Der Feenkrieg

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agilo

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Dies ist das erste Kapitel eines geplanten Fantasyromans. Das Ziel ist eine Geschichte, die rund hundert bis zweihundert Seiten umfassen wird. Sie basiert auf eine Kurzgeschichte, die ich einmal für eine Ausschreibung geschrieben habe und die mir dann etwas zu lang für die Vorgaben des Verlages geriet. Und wenn es zu lang für eine Kurzgeschichte ist, warum nicht gleich einen Roman daraus machen?
Über eine rege Kritik und Verbesserungsvorschläge würde ich mich sehr freuen.

Kapitel 1
Das Königreich von Kostyra war ein großes, reiches, die meiste Zeit im Frieden mit seinen ärmeren und weniger mächtigen Nachbarn lebendes Land. Seine Monarchen galten als kultiviert, was bedeutete, dass sie glanzvollen Bällen, opulenten Banketten und ihren Sammlungen von Schnupftabakdosen, zweiköpfigen Schildkröten oder farbenprächtigen Gemälden ihrer selbst zumeist mehr Interesse entgegen brachten als so gewöhnlichen Dingen wie Politik oder Krieg. Dies war natürlich ein großes Glück für die Bürger von Kostyra, denn sie konnten ohne große Belastungen ihren Lebensunterhalt verdienen, wenn sie nur hin und wieder Ausschau hielten nach Schildkröten mit Geburtsfehlern. Das Leben in diesem Land spielte sich hauptsächlich in den großen Städten an den beiden großen Flüssen Povis und Noria ab. Dort erstreckten sich die weiten und fruchtbaren Ebenen, in denen sich die in der Sommersonne goldgelb leuchtende Getreidefelder über sanfte Bodenwellen hinzogen, Obstbäume zu kleinen, süß duftenden Wäldchen gruppierten, aber auch das Vieh reichhaltige Weideplätze in den endlosen, von unzähligen Wildblumen bunt gefärbten Wiesen fand.
Im Norden des Königreichs aber, dort, wo sich die beiden Ströme, von den riesigen Markbergen kommend, als kleine, eilig dahinfließende Bäche durch die sich über steile Hügel ziehenden dunklen Nadelwälder kämpften, befand sich jener Teil des Königreichs, der schon seit Urzeiten als das Land Nauthia bekannt war.
In jenem so unwirtlichen Landstrich aber begann unsere Geschichte.

Die Menschen von Nauthia lebten zumeist in kleinen Dörfern, die von ihren wenigen Äckern, spärlichen Viehweiden und ansonsten von den ausgedehnten, schier endlosen Wäldern dieses Landes umgeben waren. Den Mittelpunkt eines solchen Dorfes bildete zumeist eine Linde, manchmal auch eine Eiche, jedenfalls immer uralte Bäume, die durchaus noch die Herrschaft der Feen in diesen Gegenden erlebt hatten. Wenn Bäume sprechen könnten, diese Dorflinden könnten sicher so einiges berichten von jenen Tagen, als das Dunkle Volk über Nauthia herrschte und Zauberei noch an der Tagesordnung war. Allerdings gab es Leute, die ihre Überzeugung kundtaten, dass diese Bäume durchaus in der Lage waren, zu reden, nur hätten die Menschen die Befähigung, sie zu verstehen, verloren – auch wenn es wiederum einige wenige Nauthianer gab, die behaupteten, mit den Bäumen durchaus kommunizieren und deren Stimmen deutlich hören zu können. Aber Leute, die Stimmen hörten, ohne dass ein anderes menschliches Wesen diese ausgesprochen hatte, gab es überall auf der Welt und die wenigsten von ihnen waren wirklich zauberkundig.
Die Leute in den Ebenen waren sich größtenteils darüber einig, dass der Menschenschlag der Nauthianer ein – freundlich ausgedrückt - sehr außergewöhnlicher war. Als normaler Kostyraner mied man die dunklen Wälder im Norden des Königreichs und begegnete ihren Bewohnern, wenn sich solche Aufeinandertreffen nicht überhaupt vermeiden ließen, mit äußerstem Misstrauen. Allgemein wurden die Nauthianer als ein Menschenschlag betrachtet, der von den segensreichen Errungenschaften der Zivilisation noch weitgehend unbeleckt war. Überhaupt bezweifelte man die nähere Verwandtschaft dieses Bergvolkes mit den in den fruchtbaren Ebenen wohnenden Menschen und nahm gemeinhin an, dass im Körper eines jedes Nauthianers wenigstens ein paar Tropfen Feenblut floss. Dies erklärte auch, dass diese Menschen ein wenig größer waren als alle anderen Kostyraner, außerdem war ihre Hautfarbe zumeist dunkler, tendierte fast ins Goldene, und viele von ihnen hatten ungewöhnlich große, dunkle Augen.
Die Nauthianer selbst gaben wenig auf solche Annahmen, denn für sie waren die Feen ebenso fremd und geheimnisvoll wie für alle anderen Menschen im ganzen Königreich. Genau genommen wurden sie sogar gefürchtet, denn das dunkle Volk galt als ausgesprochen bösartig und jeder aufrechte Nauthianer verabscheute es von tiefstem Herzen. Man sagte ihnen nach, dass sie Kinder entführten, außerdem hielt man sie ganz allgemein für jegliches schlechte Wetter, das über die Markberge zog, verantwortlich.
Das hielt die Nauthianer jedoch nicht davon ab, gelegentlich Geschäfte mit jenen wenigen echten Feen zu machen, die als ruhelose Hausierer spezieller feeischer Kenntnisse durch das Land strichen. Was sie verkauften, war zumeist einfacher Zauberkram, Glaskugeln, in denen ein schwaches blaues Feenlicht erglomm, wenn ein Gewitter im Anzug war, kaum fingergroße tönerne Homunkuli, die zu tanzen begannen, wenn man ihnen eine bestimmte Melodie vorsang oder -spielte, aromatische Kräuter für das Gemüt anregende Teegetränke oder bitter schmeckende Heilöle gegen Nesselsucht, Harten Schanker oder die unangenehmen, schmerzhaften Erscheinungen, die die Krankheit der Goldenen Adern mit sich brachte. Natürlich boten diese Feen auch unterschiedliche magische Sprüche an, um Häuser vor Feuer und Blitzeinschlag, Felder vor Hagel und Überschwemmung, Schafe vor Lippengrind und Klauenfäule, Menschen vor neidischen Verwandten und ganze Dörfer vor den Steuereintreibern des fernen Königs zu schützen.
Diese Feen waren zumeist sehr verschlossen, man erfuhr von ihnen kaum mehr als ihren Namen und selbst dieser war im Allgemeinen nauthianischen Ursprungs. Nie erzählten sie von dem Ort ihrer Herkunft, dem geheimnisvollen Feenland, das sich jenseits der für Menschen unüberwindlichen Markberge befand. Aber es war allen bekannt, dass diese Feen Ausgestoßene waren, verjagt von den Herrschern ihres Volkes als Bestrafung für unbekannte Verbrechen und zum größten Teil ihrer magischen Fähigkeiten beraubt. (der alte Coldar, ein Mann von Bildung und Erfahrung und der einzige Mensch in ganz Nauthia, der jemals das Antlitz des über das ganze Land herrschenden Königs erblickt hatte, behauptete gar, dass diese hausierenden Feen sogar vollständig ihrer Zauberkraft verlustig gegangen waren und führte als Beweis seine trotz des Kaufs und der vorgeschriebenen Anwendung eines teuren Heilöls nach wie vor vorhandenen Schmerzen hin, die ihm speziell das Sitzen zu einer wahren Qual machten).
Aber auch, wenn die Nauthianer den Fähigkeiten dieser hausierenden Feen mitunter ein – wenn auch sehr unterschiedliches – Maß an Misstrauen entgegen brachten, so dachten sie doch zumeist eher praktisch und sagten sich, dass ein fragwürdiger Zauber immer noch besser war als überhaupt keiner. Und jene kleinen Glassteine, die durch ihr Leuchten Gewitter ankündigten, funktionierten jedenfalls sehr zuverlässig, was ein Segen sein konnte, wenn man gerade Wäsche aufgehängt hatte oder im Begriff stand, die Getreideernte einzubringen.
Ein anderer Zauber, den man gerne in Anspruch nahm und für den man auch gut bezahlte, war das berühmte Feenfeuer. Man ließ es sich in den Kaminen der Bauernhäusern, vor allem aber in den Schmiedewerkstätten entzünden und sorgte dafür, dass es niemals erlosch. Nach außen hin unterschieden sich diese Feuer im Grunde kaum von jenen, die die Menschen entzündeten, aber man teilte ganz allgemein die Überzeugung, dass sie reiner waren und mehr Hitze hatten, dass die darin gebratenen Fleischstücke besonders saftig und schmackhaft und die darin geschmiedeten Waffen und Werkstücke von unvergleichlicher Qualität waren.

Bardur, der Schmied des Dorfes Dreieich, hatte ein solches Feuer in seiner Esse brennen. Während er und sein älterer, sechzehnjähriger Sohn darin die einzigartigen Messer und Hacken, Beile und Äxte, Pflüge und Spaten und überhaupt alle eisernen Gegenstände herstellten, die man für das Leben auf dem Lande brauchte, hatte sein jüngerer, vierzehnjähriger Sohn Jost einzig und allein die Aufgabe, dafür zur sorgen, dass das Feuer nie erlosch. Das war zwar eine wenig anspruchsvolle Tätigkeit, da aber Bardur nach einigen vergeblichen Versuchen, seinem Jüngsten zu einem guten Schmied zu machen, letztlich an dessen großer Ungeschicklichkeit gescheitert war, blieb nur diese Aufgabe für Jost übrig. Natürlich war der Junge nicht gerade glücklich darüber, schließlich wäre er selbst gerne ein Schmied geworden wie sein Vater, andererseits genoss er es aber auch, viel freie Zeit zu haben und stundenlang durch die Wälder und Wiesen, die sich um das Dorf herum erstreckten, streifen zu können, denn mit der Zeit wusste er ganz genau, wie lange das Feenfeuer brannte, wenn er es frisch geschürt hatte und kam nie zu spät zum Nachlegen des Holzes.
Man muss sich Jost als einen schlaksigen, für sein Alter ein wenig zu großen Jungen vorstellen, bei dem man, wenn man ihn genau beobachtete, den Eindruck gewinnen konnte, dass er sich selbst nicht ganz bewusst war, welche Länge seine Arme und Beine, überhaupt der ganze Körper im Laufe seines Wachstums angenommen hatten. Das führte dazu, dass er unentwegt irgendwo mit den Armen oder dem Kopf anstieß oder stolperte und sich die Knie aufschürfte. So etwas konnte man gerade noch hinnehmen, wenn der Betroffene irgendwo auf den Feldern und Wiesen unterwegs war, in einer Schmiede allerdings, wo überall scharfe, spitze oder auch glühend heiße Dinge herumstanden, -lagen oder -hingen, konnte eine solche Ungeschicklichkeit zu einer wahren Katastrophe führen.
Auch ansonsten wirkte alles an Jost ein wenig kantig, merkwürdig proportioniert, im Grunde irgendwie unfertig. Sein Kinn war noch von jugendlicher Weichheit, auch wenn einige Pickel auf die typischen Probleme des Heranwachsenden hinwiesen, seine Nase dagegen so schmal und lang wie die seines Vaters, sein Blick war unruhig, aber durchaus stechend, wenn er es als nötig erachtete, jemanden zu fixieren, die Brauen waren auf eine markante, männliche Weise geschwungen, während sich die Stirn darüber in einer sanften kindlichen Rundung vorwölbte. Er war schlank, fast dünn, aber alles wirkte eher weich, ganz so, als hätten es seine Muskeln versäumt, sich dem Wachstum der Knochen anzuschließen.
Aber Jost war ein Junge von unerschütterlicher Energie und Lebensfreude und selbst, wenn seine Knie ständig aufgeschürft waren und er eigentlich immer an wenigstens einem Finger eines dieser Wundpflaster aus Kräutern und Blätter trug, wie sie die alte, in Heilfragen erfahrene Malfalda auflegte, ließ er sich durch nichts davon abbringen, durch jenen kleinen Teil der Welt, der einem Dorfjungen aus Dreieich bekannt war, zu streifen.
Auch an diesem milden, sonnenüberfluteten Tag im Frühsommer war er unterwegs. Er stromerte durch den am Hang nördlich von Dreieich gelegenen Wald aus dunklen Tannen und Fichten, in der Hand einen Stock, mit dem er gelegentlich auf den einen oder anderen der Bäume einhieb. Jost träumte nämlich schon seit langem davon, eines Tages ein mutiger Krieger zu werden, ein Held im Kampf mit Ungeheuern und bösartigen Feen, ein geschickter Schwertmeister, Beschützer der Schwachen, Eroberer von ganzen Königreichen und der Herzen bezaubernder junger Prinzessinnen. Und auch, wenn die Waffe in seiner Hand nichts anderes war als ein Birkenast und die Gegner ein paar junge Tannen, die wohl kaum je für ihre grandiose Wehrhaftigkeit gerühmt wurden, so besaß Jost doch genug Fantasie, um in seiner Hand ein prächtiges, in Feenfeuer geschmiedetes Schwert und in den Bäumen ein gewaltiges Heer von grausamen Trollen zu sehen.
So durchquerte er den Wald, scheinbar ziellos von einem Baum anderen hüpfend, auf feindlich gesinnte Tannen und Fichten eindreschend und dabei mit höhnischem Lachen laute Ausrufe wie „Nimm das, schurkischer Dämon“ oder „Das ist dein Ende, Fürst des Schreckens“ von sich gebend. Dennoch führte ihn sein, wenn auch nicht sehr geradliniger, Weg sehr zielgerichtet nach Westen. Dort öffnete sich der Wald hin zu einer an einem schmalen Wildbach gelegenen Wiese. Auf dieser weideten die Ziegen des Dorfes und erfreuten sich nach einem Winter, der sich in diesem Teil des Königreiches zumeist bis weit jenseits der Frühlings-Tagundnachtgleiche hinzog, an dem frischen und saftigen Gras. Es waren allerdings nicht die Weidetiere, die Jost an diesem Tag zu dieser Wiese hinzogen, sondern deren Hüterin.
Tara war ungefähr im selben Alter wie Jost – ganz genau ließ sich das nicht sagen, da sie ein Findelkind war. Er kannte das Mädchen von Kindesbeinen an, so wie in einem Dorf wie Dreieich ohnehin jeder jeden kannte. Allerdings war das Verhältnis von Jost zu Tara schon immer ein besonderes gewesen. Das mochte daran liegen, dass beide unter den Kindern des Dorfes immer schon ein wenig die Außenseiter gewesen waren, Jost aufgrund seiner Ungeschicklichkeit, die ihn bei allen körperbetonten Spielen – und die Kinder von Dreieich kannten keine anderen – zum vorherbestimmten Verlierer machten, Tara, weil sie ein Findelkind war, also im Grunde eine Fremde, die tatsächlich einige wunderliche Eigenschaften hatte so wie jene Angewohnheit, mit Tieren zu reden. Das wäre nicht weiter bemerkenswert gewesen, wenn sie ihre Worte an einen Hund oder auch an eine Katze gerichtet hätte, wie es ja die Angewohnheit vieler anderer Kinder und auch Erwachsener war, nein, sie sprach auch zu Fröschen, Käfern oder Spinnen, richtete freundliche Worte an Fische, Eidechsen und Schmeißfliegen und vergaß nie, sich bei den Enten im Dorfteich nach deren Befinden zu erkundigen. Eine andere ihrer merkwürdigen Gepflogenheiten war jene, gelegentlich, zum Beispiel wenn sie über etwas nachdachte, in einer seltsamen, unbekannten Sprache vor sich hin zu murmeln. Wenn man sie darauf ansprach, hatte sie selbst keine Erklärung dafür und wusste auch nicht, was diese Worte oder ob sie überhaupt irgendetwas zu bedeuten hatten. Dies – und natürlich die von den Erwachsenen übernommenen Vorurteile allem Fremden gegenüber – brachte die Kinder von Dreieich dazu, Tara zunehmend zu meiden. Das war vor einigen Jahren noch anders gewesen, denn je jünger Kinder sind, desto weniger kümmern sie sich darum, ob jemand ein wenig anders aussah oder welcher Herkunft er war. Darüber hinaus war Tara eine immer freundliche, fröhliche und allen anderen gegenüber aufgeschlossene Spielpartnerin.
Aber in einem Dorf wie Dreieich endete die Kindheit früh. Von Vierzehnjährigen wurde erwartet, dass sie auf dem elterlichen Hof mitarbeiteten oder eine Lehre bei den wenigen Handwerkern des Ortes begannen – die einzige Ausnahme blieb freilich Jost, der sich um nichts weiteres als sein Feenfeuer zu kümmern hatte. Und es wurde ebenfalls erwartet, wie ein Erwachsener zu denken, was bedeutete, die kindliche Bereitschaft, Neues oder Andersartiges ohne Vorbehalt zu betrachten, abzulegen und überhaupt in jenen sturen Bahnen zu denken, wie es bei Menschen, die in einem rauen, kargen Land jeden Tag aufs Neue um ihr Überleben kämpften, üblich war. Auch hier bildete Jost sicher die Ausnahme, denn Bardur, sein Vater, war aufgrund seiner im ganzen Land Nauthia gerühmten Schmiedekunst reich genug, um sich keine Sorgen darüber machen zu müssen, ob seine Familie ausreichend Essen jeden Tag auf den Tisch bekam.
Obwohl Tara nicht so vom Schicksal begünstigt war wie der Sohn des Schmiedes, war sie ihm dennoch in einigen Dingen ähnlich. Sie begeisterte sich ebenso wie Jost an den alten Sagen, den Heldengeschichten aus den Ebenen und natürlich auch an den unzähligen Legenden, die sich um das geheimnisvolle Feenland rankten. Man hatte ihr – nachdem auch sie in das Alter gekommen war, in dem von jedem jungen Nauthianer erwartet wurde, dass er hart arbeitete – die Aufgabe übertragen, in den schneefreien Monaten die Ziegen des Dorfes zu hüten und zwar auf den Weiden am Bach Poviborn gut eine Meile westlich der letzten Häuser. Das wäre für jeden anderen eine sicherlich sehr einsame Beschäftigung gewesen, aber Tara hatte schließlich die Tiere, mit denen sie sich unterhalten konnte und natürlich bekam sie auch regelmäßig Besuch von Jost.
Auch an diesem milden Sommertag.

Jost erreichte das Ende des Waldes und betrat die Wiese. Gleichzeitig beendete er seine Kämpfe und so, wie sich nun die imaginären Trollen wieder in junge, von dem Stock allerdings zum Teil arg malträtierte Bäume verwandelten, machte auch der Junge eine Metamorphose durch von einem in schimmernder Rüstung und mit magischem Schwert kämpfenden Helden seiner Fantasie hin zu dem schlaksigen und linkischen Sohn eines Dorfschmiedes.
Er sah, wie Tara – umgeben von der ganzen Ziegenschar – im Schatten eines großen Findlings auf dem Boden hockte.
Ihr Blick ging nach unten und Jost fragte sich, was sie da tat. Im ersten Moment hatte er den Eindruck, sie würde beten, so wie es jene Leuten taten, die den mächtigen Gott des Donners verehrten und in dem an Unwettern nicht armen Nauthia häufig anzutreffen waren. Andererseits war Tara bei der Witwe Valdana und deren Mutter Malfalda aufgewachsen, die beide für eine Religion, die von einem Menschen verlangte, vor einem bloßen Naturereignis in Demut niederzuknien, wenig übrig hatten.
Jost trat näher, wobei er mit der Stiefelspitze kurz an einem Stein hängenblieb. Er fiel zwar – ausnahmsweise einmal – nicht hin, machte aber genug Lärm, um Tara dazu zu bringen, hochzuschrecken.
Sofort bekam ihr zarter, blasser Teint eine tiefrote Färbung. Und einen Augenblick später wurde Jost klar, was die Ursache dafür war. Denn in der Kühle des Schattens dieses Felsbrockens hatte sich, als letzter Überrest der vergangenen Regentage, ein kleine Pfütze erhalten. Tara hatte nichts anderes getan als ihr Spiegelbild betrachtet. Dies war zwar die allgemein übliche Methode bei den jungen Frauen Nauthias, denn richtige Spiegel wurden in den Haushalten nicht geduldet, aber Tara hatte nie die Eitelkeiten ihrer Altersgenossinnen geteilt, zumal man ihr ohnehin immer nachgesagt hatte, mit ihren nicht zu bändigenden roten Locken, dem Meer von Sommersprossen im ganzen Gesicht und den dunklen, fast schwarzen Augen irgendwie merkwürdig und fremdartig auszusehen. Dementsprechend wirkte sie auch peinlich berührt, als sie bemerkte, dass sie von dem Junge beobachtet worden war. Jedes andere der Dorfkinder hätte nun vermutlich seine Witze gemacht, aber Jost lag es fern, Tara zu kränken.
Dennoch war er neugierig.
"Was machst du?", fragte er und befleißigte sich eines möglichst harmlosen Plaudertons.
"Ich ...", begann Tara und stockte, "... ich wollte wissen, ob sie Recht haben."
"Ob wer Recht hat?"
Jost war inzwischen bei dem Findling angekommen und hockte sich neben das Mädchen auf den Boden.
"Na, alle", antwortete Tara, "die Leute im Dorf, die Kinder. Alle behaupten, ich würde merkwürdig aussehen, sei ein Kind von fahrenden Gaukler, die aus den fernen Ländern jenseits des Grauen Meeres stammen, oder gar der Wechselbalg von Feen."
"Na ja", gab Jost nachdenklich zurück, "du siehst schon ein wenig anders aus als die meisten Leute hier. Aber das heißt nicht, dass du hässlich bist oder so ..."
"Wer sagt denn, dass ich hässlich bin?!", warf Tara mit scharfem Tonfall ein.
"Äh ... niemand ... auf jeden Fall keiner, den ich kenne ...", stotterte Jost.
Nun war es an ihm, rot zu werden.
Tara sah ihn mit ernstem Blick an, doch gleich darauf machte sich ein Lächeln in dem sommersprossigen Gesicht breit.
"Sei unbesorgt", sagte sie, "ich mache mir keine Gedanken über meine Schönheit. Aber ich frage mich schon, woher ich stamme. Wer meine Eltern sind und warum sie mich einst hier in diesem Dorf ausgesetzt haben."
Jost schwieg. Es war das erste Mal, das seine Freundin Worte verlor über ihre Herkunft und die Umstände ihres plötzlichen Auftauchens in Dreieich. Obwohl sie nie ganz akzeptiert worden war in einer Dorfgemeinschaft, in der ansonsten jeder mit jedem über mindestens drei Ecken verwandt oder verschwägert war, schien sie nie allzu viel Gedanken daran verschwendet zu haben, wer ihre eigenen leiblichen Verwandten sein mochten. Tatsächlich hatte sie aber die beiden Frauen, bei denen sie aufgewachsen war, nie anders angesprochen als bei ihren Namen, obwohl diese wie Mutter und Großmutter für sie waren. Das tat zwar der Herzlichkeit, die sie im Umgang mit ihren Zieheltern pflegte, keinen Abbruch, aber sie hatte nie Zweifel daran gelassen, dass sie ihnen nicht im Blute verbunden war.
"Vermutlich gibt es keinen besonderen Grund", sagte Jost, "deine Eltern waren Herumziehende, Gaukler, Schauspieler oder Bergnomaden, die so arm waren, dass du vermutlich den Hungertod gestorben wärst, hätten sie dich bei sich gelassen."
"Ja, möglicherweise", sagte Tara leise. Ihr Blick senkte sich erneut und musterte das nun wieder blasse Gesicht in der dunklen Oberfläche der Pfütze. Ihr konzentrierter, ein wenig unsicherer Blick verriet Jost, dass dieses Spiegelbild wohl auch ihr selbst ein wenig fremdartig erschien.
"Dennoch frage ich mich, ob es nicht doch einen anderen Grund gab. Etwas, das nichts mit dem Elend des fahrenden Volkes zu tun hat. Vielleicht steckt da etwas ganz anderes hinter meiner Existenz. Irgendein Plan! Du kennst doch selbst die Geschichten über Findelkinder."
"Das sind doch Märchen!", warf Jost ein und ärgerte sich sofort über seine unbedachte Bemerkung.
Doch Tara blieb ruhig.
"Das weiß ich auch", gab sie zurück, "und ich bin längst nicht mehr das kleine Kind, das jede dieser Geschichten für wahr nimmt. Aber ..."
Sie griff nach einer kleinen Blume mit leuchtend blauer Blüte, die neben der Pfütze ein wenig aus dem Gras herausragte.
"... aber auch du kennst die Umstände meiner Ankunft hier in Dreieich. Vieles daran war äußerst merkwürdig und Malfalda ist überzeugt davon, dass in dieser Nacht Magie in der Luft lag."
Die meisten Leute in Dreieich bezeichneten die alte Frau zumeist nur als die verrückte, alte Hexe, die, wenn sie nur den Mund aufmachte, Unsinn redete. Was sie allerdings nicht davon abhielt, bei schweren Erkrankungen sowohl von Mensch als auch von Vieh auf ihre Kräuterheilkunst zu vertrauen. Jost wusste, dass Tara sehr viel von ihrer Ziehgroßmutter hielt.
Sie schnupperte an der Blume. Ein schwerer, aromatischer Duft stieg von der kleinen Blüte auf. Er wirkte fremdartig, erinnerte Jost an den kräftigen Geruch jener seltsamen Kräuter, die die herumreisenden Feen gelegentlich verkauften. Er betrachtete diese unscheinbare Blume ganz genau, entdeckte kleine, golden schimmernde Punkte in den Blütenblättern und einen safranfarbenen Blütenstand. Er war sich sicher, dass er solch eine Pflanze noch nie zuvor gesehen hatte.
Tara steckte sich die Blume ins Haar und lächelte.
"Du weißt, wie man mich nennt seit jener Nacht: Tara Blumentochter!"
 

plasmaworx

Mitglied
Gefällt mir gut, ist sehr detailreich und stimmungsvoll geschildert.
Die weitestgehend fehlerfreie Sprache macht das Lesen flüssig und unterhaltsam.

Eine etwas stärkere Unterteilung der Absätze (durch Leerzeilen) wäre ganz gut, denn die Blöcke sind so etwas erschlagend.

Ein Einschub ist etwas unglücklich plaziert:

"Aber in einem Dorf wie Dreieich endete die Kindheit früh. Von Vierzehnjährigen wurde erwartet, dass sie auf dem elterlichen Hof mitarbeiteten oder eine Lehre bei den wenigen Handwerkern des Ortes begannen [red]– die einzige Ausnahme blieb freilich Jost, der sich um nichts weiteres als sein Feenfeuer zu kümmern hatte.[/red] Und es wurde ebenfalls erwartet, wie ein Erwachsener zu denken, was bedeutete, die kindliche Bereitschaft, Neues oder Andersartiges ohne Vorbehalt zu betrachten, abzulegen..."

Er trennt meiner Meinung nach die beiden Sätze so stark von einander, daß das 'Und...' etwas überraschend kommt. -Das ist aber Haarspalterei.

Da freue ich mich auf mehr!

Beste Grüße,
pwX

p.s.: Was hat es mit den geburtsfehlerhaften Schildkröten auf sich?
 

agilo

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Ich freue mich natürlich über die konstruktive Kritik und die positive Rückmeldung. Das mit dem Satzeinschub stimmt natürlich, ich mache mir Gedanken, wie ich das verändere.
Und wenn jemand eine zweiköpfige Schildkröte findet: Die Monarchen von Kostyra freuen sich über jedes Objekt für ihre Sammlung
agilo
 
G

Gelöschtes Mitglied 11475

Gast
Wie schon geschrieben wurde, flüssig geschrieben und die Neugier auf mehr befeuernd.
Das Einzige, was für mich gewöhnungsbedürftig ist, dass ich die geläufige Definition von "Feen", sehr stark beiseite schieben muß. Ich hätte sie vielleicht anders genannt.
Aber da Dein Werk ja Feenkrieg heisst, wirst Du Dir Deine Gedanken schon gemacht haben und ich möchte nicht mit solchen Spitzfindigkeiten Aufruhr betreiben.

Beste Grüße von Christoph,
der überlegt ob er nicht endlich ins Bett gehen, oder doch noch kurz in den zweiten Teil der Geschichte reinschauen soll.
 



 
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