Der Fingersammler

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römer

Gast
Kaspar sammelte Finger. Beringte, unberingte, krumme
und grade. Am liebsten mochte er lange Finger. Der längste
in seiner Sammlung maß 18 Zentimeter! Natürlich ein
Mittelfinger. Er mochte auch die von Gicht ganz krummen.
Die sahen wie knollige Äste aus. Kinderfinger lehnte er ab.
Kaspar mochte nicht an winkende Kinderhände denken,
denen Finger fehlten.
Er besaß inzwischen 1.523 Finger und hatte einen Daumen-
überschuß. Einzelne Fingerglieder wanderten in den Müll.
Zu seinen Kunden sagte er: „Ich mag keine halben Finger.
Vor allem keine Daumenkuppen.“ Aber wenn die Bittsteller
ihn flehend anschauten, wurde Kaspar meist weich.
Dann pflegte er zu sagen: „Ich bin viel zu gutmütig. Fehlt
noch, dass sie mir ihre Fingernägel andrehen wollen ...!“
Man fragt sich, was er mit all den Fingern anfangen wollte.
Nun, er sammelte sie wie andere Leute Schmetterlinge oder
Briefmarken. Kaspar sammelte Finger. Er erhoffte sich,
etwas über Finger zu lernen. Um so mehr er haben würde,
so dachte er, desto mehr würde er über sie erfahren.
Aber warum weckten gerade Finger sein besonderes
Interesse? War es die Erinnerung des drohenden
Zeigefingers in seiner Kindheit? Der herausgestreckte
Tramperdaumen seiner Jugend? Der provokative Stinkefinger
hinter dem Steuer des Autos? Der Ringfinger, der für die
Liebe stand? Oder der beringte, kleine Finger, den er aus
Vornehmheit und Exzentrik immer leicht abspreizte?

Kaspar hatte vor, ein regelrechtes Fingermuseum einzu-
richten, damit jeder Mensch sehen konnte, wie unterschiedlich
Finger sein können. Die Besucher würden an tausenden
wohlpräparierten Fingern in Glasvitrinen vorbeiwandeln.
Und sie hätten am Ausgang die Gelegenheit, selbst einen
Finger abzuzweigen. Unter sterilen, chirurgisch einwand-
freien Bedingungen und natürlich würde man entlohnt.
Auch eine Fingerauktion wäre denkbar.
So dachte Kaspar leidenschaftlich an sein Projekt. Tag für Tag. Er betrachtete seine Hände voll Ehrfurcht. Er spreizte seine Finger, streckte seine Hände in die Höhe, lachte und sang das Kinderlied:
„10 kleine Negerlein ...“

Manche Finger blieben allerdings unbezahlbar.
 
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Rote Socke

Gast
Mei oh mei römer,

das ist ja echt ein genialer Text. Präzise ausgearbeitet, knallige Sprache und mal ein richtig fetziges Thema.

Bin gespannt auf Weiteres. Super! Auf diese Idee muss man ersteinmal kommen, na ja, und auch noch entsprechend umsetzen.

Gruss
Socke
 

majissa

Mitglied
Hm...und nun? Als ich dachte, es ging los, war's schon vorbei. Wo ist das Ende und was will die Geschichte sagen? Ich bin da etwas ratlos. Was so gut anfängt, endet meines Erachtens zu unspektakulär. Gut geschrieben ist der Text allemal. Auch der Humor gefällt mir. Doch wo bleibt das gewisse Etwas? Ich vermisse eine Steigerung zum Ende hin. Die anfangs aufgebaute Spannung verpufft zusehends. Was hat es mit den Bittstellern auf sich? Was treibt sie dazu an, ihre Finger los werden zu wollen? Warum soll die Vorstellung ein fingerlosen Kindes schlimmer sein als die eines fingerlosen Erwachsenen? Wenn schon skurril, dann auch bitte konsequent. Ein Fingersammler aus Leidenschaft, der vor Kinderfingern halt macht, verliert da an Glaubwürdigkeit. Er wird nehmen, was er kriegen kann.

"Aber warum weckten gerade Finger sein besonderes
Interesse?"

Tja, das würde ich auch gern wissen, aber du gibst hierauf selbst keine Antwort bis auf die Anmerkung, dass Kaspar etwas über Finger in Erfahrung bringen will. Aber was?

"Auch eine Fingerauktion wäre denkbar"

Warum macht er dann keine? So, wie der Satz da steht, drückt er für mich nur eine gewisse Unsicherheit des Autoren aus. So, als würde dem Leser eine von möglichen Optionen angeboten.

Liebe Grüße
Majissa
 
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römer

Gast
Majissa - schon mal einen leidenschaftlichen Sammler
nach dem Grund seines Steckenpferds gefragt?

Kein Mensch weiß, was eigentlich in uns steckt.
Wenn wir an Liebe denken. Fehlt Kaspar die Liebe?
Vielleicht.

Der Autor ist tatsächlich unsicher.

römer
 
R

römer

Gast
Majissa, gegenüber Kindern besitzen wir ein besonderes
Schutzbedürfnis. Egal ob es sich um Finger oder anderes
dreht.
 

pleistoneun

Mitglied
OOhhh...

Eine Abhandlung über Kaspar Hauser, jetzt haben wir´s. Wenns um Kaspar Hauser geht, fehlt ihm aber gar nicht die Liebe, denn die wurde ihm doch von seinen späteren Adoptiveltern zuteil. Er vergab vor lauter Liebe sogar seinen späteren Mördern.
Aber dass der erklärliche Sammlertrieb mit dem ersten geborenen Überlebensgedanken entstanden ist, ist sicher nichts Unbekanntes mehr.
Die Fingeridee ist gut, ich stelle mir vor, wie er sie vitriniert (gibt´s das Wort?) hat. Nachts, wenn es ihn den Sammler überkommt, steht er vom Bette auf, geht zu seinen Einmachgläsern mit den Fingern und tippt sie an, um zu schauen, wie sie sich bewegen....macht sich Gedanken, wie sie am Besitzer ausgesehen haben mögen, macht sich aber keine Gedanken, wie er jetzt ohne diesen Finger aussieht.
Der Schreibstil gefällt mir auch gut, man kann gerne mehr und länger davon nicht genug bekommen *g.
 



 
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