Der Feenkrieg 4

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agilo

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Tara saß nun in dem Bastsattel und hielt sich an der Mähne des Drachen fest. Sie hatte sich ihren alten wollenen Umhang, den sie sonst nur als Sitzunterlage für das nasse Gras der Weide gebrauchte, übergeworfen und mit ein paar Spangen festgemacht. Leutnant Funkenhuf hatte ihr erklärt, dass es hoch oben in der Luft oft sehr kalt sein konnte.
Sie fragte sich immer noch, ob sie das Richtige tat. Nun, genau genommen war sie sich sogar fast sicher, dass es eigentlich unmöglich das Richtige sein konnte, auf dem Rücken eines jugendlichen Drachens und in Begleitung des merkwürdigsten Bestiariums, das man sich überhaupt nur vorstellen konnte, durch die Luft in das Feenland zu reisen. Und das, ohne die Gelegenheit gehabt zu haben, es zuvor mit jemanden wie zum Beispiel ihrer weisen Großmutter zu besprechen.
Aber andererseits es war es ja gerade Malfalda, die ihr immer geraten hatte, im Zweifelsfalle immer auf ihr Herz zu hören.
Obwohl ... eigentlich war das ein blöder Ratschlag, denn gerade ihr Herz pochte nun so laut und schnell, dass Tara fast das Gefühl hatte, es könnte ihr im nächsten Augenblick aus der Brust springen. Würde sie darauf hören, müsste sie sich jetzt vermutlich in irgendein Erdloch verkriechen und darauf warten, dass sich ihr Puls wieder normalisierte.
Aber wenn sie in sich hineinhörte – und ihren Herzschlag dabei außer acht ließ - dann wurde ihr klar, dass ihr Entschluss fest stand. Sie wollte ins Feenland reisen, sie wollte auf einem Drachen fliegen und wenn sie denn eine Heldin sein sollte, dann würde sie eben auch das auf sich nehmen. Aber sie wollte vor allem endlich ihre richtigen Eltern kennen lernen! Sie wusste nicht so recht, warum, denn so richtig vermisst hatte sie sie nie, Valdana war ihr eine liebevolle Mutter gewesen, Malfalda eine Großmutter und in Coldar hatte sie immer so etwas wie einen Großvater gesehen. Aber gleichzeitig hatte sie die ganzen Jahre immer mit diesem Gefühl gelebt, dass das Schicksal etwas ganz Besonderes mit ihr vorhatte und nun hatte sie die Gelegenheit, hinter ihre Herkunft und somit ihrer Bestimmung zu kommen. Außerdem würde sie außer den drei Genannten und vielleicht noch Jost kaum jemand im Dorf wirklich vermissen. Sie war eben immer jenes Findelkind gewesen, dass einst in einer Nacht voller seltsamer Erscheinungen und schrecklicher Vorzeichen im Dorf aufgetaucht war und deswegen für die Dorfbewohner immer etwas Fremdartiges, Geheimnisvolles, möglicherweise sogar Bedrohliches hatte. Einige – wie zum Beispiel Josts Vater oder der Bierbrauer – würden ihr Verschwinden möglicherweise sogar als Erleichterung empfinden und es als Anlass nehmen, um mit einem Krug voll von Magos trüben Gebräu fröhlich miteinander anzustoßen.

Die meisten Mitglieder der Geflügelten Schwadron standen nun in einer Reihe hinter ihrem Leutnant. Die Ausnahmen bildeten die fliegenden Fische, die weiter unentwegt um die anderen herumschwirrten und jenes Huhn mit dem Frauenkopf. Dieses war Tara als Obergefreite Flügelwind vorgestellt worden. Sie war eine Harpyie, aber entgegen sowohl der landläufigen Meinung der Nauthianer, als auch den wenig vorteilhaften Darstellungen dieser Geschöpfe in den Büchern Coldars, war sie weder von hässlichem Antlitz noch wirkte sie irgendwie bösartig und hinterlistig. Auf Tara machte sie im Gegenteil den Eindruck, eine ausnehmend freundliche und zuvorkommende Wesenheit zu sein. Die Obergefreite hatte den Auftrag, noch so lange auf die Ziegen acht zu geben, bis die Dorfbewohner bemerkten, dass die eigentliche Hirtin verschwunden war.
Tara hatte zwar ihre Zweifel geäußert darüber, dass so etwas wie ein Huhn in der Lage sein könnte, ihre Tiere zu hüten, aber als dann die Obergefreite Flügelwind das Lamm Herta mit ein paar heftigen Flügelschlägen dazu gebracht hatte, wieder zu der Herde zurückzukehren, war sie doch etwas beruhigter.
„Also ... alles bereit zum Abflug!?“, rief Leutnant Funkhuf.
„Jawohl!“, antwortete Gefreite Tarasque, während die anderen Mitglieder der Geflügelten Schwadron ihre Bereitschaft mit den entsprechenden Tierlauten kundtaten, was bedeutete, dass sowohl die goldene Gans als auch der geflügelte Affe militärisch knapp schnatterten, die Kraniche mit ihren Eisenschnäbeln dagegen Geräusche machten, die Tara an den halb eingerosteten Pumpenschwengel des Dorfbrunnens erinnerten. Direkt neben Tara erklang ein einfaches Zwitschern. Als sie in die entsprechende Richtung blickte, entdeckte sie einen kleinen, braunen, eigentlich recht unscheinbaren Vogel, der offenbar ebenfalls Mitglied dieser Einheit war. Er hielt sich mit schnellen Flügelschlägen in der Luft, drehte seinen Kopf und erwiderte Taras Blick. Dann geschah etwas, bei dem sich Tara noch lange danach fragte, ob sie es tatsächlich so gesehen hatte oder ob das Ganze nur eine Täuschung ihres in diesem Augenblick etwas überdrehten Geistes war. Der kleine Vogel blinzelte Tara zu! Er schloss eines seiner kleinen Knopfaugen für einen winzigen Augenblick und schien dazu noch zu lächeln, was einem Wesen, dass ja keinen wie auch immer gearteten Mund, sondern einen harten Schnabel besaß, ja im Grunde überhaupt nicht möglich war. Tara hatte aber kaum die Gelegenheit, sich allzu viel Gedanken über ihre Beobachtungen zu machen.
Denn es ging los!
Sie hatte ja schon oft Gelegenheit, zu beobachten, wie große Vögel vom Boden abhoben, beispielsweise Habichte oder Raben. Entsprechend hatte sie einen ähnlichen, eher gemächlichen Start erwartet.
Aber Tarasque tat ihr nicht den Gefallen! Die Drachin gab sich überhaupt nicht erst damit ab, mit ihren winzigen Flügeln zu schlagen und sprang einfach direkt in den Himmel!
Danach setzte sie den Flug in einer Art Wellenbewegung ihres schlangenartigen Körpers fort. Es war für Tara nicht gerade einfach, sich dabei sicher im Sattel zu halten. Sie tat zunächst nichts anderes, als sich so fest in die Mähne des Wesens zu krallen, dass ihr die Finger zu schmerzen begannen, wobei sie die Augen geschlossen hielt und ein paar von Malfaldas Zauberformeln an die Naturgeister der Lüfte vor sich hin murmelte, wobei sie diesen – nur zur Sicherheit – noch ein Gebet an Donezil folgen ließ, auch wenn sie im Grunde nicht an den Donnergott glaubte.
Doch dann hörte sie ein leises Zwitschern direkt neben ihrem rechten Ohr. Zunächst leise nur, kaum hörbar im Rauschen des Windes hier hoch oben in der Luft. Doch sie erkannte deutlich den Gesang jenes kleinen, braunen Vogels, vernahm seine Melodie, spürte, wie jeder einzelne dieser fröhlichen, munteren Töne in ihr selbst nachklang und zu ihrer eigenen Verwunderung wurde ihr bewusst, dass sie dieses Lied überhaupt nicht mit den Ohren hörte. Es war, als würde sich diese Melodie ihren Weg, aus dem Schnabel des Vogels kommend, direkt zu ihrem Herzen suchen.
Und sie fühlte sich mit einem mal mutiger, selbstbewusster, ganz so, als hätte sie dieses Vogelgezwitscher für einen Moment von all ihren Ängsten befreit.
Sie öffnete die Augen. Und war erstaunt darüber, in welche Höhe sie die Drachin mit ihren schlangenartigen Bewegungen bereits getragen hat. Alles, was sie bisher gekannt hatte, die sanften Hügel von Nauthia, die dichten Wäldern im Norden von Dreieich, die Häuser und Hütten, die Weiden und Felder, die wie ein silbernes Band glänzenden Windungen des jungen Taron befanden sich nun direkt unter ihr und je weiter sie sich davon entfernte, desto unglaublicher kam es ihr vor, dass sich ihr ganzes bisheriges Leben und Erleben nur auf diese so kleine Welt beschränkt hatte.
Offensichtlich hatten sie nun einen Bereich erreicht, in dem die Bedingungen, was Luftströmungen, Aufwinde und was sonst noch so von Bedeutung war für den Drachenflug, besonders günstig zu sein schienen, denn die Gefreite Tarasque und ihre Passagierin flogen nun ohne weitere Wellenbewegungen direkt auf die Markberge zu. Erst jetzt wurde Tara klar, wie hoch dieses Gebirge tatsächlich war. Von Dreieich aus hatte sie immer nur jene von dichten Wäldern bestandenen Vorberge erkennen können, die ihr eigentlich schon überaus gewaltig erschienen waren. Doch nun, aus einer jetzt schon für sie kaum vorstellbaren Höhe, konnte sie erstmals dem Hauptkamm der Markberge sehen, eine Reihe von grauen, in den oberen Bereichen von Eis und Schnee bedeckten Felsen, deren steil aufragende, von Nebel umwucherten Gipfel direkt in den Himmel hinein zu wachsen schienen.
Und es war eindeutig, dass sie sicher noch erheblich weiter in die Höhe steigen mussten, um dieses Gebirge zu überwinden.
Aber dies machte Tara merkwürdigerweise keine Angst. Ganz im Gegenteil, sie genoss den Flug mittlerweile sogar, fand es unheimlich amüsant, nach unten zu blicken und zu sehen, zu welcher Größe das Land Nauthia inzwischen geschrumpft war. Fliegen, das wusste sie nun, würde fortan eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen sein.
Sie jauchzte.
Gefreite Tarasque drehte überrascht ihren massigen Kopf zu dem Mädchen um.
„Dir scheint eß wohl Spaß ßu machen?“, fragte sie.
„Ja, mittlerweile schon. Am Anfang hatte ich allerdings ein wenig Angst.“
„Ein wenig Angst ist sicher auch nicht falsch“, warf Leutnant Funkenhuf ein, der sich – von Tara unbemerkt – mit einigen eleganten Flügelschlägen an ihre Seite gesetzt hatte, „schließlich sind Menschen nicht zum Fliegen geschaffen. Oder sind dir in den vergangenen Minuten plötzlich Flügel gewachsen?“
Einmal mehr erinnerte sie der Pegasos mit seinen Rufen zur Vernunft an Malfalda.
„Das nicht. Aber seit dieser kleine Vogel da an meiner Seite ist und so fröhlich zwitschert, habe ich das Gefühl, dass es nichts gibt, was mir etwas anhaben kann.“
„Dies ist eine ganz besondere Vogelart“, erklärte Leutnant Funkenhuf, „es gibt nur noch sehr wenige im ganzen Feenland und ich bin stolz darauf, einen von ihnen in meiner Einheit zu haben. Man nennt sie Mutvögel. Der Grund dürfte dir klar sein.“
Also war es tatsächlich der Gesang dieses kleinen Vogels, der ihr die eigentlich nachvollziehbare Angst davor, auf einem jugendlichen Drachen in einer sicherlich mindestens fünfhundert Ellen messenden Höhe durch die Luft zu fliegen, nahm.
„Du solltest dich also trotz allen Übermutes weiterhin gut an der Mähne der Gefreiten Tarasque festhalten. Denn die Flugrichtung, die ein Menschenkind wie du nimmt, wenn es aus dem Sattel fällt, ist auf jeden Fall vorgegeben.“
Tara blickte erneut direkt nach unten. Wie lange würde es wohl dauern, bis sie dort unten ankam, sollte sie den Halt verlieren? Und was dann mit ihrem Körper geschah, darüber wollte sie erst gar nicht nachdenken. Sie beugte sich nach vorne zum Kopf der Gefreiten Tarasque hin und verstärkte den Griff, mit dem sie sich in den dicken Drachenhaaren festhielt.
Dann wandte sie sich an Leutnant Funkenhuf.
„Du nennst mich ein Menschenkind. Ich aber weiß nicht, wessen Kind ich bin. Bin ich denn ein Mensch?“
Der Pegasos überlegte lange, bevor er etwas dazu sagte und auch dann war seine Antwort eher rätselhaft.
„Du hast unter den Menschen gelebt, sie als deine Brüdern und Schwestern betrachtet. Also: Wie solltest du etwas anderes sein als ein Mensch?“
„Das ist keine Antwort auf meine Frage!“, erwiderte Tara.
„Manche Fragen lassen sich nicht so einfach beantworten.“
Er streckte seine Flügel aus und näherte sich im Gleitflug noch ein wenig näher an Tara heran.
„Du wirst noch viele Antworten bekommen“, sagte er mit sanfter Stimme, „auf Fragen, die dir jetzt im Kopf herumgehen und auf Fragen, du nie gestellt hast. Antworten, welche die Welten diesseits und jenseits der Markberge betreffen und die unterschiedliche Herkunft der Wesenheiten, die diese bewohnen und natürlich auch Antworten auf jene Fragen, die dich selbst betreffen. Aber dazu ist jetzt nicht die Zeit. Wir müssen uns darauf konzentrieren, über das Gebirge zu gelangen. Das wird nicht so einfach werden, wie du vielleicht glauben magst. Denn die Grenzen werden geschützt.“
„Geschützt? Wie meinst du das?“
„Du wirst es sehen“, antwortete der Pegasos knapp.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hallo,

möchtest du nicht endlich einen klappentext verfassen und die fortsetzungen verlinken, wie es hier bei mehrteilern üblich ist? wäre schön, wenn auch du dich an die regeln hältst. die geschichte verdient es!
lg
 

agilo

Mitglied
Sie tranken schweigend ihren Tee. Das lag nicht etwa daran, dass sich die beiden nichts zu sagen gehabt hätten – in Jost drängten unzählige Fragen darauf, gestellt zu werden –, aber weder der Junge und vermutlich ebenso wenig das Wermenschenmädchen waren geübt darin, bei einer Tasse Tee höfliche Konversation zu betreiben.
Irgendwann unterbrach dann Odelia doch mit einem leisen Hüsteln die Stille.
„Du“, fragte sie, „du willst also ins Feenland? Ein ... äh ... ungewöhnliches Ansinnen. Ich habe noch nie davon gehört, dass ein Mensch den Wunsch verspürt, dort hinzugehen.“
„Es ist kein Wunsch. Ich muss es tun!“
„Du musst?“
„Ja. Ich werde da hingehen und jemanden befreien. Jemand, den sie entführt haben.“
„Aha. Ich nehme an, es ist ein Mädchen?“
„Ja. Aber das tut nichts zur Sache! Sie ist ... sie ist eine Freundin. Also nicht meine Freundin, wenn du das denkst ... das heißt, sie ist schon meine Freundin ... aber nicht so meine Freundin ...“
Er verstummte, spürte, wie sein Gesicht heiß wurde. Vermutlich leuchtete es jetzt heller als die untergehende Sonne.
„Ich verstehe, was du meinst“, gab Odelia sanft zurück.
Das war erstaunlich, denn genau genommen wusste Jost selbst nicht, was er meinte. Und wie er seine Gefühle für Tara deuten sollte.
„Und du?“, fragte er, hauptsächlich, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, „warst du schon einmal im Feenland?“
„Ich? Nein! Ich habe diesen Wald so gut wie nie verlassen.“
„Aber, du musst doch auch irgendwann einmal woanders gelebt haben. Ich meine, bevor du ... bevor du dich verändert hast.“
Sie sah ihn erstaunt an.
„Wo soll ich denn gelebt haben?“
„Ich weiß es nicht. Wie ist das überhaupt geschehen, dass du dich in einen Werwolf ...?“
„Wermensch!“
„Entschuldigung ... in einen Wermenschen verwandelt hast?“
„Wie so was eben geschieht. Ich wurde angegriffen und verletzt von einem Werwolf!“
„Von einem Werwolf? Keinem Wermenschen?“
Jost konnte seine Verwirrung kaum noch verbergen.
„Natürlich nicht“, antwortete Odelia, als wäre dies das Selbstverständlichste auf der Welt, „sonst wäre ich ja kein Wermensch.“
„Es war“, fuhr sie fort und blickte sinnierend auf den Kaminsims, „ein schöner Frühlingsabend. Ich befand mich gemeinsam mit meinen Geschwistern auf einer kleinen Lichtung. Wir tollten im Schein der untergehenden Sonne, jagten Käfer und Schmetterlinge oder machten Scheinkämpfe. Wie das nun mal in dem Alter so ist. Und als ich für einen Augenblick unachtsam war und mich ein wenig von meinen Geschwistern entfernte, geschah es! Er griff mich an! Mehrere Male biss er zu, bis ich mich schließlich, blutüberströmt und mehr tot als lebendig in eine kleine Erdhöhle flüchten konnte.“
„Wie alt warst du denn damals?“
„So fünf bis sechs Wochen, schätze ich.“
„Augenblick mal! Du willst mir weis machen, dass du als Säugling schon auf Waldlichtungen gespielt hast? Warst du denn so was wie ein Wunderkind?“
„Nicht, dass ich wüsste.“
Sie lachte laut auf.
Dann sah sie Jost einen Moment lang an.
„Ach so, ich verstehe“, sagte sie schließlich, „du hast geglaubt ...?“
Sie lachte nochmals kurz auf, diesmal klang es aber eher unsicher als amüsiert.
„Du weißt doch“, begann sie vorsichtig, „was ein Werwolf ist?“
„Ja, natürlich, in Coldars Büchern kann man eine Menge darüber lesen. Und es gibt Bilder darin. Ganz schaurige Zeichnungen von wirklich grauenvollen, hässlichen Kreaturen, die ...“
Er stockte.
„Ich ... ich wollte damit nicht sagen, dass ... dass du hässlich bist ... oder grauenvoll“, brachte er stotternd hervor, „ganz im Gegenteil! Du bist sehr ... hübsch.“
„Danke. Sehr nett von dir.“
Sie errötete.
„Aber was steht denn in den Büchern geschrieben?“
„Werwölfe sind Menschen, die sich bei Vollmond in einen Wolf oder etwas Wolfsähnlichem verwandeln. In diesem Zeitraum verlieren sie alles Menschliche, ein schrecklicher Blutrausch überkommt sie und sie müssen alles und jeden töten, was auch immer ihnen begegnet, egal ob Tier oder Mensch. Sobald aber der Mond untergeht, verwandeln sie sich wieder zurück, werden wieder zu Mann oder Frau und niemand kann erkennen, welche unheimlichen Kräfte in ihnen ruhen.“
„Weißt du auch, wie man zum Werwolf wird?“
„Es geschieht nur sehr selten, aber hin und wieder wird ein Mensch bei dem Angriff eines Werwolfes zwar schwer verletzt, überlebt diesen aber. Es heißt, wenn dieser Mensch, sei es nun Mann oder Frau, seinen Verletzungen in den nächsten vier Wochen nicht erliegt, heilen diese in der nächsten Vollmondnacht vollständig aus. Und in der Nacht darauf wird er selbst zum Werwolf.“
„Und was, denkst du, geschieht, wenn ein Werwolf ein anderes Geschöpf als einen Menschen schwer verletzt, aber nicht tötet?“
„Keine Ahnung! Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Werden die dann auch zu solchen Kreaturen? So wie Wer...schweine? Oder Werschafe?“
Er lachte.
„Nein, das nicht“, gab Odelia ruhig zurück.
Sie lachte nicht. Im Gegenteil, ihre Miene war sehr ernst.
Jost bemerkte das. Es fiel ihm trotzdem nicht leicht, ein Grinsen zu unterdrücken. Er musste gegen die sich ihm aufdrängende Vorstellung von den Hühnern aus Dreieich und wie sie auf blutrünstige Menschenjagd gingen, ankämpfen.
„Es gibt allerdings ein Tier“, fuhr Odelia unbeirrt fort, „das sich durch den Biss eines Werwolfes verwandelt. Und zwar in etwas wie mir.“
Jost wusste, dass er gedanklich nicht immer der Schnellste war.
Er konnte sich gut an die Rätselspiele erinnern, die sie als Kinder gemacht hatten. Bei „Ich steh im Gras am selben Ort, erst gelb, dann weiß, dann flieg ich fort“ oder „Weiß wie Kreide, leicht wie Flaum, weich wie Seide, feucht wie Schaum“ war er immer einer der letzten, die auf die im Grunde sehr einfachen Lösungen kamen.
Doch in diesem Augenblick machte es auch bei ihm Klick.
„Ach so ...“, sagte er, „deswegen hast du schon als Säugling Schmetterlinge gejagt! Und im Wald gespielt! Du bist nicht als Mensch geboren, sondern als Wolf!“
Er betrachtete das hübsche Mädchen in dem verblassten Kleid, das ihm gegenüber saß.
„Das bedeutet“, fuhr er fort, „du verwandelst dich bei Vollmond. Nur eben nicht von einem Menschen in einen Wolf, sondern ...“
„... von einem Wolf in einen Menschen!“, ergänzte Odelia und lächelte.
Jost starrte sie an. Nach einem Zeitraum, der schon ein wenig zu lange war, um nicht gewisse Peinlichkeitsgefühle hervorzurufen, bemerkte er, dass ihm der Mund ziemlich weit offen stand.
„Aha“, sagte er, sehr gedehnt, um eine – wenn auch schwache – Erklärung für sein Mienenspiel zu liefern, „sehr interessant. Aber ... was ich nicht verstehe: Ich habe dich in deiner Gestalt als Wolf kennen gelernt. Aber als solcher du hast mit mir ganz normal geredet und zwar eindeutig in der Sprache der Menschen.“
„Ja, das ist wirklich seltsam. Ich selbst verstehe es auch nicht so richtig. Die meiste Zeit besitze ich meine eigene, wölfische Gestalt, aber dennoch ...“
Sie zögerte, schien nachzudenken.
„Weißt du, es ist nicht nur die Sprache. Dazu gehört ja auch das Denken. Ich streiche als riesiger, gefährlicher Wolf durch die Wälder und all meine Sinne sollten eigentlich darauf ausgerichtet sein, lebende Tiere als Nahrung zu betrachten, sie zu jagen, zu töten und aufzufressen. Aber wenn ich einmal einem Reh auflauere oder auch nur einem Kaninchen und ich sehe diese Tiere und nehme ihren Geruch wahr, dann spüre ich in mir zwar diese wölfische Gier nach ihrem rohem Fleisch, aber gleichzeitig meldet sich jedesmal diese andere Stimme in mir, jene, die sagt: Gott, was sind die niedlich!
Und versuche mal, einem solchen Geschöpf dann noch die Kehle durchzubeißen!
Ich bin vermutlich der erste Wolf in der Geschichte Nauthias, der sich mit dem Gedanken trägt, zum Vegetarier zu werden.“
Vegetarier? Jost hatte das Wort schon einmal gelesen. Es ging dabei um äußerst merkwürdige Sekten, die in den Ebenen beheimatet waren. Diese Leute sollen sich selbst das Verbot auferlegt haben, Fleisch zu essen. Hat man so etwas schon mal gehört?
In den Waldsiedlungen Nauthias war die Nahrung zumeist so knapp, dass man es sich einfach nicht leisten konnte, sich solche merkwürdigen Beschränkungen aufzuerlegen. In den harten, von ständigem Hunger begleiteten Wintern scheute man bisweilen auch nicht davor zurück, Krähen zu braten oder Engerlinge aus dem harten Boden zu graben – mit ein paar getrockneten Kräutern gekocht ergaben eine erstaunlich schmackhafte Suppe.
Im allgemeinen war man ohnehin der Ansicht, dass die Menschen in den Ebenen nicht alle Hühner im Stall hatten, wie man so salopp sagte. Diese vegetarische Sekte war ein Beweis mehr für diese These.
Aber dass ausgerechnet ein Wolf einen Widerwillen gegen Fleisch entwickeln sollte, das überstieg eindeutig Josts Horizont.
„Es ist so“, fuhr Odelia – unbeirrt von Josts erstauntem Blick - fort, „als würde das menschliche Wesen in mir immer mehr wachsen und meine wölfische Natur verdrängen. Ich habe mit Malfalda darüber geredet. Sie nimmt an, es hat damit zu tun, dass Menschen immerfort damit beschäftigt sind, nachzudenken oder sich über ihre gegenwärtigen Gefühle im Klaren zu werden. Und dem Menschen, den ich nach dem Werwolfbiss in mir trage, reicht die kurze Zeit des Vollmondes einfach nicht aus für die viele Denkerei. Weswegen er sich immer mehr in mir ausgebreitet hat.“
„Deswegen diese ... diese Dinge. Ich meine das Bild da an der Wand oder diese Figuren auf dem Kamin.“
Odelia blickte zu Boden.
„Hältst du es für lächerlich?“, fragte sie schüchtern, „ich weiß, ich bin nichts anderes als ein riesiger Wolf mit Zähnen wie Dolchen, der sich bemüht, sich hübsch einzurichten mit Bildern an den Wänden und einer Blumenvase auf dem Tisch, eine Kreatur der Nacht, die manchmal davon träumt, ein Leben unter Menschen zu führen, wie sie zu singen und zu tanzen, zu schwatzen, zu lachen, sich zu verlieben ...“
Erneut durchzog eine sanfte Röte ihr Gesicht.
„Weißt du, ich beobachte euch. Ich streife gerne am Rande eurer Dörfer herum. Des Nachts wage ich mich auch gelegentlich weiter vor, nähere mich euren Häusern, blicke in die hell erleuchteten Fenster, sehe bei dem zu, was ihr so tut. Ich nehme bei dieser Gelegenheit auch so manche Dinge mit, die ihr weg werft.“
Sie deutete mit einer umfassenden Geste auf die bunt zusammen gewürfelte Einrichtung ihrer Wohnhöhle.
„Ich weiß, es wird niemals so sein, aber oft wünsche ich mir – und zwar von ganzem Herzen – für immer das zu sein, was du jetzt in dieser Vollmondnacht vor dir siehst: Ein menschliches Wesen. Nur ein einfaches Mädchen. Keine Klauen, keine Zähne, kein furchterregendes Geheule, dafür Häkeldeckchen auf dem Kopfkissen und eine einarmige Porzellanballerina auf dem Kaminsims.“
 



 
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