrenden Fensterläden oder blickten an die niedrige Decke des Zimmers, als könne man durch sie hindurch erkennen, was sich auf dem Dach befand.
„Ihr habt diesen Wesen also keine Antwort gegeben?“, fragte Malfalda nach.
„Nein! Natürlich nicht!“
„Na, dann ist ja gut“, murmelte sie.
Coldar starrte die Alte an.
„Was meinst du damit?“
Wenn Malfalda überhaupt vorgehabt hatte, diese Frage zu beantworten, so kam sie nicht dazu. Denn im selben Augenblick ertönte ein besonders heftiger Donnerschlag, laut krachend und dann mit einem ärgerlich klingenden Rumpeln ausklingend, ganz so, als wolle auch Donezil, der Donnergott persönlich, seinen Kommentar zu den Geschehnissen abgeben.
In der darauf folgenden Stille ertönte – von irgendwo außerhalb des Hauses – ein völlig anderes, sehr merkwürdiges Geräusch, dass alle Anwesenden gleichzeitig zusammenzucken ließ. Es war ein hohes, fast schrilles Wehklagen, das nach einigen Augenblicken wieder erstarb.
„Was war das?“, rief eine ängstliche Stimme aus dem Hintergrund. Es war die von Kerista, einer jungen Bauersfrau.
Dann erklang es erneut.
„Das war ein Schrei“, stellte Coldar fest, „der Schrei eines ...“
„Eines dämonischen Feenwesens!“, ergänzte Bardur grimmig und hob die Schaufel ein wenig in die Höhe.
„Nun, es könnte auch etwas ganz anderes sein“, es war Valdana, die sich nun erstmals zu Wort meldete, „mich erinnert es eher an das Geschrei von Katzen.“
Wieder das Klagen.
„Nein“, warf nun Malfalda ein, „das ist keine Fee, kein Tier, kein wie auch immer geartetes Dämonenwesen.“
Sie machte eine Pause, lauschte kurz.
„Das ist“, fuhr sie fort, „das Weinen eines Kindes.“
Nun war es deutlich zu hören. Irgendwo dort draußen, hinter der fest verschlossenen Haustür, inmitten dieser stürmischen Nacht befand sich ein Kind, ein Säugling, und weinte.
„Aber“, rief Coldar aus, „es sind doch alle hier! Wie kann da ein Kind sein?“
„Wir müssen nachsehen“, sagte Malfalda mit ruhiger Stimme.
„Und wenn das eine Feenlist ist?“, warf Mago ein. Er war der Ehemann von Kerista, ein fleißiger Bauer und angesehener Bierbrauer, „wenn das diese Wesen sind, die Bardur am Bach gesehen hat? Wenn sie uns nur nach draußen locken wollen mit diesen Rufen? Um uns dann einen nach den anderen ...“
„Ach, Unsinn!“, rief Malfalda dazwischen und ging zur Tür. Sie öffnete sie. Eine Windbö strömte in die Stube, abgerissenes Laub wurde hinein geweht und das still prasselnde Feuer im Kamin zu einer hohen Flamme angefacht. Vorsichtig lugten die Dorfbewohner durch die offene Tür nach draußen, befürchteten, dort eines dieser grässlichen Wesen entdecken zu können, eine Kreatur, die aus keinem anderen Grund auftauchen würde, als sie alle zu töten und anschließend zu fressen. Aber es war nichts zu sehen als die Silhouette des nahen Waldes, die von fernem Wetterleuchten in den Himmel gezeichnet wurde.
Malfalda trat ins Freie. Valdana folgte ihr und nach einem kurzen Zögern trat auch Coldar durch die Tür, nahm die Laterne, die an Abenden wie diesen, an einem Haken hängend, den Eingang seines Hauses beleuchtete, in die Hand und stapfte den Frauen hinterher. Und bevor die Tür wieder ins Schloss fiel, schlüpfte auch Bardur hindurch, die Schaufel immer noch in seinen Fäusten hielt, als sei es eine mächtige Streitaxt.
Das Gewitter war inzwischen einige Meilen weiter gezogen, jagte in die Richtung der Ebenen, wo sich diese Art von Unwetter für gewöhnlich sehr plötzlich auflösten. Überall lagen von den böigen Winden herabgeschlagene Äste, ebenso einige in der Eile nicht ausreichend gesicherte Gegenstände wie Eimer, Stöcke oder Kleidungsstücke, auf dem Boden, die Luft war klar, rein und hinterließ nur einen Hauch diesen leicht süßlichen Duftes von Kräutern und Blumen, wie er von dieser Art von Wetterphänomenen schon immer aus der Welt von jenseits der Markberge nach Nauthia getragen wurde.
Sie lauschten in die Nacht hinein. Ein leises, schon leicht entmutigt klingendes Wimmern war zu hören.
„Es kommt vom Dorfplatz“, sagte Valdana.
Die Vier marschierten los. Vor allem der Schmied sah sich dabei aufmerksam um, die Gruppe nicht nur nach allen vier Himmelsrichtungen, sondern auch nach oben hin absichernd. Doch nirgends war auch nur eine Spur dieser Schreckenswesen, wie sie ihm am Bach begegnet waren, zu erkennen.
Alles schien zu sein wie immer – mit Ausnahme des leisen Weinens eines unbekannten Kindes.
Die Mitte des Dorfplatzes wurde beherrscht von jenen Eichen, welche dem Ort seinen Namen gaben. Diese bildeten ein Dreieck, standen dabei so eng beieinander, dass man glauben mochte, ihre Kronen seien miteinander verwachsen. Der Platz darunter war von Wurzelgeflechten durchzogen und lag in dem ständigen Schatten der Äste und Zweige, die wie die schlafenden Schlangen in einer Grube scheinbar unentwirrbar ineinander verschlungen waren. Er galt vielen erwachsenen Dorfbewohnern als ein geheimnisvoller, ja, mystischer Ort, während er für die Kinder zumeist den idealen Platz für ihr Versteckspiel bot.
Das Wimmern des Kindes schien genau aus der in ständiger Düsternis liegenden Mitte jenes Dreiecks zu erklingen.
„Geh du voran“, sagte Malfalda zu Coldar.
„Warum ich?“, gab dieser zurück.
„Nun, du hast die Laterne.“
Coldar, der Weise, war ein Mann, der viel gesehen hat in der Welt. Seine Reisen hatten ihn in die von wilden Löwen wimmelnden Gegenden der südlichen Steppen geführt, er war über die von Eis überzogenen Pässe der gewaltigen Drachenzahnberge gewandert und hat die unergründlichen Fiebersümpfe des Deltas der zwei Ströme durchquert. Er war einigen, oft unbekannten und häufig auch überaus tödlichen Gefahren begegnet und hatte gelernt, dass es verschiedene Möglichkeiten gab, diesen zu entrinnen. Eine davon war, dafür zu sorgen, dass man nicht derjenige war, der vorneweg ging, wenn es darum ging, dunkle, von fragwürdigen Kreaturen bevölkerte, Orte zu erkunden.
Coldar zögerte.
„Was ist, wenn Mago Recht hat? Dieses Weinen könnte der Schrei einer der Kreaturen sein.“
Malfalda trat zu dem Weisen hin. Sie sah in an. Ihre Augen waren, trotz ihres Alters, immer noch so klar und ihr Blick so scharf wie der jener jungen Frau, in die sich Coldar einstmals, vor vielen Jahrzehnten, verliebt hatte.
„Ihr Männer von Dreieich!“, zischte sie ihn an, „ihr seid doch alle Feiglinge!“
Sie riss dem verdutzten Weisen die Laterne aus der Hand und marschierte, ohne sich umzusehen, in jene dunkle Höhle aus Ästen und Wurzeln hinein.
Es war dann doch Coldar, der ihr als erstes folgte. Im Grunde hatte er keine Probleme damit, wenn jemand seinen Mut anzweifelte, schließlich nannte man ihn Coldar, den Weisen und nicht etwa Coldar, den Tapferen oder Coldar, den Todesverächter, aber solche Worte gerade von Malfalda zu hören, das kränkte ihn dann doch.
Die anderen schlossen sich ihm an.
Nach nur wenigen Schritten erkannten sie etwas Rundes, Unförmiges, das auf dem Boden stand. Es glich einem normalen Vogelnest, hatte indes eine Größe, die eher den Jungen eines Greifen angemessen zu sein schien als beispielsweise dem Nachwuchs einer Meise.
„Vielleicht ist dies das Nest einer dieser furchtbaren Feenkreaturen?“, flüsterte Bardur.
„Wieso sollten diese in einem Vogelnest hausen“, erwiderte Malfalda.
„Nun, immerhin haben sie Flügel.“
Doch als Malfalda, die sich auch von den Bedenken des Schmieds nicht davon abbringen ließ, unvermindert auf dieses Gebilde zuzugehen, sich ihm mit der Laterne näherte, waren alle überrascht von der Art dieses Nestes.
Leuchtende Farben spiegelten das fahle Licht der Öllampe wieder, so strahlend, als würde sich im Nest selbst ein kleines Stück der Sonne befinden. Diese Buntheit war so beeindruckend, dass Malfalda augenblicklich stehenblieb, sodass die anderen beinahe in sie hinein gelaufen wären. Sie starrten nun alle auf diese Unzahl an Farben, auf Dutzende von Schattierungen von Rot, auf das helle Blau eines sprudelnden Bergbaches und das dunkle Grün eines den Sommerhimmel widerspiegelnden Waldsees, dazwischen leuchtete das kräftige Gelb der Sonne und das blasse Weiß der Sterne in der Nacht, es gab Schwarz und Rosa, es gab Magenta und Türkis, Oliv und Violett, es gab Farben, die aussahen wie eine Mischung aller anderen und neue, unbekannte, denen noch nie ein Menschen je einen Namen gegeben hatte.
Dieses Nest – das wurde nun allen nach dem ersten Augenblick der Überraschung klar - bestand aus nichts anderem als aus frischen, schillernden Blumen, wie sie kein Mensch in Nauthia jemals gesehen hat.
Es war ganz außerordentlich, selbst der vielgereiste Coldar hatte so eine Farbenpracht noch nie gesehen. Sogar die Gärten der Königin von Kostyra im Frühling erschienen ihm nun so blass und farblos wie die Steinwüste von Carabar zehn Jahre nach der letzten Regenzeit.
Inmitten dieses Meeres von Farben, dieses Nestes aus Blüten und Blumen aber lag ein Kind, kaum ein paar Wochen alt, eingewickelt in einem seidigen, silbern schimmernden Stoff.
Es sah aus wie jeder Säugling aussah in Dreieich, hatte keine Schuppen oder Flügel, auch keine spitzen, diamantenen Zähne. Es besaß, wie es für ein Kind in diesem Alter normal war, überhaupt keine Zähne, seine Haut war zart und rosa und die kleinen Ärmchen endeten nicht in Krallen, sondern in zu Fäusten geballten Händen mit winzigen Fingern.
Seine dunklen Augen waren geöffnet und es blickte mit ruhigem Gesicht auf die verschlungenen Äste über sich.
„Das ist ... ein Kind“, stellte Bardur fest.
„Was soll es sonst sein?“, fuhr ihn Malfalda an.
Valdana trat an das Nest heran und hob das Kind heraus. Dieses betrachtete die Frau mit einem neugierigen Blick.
„Es ist ein Mädchen“, stellte sie nach einer kurzen Untersuchung fest.
„Was machen wir mit ihr?“, fragte Bardur, „dieses Kind stammt zweifellos von jenseits der Markberge. Und es waren vermutlich diese geflügelten Kreaturen, die es hierher gebracht haben. Wir müssen es wegbringen, um unser Dorf und unsere Familien zu schützen. Irgendwo aussetzen, wo es die Wölfe finden.“
Malfalda sah den Dorfschmied mit scharfem Blick an.
„Aussetzen? Den Wölfen zum Fraß vorwerfen? Wer bist du, Schmied, dass du hier so freimütig über Leben und Tod entscheidest?“
„Du hast diese Kreaturen nicht gesehen!“, erwiderte Bardur lautstark, „ich habe es! Und glaubt mir, ich habe in diesem Augenblick gespürt, zu welcher Grausamkeit diese schauerlichen Wesen in der Lage sein können!“
„Sie haben dir nichts getan, oder?“
„Ja. Dieses Mal nicht.“
„Ich denke, Bardur hat nicht ganz unrecht“, wandte Coldar ein. „in einer einzigen stürmischen Nacht tauchen diese Geschöpfe auf und dieses Kind. Nicht zu vergessen dieses merkwürdige Nest aus fremdartigen Blumen. Dies alles kann doch nur aus dem Feenland stammen. Und wir wissen alle, was für hinterhältige und erbarmungslose Wesen dort hausen.“
Malfalda wandte den Blick von Bardur ab und sah den Weisen an.
„Hört mich an“, sagte sie nach einem kurzen Moment des Überlegens mit ruhiger Stimme, „ich glaube nicht, dass es diese Kreaturen waren, die das Mädchen hier ins Dorf gebracht haben. Sie waren denjenigen, die dieses Kind bei sich hatten, sicherlich auf der Fährte. Und sie waren diesen sicher nicht freundlich gesinnt. Irgendjemand hat dieses Mädchen zu uns gebracht. Und zwar sicherlich nicht zu dem Zweck, dass wir es töten, sondern weil dieser Jemand von uns den Schutz erhoffe, den er diesem Kind wohl selbst nicht mehr geben konnte.“
„Aber wie sollen ausgerechnet wir hier in Dreeieich es schützen können?“, warf Bardur ein.
Malfalda bedachte den kräftigen Schmied mit einem spöttischen Lächeln.
„Dass dieses Dorf mit heldenmütigen, tapferen Männer nicht gerade gesegnet ist, ist mir natürlich wohlbekannt. Aber dennoch getrauten sich diese Wesen ja offensichtlich nicht, den Taron und somit die Grenze des Dorfes zu überschreiten. Was glaubst du, warum sie dich und deine Frau um Einlass gebeten haben?“
Bardur sagte nichts.
„Sie können Dreieich nicht betreten. Nur wenn jemand so verrückt sein sollte und ihnen eine Einladung aussprechen würde, können sie die Grenzen überwinden. Der Taron im Süden, der Wald im Westen und im Norden, der Bach Elfenspring und die Findlinge im Osten, das sind die Landmarken. Keine Fee oder auch nur eines ihrer eigenen Geschöpfe können diese überqueren. Das war schon immer so und ihr alle wisst es. Und deswegen ist dieses Kind auch ein ganz normales menschliches Wesen wie du und ich.“
„Aber was soll all diese Wesen davon abhalten? Warum können sie die Dorfgrenzen nicht überschreiten?“, fragte Coldar.
„Man nennt dich Coldar, den Weisen“, antwortete Malfalda knapp, „finde es heraus! Sieh in deinen Bücher nach!“
Es war allgemein bekannt, dass die Alte nicht lesen konnte und auch nicht sehr viel von dieser in ihren Augen überflüssigen und nutzlosen Kunst hielt.
„Einstweilen“, fuhr sie fort, „werden wir – meine Tochter und ich - uns um das Kind kümmern.“
Sie verließen die Düsternis der drei Eichen. Während Valdana, mit dem Mädchen im Arm und begleitet von Bardur und Coldar, zum Haus des Weisen zurückkehrte, brachte Malfalda das Nest in jene kleine Hütte am Waldrand, die sie in den Sommermonaten bewohnte.
Nie bekam auch nur irgendjemand anderer der Dorfbewohner als diese Vier jene merkwürdigen Blüten zu Gesicht.
Dennoch war die Geschichte ihres plötzlichen Auftauchens in Dreieich so wunderlich, dass sich alle noch lange an die Erzählungen von Valdana, Coldar und Bardur erinnerten, welche berichtet hatten, dass Tara in einem Nest aus bunten Blumen gefunden wurde und man nannte sie deswegen überall nur Tara Blumentochter.
 

Rikyu

Mitglied
Nachdem ich mich leider vergeblich bemüht habe, den "Feenkrieg" in einem Sammelklappentext zu veröffentlichen...
Als Klappentext ist auch nicht das gesamte Kapitel zu verstehen, sondern eine Art Übersicht/Zusammenfassung der groben Handlungsrichtung/-einschätzung.
Der eigentliche Text kommt dann als eigenständiger Beitrag zum Klappentext.
Dies ist eigentlich ganz gut hier und hier beschrieben .
Vielleicht hilft dir das weiter.
 



 
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