Der Feenkrieg 5

agilo

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Jost war schon weit in die Dunkelheit des Waldes eingetaucht, diesmal, ohne sich in heftigen Kämpfen mit jungen Fichten zu ergehen, als er bemerkte, dass er sein Messer bei Tara vergessen hatte. Es galt nun zwar nicht unbedingt als seltenes Ereignis, wenn er irgendwelche Dinge liegen ließ, seine Eltern machten schon seit seiner Kindheit ihre Witze darüber, aber auf sein Messer hatte er bisher immer gut Acht gegeben. Es war ein einfacher, aber gut gearbeiteter Dolch, das Gesellenstück seines Bruders Elgo, und Jost war überaus stolz darauf, dass dieser ausgerechnet ihm, dem Tolpatsch, dieses Messer vermacht hatte. Es gehörte zu jenen Dingen, die er eigentlich nie aus der Hand gab. Andererseits hatte Tara einen sehr würzigen Käse in ihrer Tasche gehabt und er wollte sich nur ein kleines Stück davon abschneiden. Nun ja, es war dann doch etwas zu klein, dieses Stück, weswegen er noch eine weitere, kleine Ecke abhobelte. Der folgte dann noch eine winzige Scheibe ...
Letztlich hatte nur er alleine sicherlich mehr als die Hälfte des nicht unbeträchtlichen Kantens von Valdanas leckerem Käse gegessen und aus irgendwelchen, nun kaum noch nachvollziehbaren Gründen blieb das Messer dann wohl dort im Schatten des Findlings liegen.
Er wusste, ihm blieb noch genug Zeit, um umzudrehen, zurückzulaufen, den Dolch zu holen und trotzdem noch rechtzeitig in der Schmiede zu sein, bevor das Feenfeuer ausging.
Er hastete los, umlief die Bäume im Slalom, wobei sie sich in seiner Fantasie natürlich längst wieder in grimmige Feinde verwandelt hatten, deren Angriffe es mit viel Geschick auszuweichen galt. Das ging bei Jost selbstverständlich nicht ohne den einen oder anderen Stolperer ab, einmal fiel er auch lang hin, als ihm eine unvermutete Wurzel – in Josts Augen ein giftiger, äußerst bösartiger Basilisk – in die Quere kam. Aber er erreichte doch sehr geschwind das Ende des Waldes und somit die Weide der Ziegen.
Er hielt nach Tara Ausschau, zunächst unter dem Findling, dann zwischen den Tieren der Herde, wo das Mädchen ja – vor allem, wenn es sich unbeobachtet glaubte – gerne saß und sich dabei mit der einen oder anderen der Ziegen im fröhlichen Plauderton unterhielt. Aber er konnte sie zunächst nirgends erkennen, allerdings fiel ihm auf, das sich wohl eines der Hühner aus dem Dorf hierher verirrt hatte, vermutlich Wiltrude, eine der kräftigen Legehennen des Bauern Frasnik, soweit er es aus der Entfernung erkennen konnte. Allerdings hatte er den Eindruck, dass der Kopf des Huhnes ein wenig merkwürdig aussah. Damit gab sich Jost allerdings nicht lange ab, denn er hielt Ausschau nach Tara und musste ja auch noch daran denken, nach seinem Messer zu suchen.
Es war ein Geräusch, weit weg, vielleicht sogar ein Schrei, welches ihn in diesem Augenblick nach oben blicken ließ. Jost mochte zwar ein Junge sein, der gelegentlich gegen Bäume lief oder über Wurzeln stolperte, aber entgegen der einen oder anderen Vermutung seiner Eltern hatten diese Missgeschicke nicht ihren Ursprung in seinem mangelnden Sehvermögen. Ganz im Gegenteil, seine Augen waren ausgezeichnet und in diesem Moment, als er nach dem Ursprung des Geräusches Ausschau hielt, konnte er sehr deutlich erkennen, was er da einige hundert Ellen über sich sah. Was nicht bedeutete, dass er dem traute, was ihm seine Augen mitteilten. Es schien zunächst nichts weiteres zu sein als ein harmloser Schwarm Vögel von allerdings sehr unterschiedlicher Größe. Doch ihm wurde schnell klar, dass es sich um ganz andere, auf jeden Fall deutlich ungewöhnlichere Geschöpfe handelte. Genau in der Mitte dieses Schwarmes aber befand sich so etwas wie eine Schlange mit einem merkwürdig verdickten Kopf. Und auf diesem eigenartigen Wesen saß jemand, ein eindeutig menschliches Wesen und Jost erkannte sofort, dass es sich dabei um niemand anderen handelte als Tara.
Er rief ihren Namen, doch schon im selben Augenblick wusste er, wie unsinnig dies war. Dieser merkwürdige Schwarm war viel zu weit weg, sie konnte ihn unmöglich hören.
Ihm war klar, das war eine dieser Entführungen des Feenvolkes. Viele Kinder und Jugendliche waren schon verschwunden in den Dörfern Nauthias und nie hatte man gehört, dass auch nur eines je zurückgekehrt war.
Und diese Feen bedienten sich dazu der Hilfe besonders grauenhafter Wesen. Denn dieses schlangenartige Geschöpf war nichts anderes war als ein Drache, ein – wenn auch in diesem Fall etwas klein geratenes, aber sicher nicht minder gefährliches - Exemplar der bösartigsten und heimtückischsten Kreaturen, die man sich überhaupt nur vorstellen konnte! So war es zumindest in den schweren, reichhaltig illustrierten Folianten über die Fabelwesen in Coldars Bibliothek zu lesen und Jost sah keinen Grund, an Tatsachen zu zweifeln, bei denen man sich die Mühe gemacht hatte, sie zu drucken und zwischen zwei lederüberzogenen Buchdeckeln zu binden.
Langsam verschwand diese Gruppe fliegender Wesen aus seinem Sichtfeld. So wie es aussah, hielten sie direkt auf die Markberge zu.
Das war es dann! Tara würde ins Feenland verschleppt werden und nie wieder zurückkommen. Und er hatte keine Möglichkeit, etwas dagegen zu unternehmen! Schließlich ist bisher noch niemand auf die wahnwitzige Idee gekommen, selbst in das Verbotene Land zu reisen, um jemanden, der entführt worden war, zu befreien.
Jost war mittlerweile einige Schritte auf die Findlinge zu gelaufen. Im Licht der Nachmittagssonne sah er, wie etwas am Fuße des Felsens glitzerte. Es war sein Messer, noch mit Käsekrümeln an der Schneide. Wäre es ihm nur früher eingefallen, dass er es hat liegenlassen! Er wäre rechtzeitig gekommen, um Tara gegen diese Bestien zu verteidigen. Nun, zumindest hätte er es versucht, denn bei aller Tagträumerei war Jost doch Realist genug, um zu wissen, dass er selbst gegen einen halbwüchsige Drachen vermutlich keine Chance gehabt hätte, zumal er die einzige halbwegs ernstzunehmende Waffe, die ihm zur Verfügung gestanden hätte, erst im Gras hätte suchen müssen.
Er blickte auf und sah jenes verirrte Huhn, dass er zuerst für die Legehenne Wiltrud gehalten hatte. Es stand gut zwanzig Schritte von ihm entfernt und betrachtete ihn neugierig. Aus dunklen, großen Menschenaugen! Die in dem hübschen, aber blassen Gesicht saßen, das so gar nichts von einem Huhn, aber viel von einer jungen Frau hatte.
Dies war eines dieser Schreckenswesen!
Jost hob den Dolch auf und hielt ihn schützend vor sich. Er wusste, das er damit vermutlich wenig gegen das Zauberwerk dieses chimärischen Wesens ausrichten konnte, aber er würde nicht kampflos untergehen.
Die Huhnfrau lächelte. Im Grunde wirkte sie ganz freundlich.
Jost ging einen Schritt auf sie zu.
„Wer bist du?“, fragte das fremdartige Geschöpf. Jost vernahm diese Worte, obwohl dieses Wesen seinen Mund unverändert geschlossen hielt und ihn anlächelte.
„Was habt ihr mit Tara gemacht?“, entgegnete er, ohne auf ihre Frage einzugehen, „und was für eine Art von Feengeschöpf bist du?“
„Man nennt mich Flügelwind“, antwortete das Wesen mit ruhiger Stimme, freilich weiterhin, ohne bei diesen Worten seinen Mund zu öffnen, „im Land jenseits der Markberge kennt man mich auch unter dem Namen Podarge. Ich bin eine Harpyie.“
„Ich weiß, was du bist!“, gab Jost zurück, „Ich kenne dich aus den Büchern! Du raubst Säuglinge aus den Wiegen und bringst Dürre und Hunger über die Menschen!“
Er ging einen weiteren Schritt auf die Vogelfrau zu. Er war fest entschlossen, gegen sie zu kämpfen, auch wenn sie vermutlich über furchtbare magische Fähigkeiten verfügte. In seinen Fantasien hatte er schon so manche Schlacht geschlagen, unzählige Gegner niedergerungen, darunter schwere Steintrolle mit Keulen aus reinem Diamant, ganze Horden von grünen Waldriesen, von denen ein jeder mindestens dreimal so groß war wie er selbst oder die berüchtigten tückischen Wüstenräuber, die mit der sie umgebenden Welt verschmelzen konnten, so dass sie fast unsichtbar waren. Ein Kampf mit einem Huhn war bisher allerdings nicht darunter gewesen.
Dieses lachte auf. Seine Mimik blieb dabei nach wie vor unverändert. Jost kam der Gedanke, dass dieses hübsche Gesicht möglicherweise nichts anderes war als eine Maske, hinter der sich genau jenes hässliche Wesen verbarg, dass der Junge aus den Folianten kannte, wenn er das Wort Harpyie nachschlug.
„Ein solches Bild haben die Menschen also von uns“, sagte Flügelwind, „die Berater der Könige von Kostyra und die Priester der neuen Götter haben also auch in diesem Punkt ganze Arbeit geleistet.“
Jost hatte keine Ahnung, wovon dieses Geschöpf der Hölle da redete.
„Ich habe dich gefragt, was ihr mit Tara gemacht habt!“, er schaffte es, seiner Stimme einen drohenden Unterton zu verleihen.
„Sie ist auf dem Weg in das Feenland“, gab Flügelwind zurück.
Jost war nun nur noch wenige Schritte von der Harpyie entfernt. Diese wirkte recht ruhig und entspannt – soweit er das bei solch einem Wesen überhaupt beurteilen konnte. Er fragte sich, ob sich eine Harpyie ebenso leicht einfangen ließ wie ein Huhn. Schließlich war das Jagen dieser trägen Vögel in einem an Unterhaltungsmöglichkeiten nicht gerade reichen Dorf wie Dreieich eine Beschäftigung, mit der sich ein Junge wie Jost schon des Öfteren die Zeit vertrieben hatte, und auch, wenn er dabei natürlich nie die Meisterschaft der Meisten seiner Altersgenossen hatte aufweisen können, so hatte er doch ein gewisses Geschick darin entwickelt. Und letztlich war diese Kreatur zu mindestens Dreivierteln doch nichts anderes als eine große, fettes Henne.
Er trat noch einen Schritt näher.
„Ihr habt sie entführt!“, rief er der Harpyie zu.
„Sie ist freiwillig mit uns gegangen.“
Das war eine Lüge! Tara hätte nie dieses Dorf verlassen, ihre Mutter Valdana, ihre Großmutter Malfalda – und nicht zuletzt Jost selbst - einfach so mir nichts, dir nichts im Stich gelassen, um mit ein paar geflügelten Monstern ins Feenland zu reisen.
Andererseits klangen die Worte der Harpyie aufrecht. Aber wieso sollte er diesem Wesen auch nur irgendetwas glauben? Er würde es fangen und wenn er es nur genug einschüchterte, zum Beispiel mit der Möglichkeit, es als saftigen Festtagsbraten enden zu lassen, würde er schon herausfinden, ob es die Wahrheit sprach.
Die Hühnerfrau war nur noch gut zwei Schritte von ihm entfernt. Zwei Schritte oder ein einziger, kräftiger Sprung. Er achtete darauf, dass er einen guten Stand hatte und nicht wegrutschen würde im feuchten Gras. Dann holte er ein wenig mit dem Armen aus, vermied dabei hektische Bewegungen, was beim Fangen der schreckhaften Hühner des Dorfes immer sehr wichtig war.
Dann sprang er! Noch mit beiden Beinen in der Luft, griff er mit den Armen zu.
Im gleichen Augenblick fuhr ihm ein gewaltiger Windstoß ins Gesicht, so kräftig, dass er für einen Moment seine Augen schließen musste. Als er sie gleich darauf wieder öffnete, bemerkte er zu seiner Überraschung, dass er zwar wie geplant dabei war, mit den Armen voraus auf dem Wiesenboden zu landen, aber von der Harpyie, die sich doch noch vor wenigen Augenblicken auf genau dieser Stelle befunden hatte, war nichts mehr zu sehen. Er griff ins Leere, während er gleichzeitig unsanft mit dem Kinn auf einen Stein auftraf. Jost wusste, dass er eine blutende Schürfwunde davontragen würde, aber so etwas war er gewohnt. Hühner, die sich von einem Augenblick zum anderen ins Nichts auflösen, waren dagegen etwas, das wirklich neu war für ihn. Und was war das für eine merkwürdige Windbö gewesen an diesem lauen Sommertag?
„Du bist mutig, das muss man dir lassen!“
Es war die Stimme der Harpyie. Jost, der bäuchlings im Gras lag, drehte sich um. Über ihm, nicht sehr hoch, aber doch unerreichbar, flatterte Flügelwind. Ihre Art zu Fliegen sah zwar genau so unbeholfen aus wie bei jedem anderen Huhn auch, aber im Gegensatz zu diesen konnte sie sich dennoch problemlos in der Luft halten und dabei sogar in kleinen, eleganten Schleifen über Jost hinweg ziehen.
„Wie hast du das gemacht?“, fragte er, „war das Feenzauber?“
„In einer Welt, in der Adler so groß werden können wie bei euch Kühe und in der Wölfe fast so schlau sind wie Menschen, kann es überlebenswichtig sein, wenn man in der Lage ist, schnell zu reagieren. Das hat nichts mit Zauberei zu tun.“
„Und was war das für ein Wind?“
„Ich habe dir doch gesagt, wie man mich nennt. Im Gegensatz zu euch Menschen geben wir Harpyien uns Namen, die unseren Eigenschaften entsprechen. Das würden dir auch meine Schwestern Schnellfuß, Spitzkralle und Sturmtrotz bestätigen können.“
Jost rappelte sich auf und rieb sich das Kinn. Die Hühnerfrau drehte weiter ihre Kreise.
„Wie ist dein Name?“, fragte sie.
„Wieso willst du das wissen? Damit ihr mich als nächstes holt?“
„Wir entführen niemanden!“, gab Flügelwind zurück. Erstmals klang in ihrer Stimme Ärger mit, „wir bekämpfen diejenigen, die das tun. Und wir beschützen damit auch euch, dich und die Menschen in Nauthia!“
„Ihr habt Tara entführt!“
„Ich habe es dir schon einmal gesagt: Sie ist freiwillig mit uns gegangen!“
„Das glaube ich nicht! Sie würde mich nie so einfach verl...“, er stockte.
„Wie auch immer, ich werde sie zurück holen!“
Er stand auf, klopfte sich Erde und Grashalme von seiner Kleidung.
„Heißt das, du willst in das Feenland?“
„Natürlich. Dürfte ja nicht so schwierig sein, die Markberge zu überwinden, wenn das sogar so ein fettes Huhn wie du schafft!“
Zu seiner Überraschung begann Flügelwind zu lachen.
„Du bist vielleicht nicht der Geschickteste und Kräftigste“, sagte sie, „aber du bist ohne Furcht. Und du hast zweifellos das Herz eines wahren Helden.“
Sie drehte eine weitere Runde und landete dann auf einem der Findlinge, weit genug von Jost entfernt, um ihn nicht erneut auf dumme Gedanken zu bringen.
Sie blickte den Jungen mit diesen unergründlichen Augen an. Ihr Lächeln war nun ganz verschwunden.
„Nauthia hat schon lange keine Helden mehr hervorgebracht“, sagte sie mit ernster Stimme, „und die Zeiten sind schlimm. Die Schwebende Königin braucht tapfere Krieger, so, wie es sie in den alten Tagen gab.“
Dann lachte sie wieder und ihr Mund verzog sich zu einem dünnen Lächeln.
„Aber wenn du ein nauthianischer Held sein willst, musst du etwas mehr können als Hühner fangen, zumal dir selbst das ja wohl nicht immer gelingt.“
Sie schlug mit ihren Flügeln und stieg in die Höhe. Noch einmal umkreiste sie Jost.
„Lebewohl, mein junger Freund“, sagte sie, „vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder. Auf der anderen Seite der Berge.“
Langsam gewann sie an Höhe und in erstaunlicher kurzer Zeit war sie zu einem unscheinbaren dunklen Fleck in dem makellos blauen Himmel geworden, der sich nur wenige Augenblicke später in der flimmernden Luft dieses warmen Sommertages auflöste.
 



 
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