Der Fluch - Eine Biographie von Jenseits der Straße

3,30 Stern(e) 3 Bewertungen

karona

Mitglied
Vorwort

Ich bekenne, keine Berühmtheit zu sein! Ich bin auch keine Schönheit. Es gibt jedoch Menschen die etwas Faszinierendes in meinen Augen finden. Ich prange nirgends von schrillen Plakaten, es gibt allerdings Augenblicke in meinem Leben, in denen ich weit über die Stadtgrenzen Bad Schwartaus hinaus, ins Gespräch kam.

Beim Besuch eines namhaften Berliner Verlages, im Sommer 2002, fragte mich mein Gastgeber: „Weshalb schreiben sie nicht mal ein Buch"? "Erzählstoff haben Sie doch genug“. Ich erwiderte ihm: „Gedacht habe ich daran auch schon, aber ich glaube, mein Schreibstil ist dafür nicht professionell genug“. In Kenntnis einiger Details, meine Vergangenheit betreffend, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu: „Die Thematik Transsexualität an sich, ist ja inzwischen nichts Besonderes mehr, aber im Verbund mit Ihrer Person nicht so alltäglich“.

Seit meiner Rückreise in nördliche Gefilde ließ mich diese Anregung nicht mehr zur Ruhe kommen. Genau dies hatte ich nämlich in den vergangenen Jahren oft zu hören bekommen. Es ist tatsächlich so, dass ich von Menschen in unterschiedlichster Position, immer wieder darin bestärkt wurde, endlich „schöpferisch“ tätig zu werden. In meinem weiteren Bekanntenkreis können es viele kaum erwarten, mich über das geschriebene Wort besser kennen zu lernen, vor allem, da sie zumindest ansatzweise wissen, dass mein Leben in keine einfach gedrechselte Schablone passt.

Es ist Anfang August 2002, als ich mich ans Werk mache. Dies heißt für mich, um mein Überleben zu schreiben, denn es ist nicht mehr lange hin, dann werden mir die Banken gnadenlos im Nacken sitzen. So schreibe ich oft von früh um 7.00 Uhr bis spät in die Nacht, manchmal bis in den frühen Morgen hinein, ab und zu vom Gassi gehen mit meiner Bonsai - Dogge unterbrochen. Manchmal fällt mir erst spät abends ein, dass ich nicht einmal an eine warme Mahlzeit gedacht hatte.

Wahrscheinlich gehört auch heute noch Mut dazu, zu der Eingangs genannten Thematik etwas zu veröffentlichen. Meine Chance sehe ich aber darin, dass es inzwischen abertausende Biographien wie die eines Dieter Bohlen und Stefan Effenberg gibt. Von Menschen die jeden Morgen voller Sorge, von Jenseits der Straße, aus den Kellern dieser Gesellschaft, in die Zukunft blicken und denen Sozial- und Arbeitsämter vertraut sind, wohl nicht allzu viele. Von denen aber, die oft genug verstoßen werden, weil sie anders sind und weshalb auch immer, nicht in das antiquierte kleinbürgerliche Klischeedenken passen, noch weniger.

Bildmaterialien und Kopien von nicht alltäglichen Schreiben werden dieses Buch ergänzen (z. B. vom Ex- Bundeskanzler Helmut Kohl). Darüber hinaus berichte ich, wiederum mit eigenen, inzwischen schon historischen Fotos unterlegt, von meiner Zeit beim Fischkombinat Rostock, dereinst Betreiber der größten deutschen Fischereiflotte-, und seiner inzwischen im wahrsten Sinne des Wortes untergegangenen Flottille. Also von dort, wo einst mein Weg ins Berufsleben begann.

Zeitungsartikel belegen zudem, wie man mich hofierte, bis der berühmte „Wanderer“ des Weges kam und fragte: „Haste schon gewusst“? Damit möchte ich auf den Punkt kommen: Ausgangsbasis für meine Initiative, überhaupt zu schreiben, ist, wie ich bereits zu Anfang erwähnte, meine aus bürgerlicher Sicht abnorme Neigung, mich im Widerspruch zum Geburtenregister, in weiblichem Körper und Geist zu Hause zu fühlen. Bereits seit dem fünften Lebensjahr verspürte ich nämlich das innere Verlangen, ein Mädchen und später eine Frau sein zu wollen.

Im Laufe der Jahre habe ich mein Schicksal in die Hand und viele Hürden genommen. Inzwischen bin ich fünffache „Omi“, für Enkel, die mich nie anders kennen gelernt haben. Eine Frage stellt sich mir jedoch immer wieder: „Bin ich auf meinem Weg mit all den schweren Entscheidungen wirklich glücklich geworden“?

Wer jetzt erwartet, dass ich mich in sexuellen Details äußern werde, sollte dieses Buch gleich wieder beiseite legen. Mir geht es in erster Linie um die Darstellung meiner Situation zu Zeiten der DDR, der Wendezeit und den nachfolgenden Jahren im vereinigten Deutschland und um meinen Kampf, als Mensch Achtung und Anerkennung zu finden. Eins ist nämlich gewiss: Bei mehr Toleranz gegenüber von Menschen, die eines Tages feststellten im falschen Körper zu Hause zu sein, wäre hier eine andere Geschichte zu Papier gebracht worden.

In diesem Buch werden vier fassungslose Staatsmänner aus dem Ostblock genauso präsent sein wie zwei Sowjetische Kosmonauten, der Nobelpreisträger Günter Grass, der schon erwähnte Ex- Kanzler Dr. Helmut Kohl, die Minis-terpräsidentin des Landes Schleswig Holstein Heide Simonis und andere, und sie alle in persönliche Erlebnisse oder erlebte Episoden eingebettet. Den Prinzen von Sachsen – Coburg lernte ich zwar ebenfalls persönlich kennen, aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.

Teil 1

Kindheit in Frankfurt an der Oder

Die Detonationen des letzten Krieges waren längst verhallt. - Die darauf fol-gend eintretende Stille sollte sich jedoch als sehr trügerisch erweisen, denn plötzlich ertönte in einer der ungezählten Trümmerwüsten ein gellender Schrei.

Es begab sich im Sommer des Jahres 1948, in Frankfurt an der Oder. Ich hatte gerade, in einem Deutschland der Siegermächte, in seinen Grenzen von 1945, das Licht der Welt erblickt. Die Weichen für ein geteiltes Land waren zu jener Zeit aber bereits gestellt. Man brauchte nur noch zu proklamieren. Ich kann jedoch von mir nicht gerade behaupten, dass ich damals verstand weshalb ich ein reichliches Jahr später DDR- Bürger/in wurde.

War es der Unmut über die politischen Vorgänge, die mir auf den Magen schlugen, oder die miserable Versorgungslage. Jedenfalls bekam ich mit 9 Monaten eine schwere Ernährungsstörung. Die muss sich so dramatisch offenbart haben, dass meine Erdentage, vom medizinischen Personal im Lutherstift schon gezählt wurden. Das sagte zumindest meine Oma zu Lebzeiten immer wieder. Jedoch bereits damals sollte ich in der Lage sein, meinen eigenen Kopf zu gebrauchen und jenem bekannten Sensenmann ein Schnippchen zu schlagen. Sonst wäre nachfolgendes auch nie niedergeschrieben worden ....

Wie sah es nun aber in jenen „fernen Zeiten“, die inzwischen weit über 50 Jahre zurückliegen aus? Gleich nach dem Krieg waren sich die Menschen damals in allen vier Besatzungszonen einig, nie wieder eine Waffe in die Hand zu nehmen und der allgemeine Tenor der Volksmassen lautete, für eine kurze Zeit; „Nie wieder Krieg“. Das war es dann aber schon in Fragen Gemeinsamkeiten. Im Westen Deutschlands, begann bereits der 1946 von den westlichen Alliierten beschlossene Marshallplan zu greifen. Das heißt, es zeichneten sich erste wirtschaftliche Erfolge ab. Im Osten Deutschlands, in der SBZ (Sowjetische Besat-zungszone), waren die neuen Machthaber, im Rahmen von Reparationsforderungen bis weit in die fünfziger Jahre hinein mit der Demontage der wenigen Firmen befasst, die nicht bei Bombenangriffen oder durch Kampfhandlungen zerstört wurden. In der „Ostzone“, einer schon vor dem Krieg vornehmlich landwirtschaftlich geprägten Region, war allerdings nicht allzu viel zu holen.

Ich erinnere mich an die vielen Ruinen, die damals das Zentrum der inzwischen geteilten Stadt an der Oder prägten. Unter anderem auch an den zerbombten Backsteinbau der „Viadrina“, jener altehrwürdigen Universität die schon in der mittelalterlichen Hansezeit begründet wurde. Frankfurt profitierte ja bekanntlich in seiner Blütezeit, vom mächtigsten Handelsverbund jener Zeit. An der Universität hatte übrigens H. v. Kleist, der berühmteste Sohn der Stadt studiert.

In Frankfurt/Oder war der Wiederaufbau in jener Zeit ebenfalls im Gange und die ersten neuen Wohnblocks längst bezogen. Nur in der ehemaligen Beamten und Kasernenstadt schien in den Jahren nach dem Krieg alles ein wenig länger zu dauern. Das war vielleicht auch dadurch bedingt, dass es hier seit jeher keine nennenswerte Industrie gab. Ich erinnere mich nur an eine Kaffeemittel- und eine Seifenfabrik.

Meine frühe Kindheit kann als eher typisch für die Zeit im Nachkriegsdeutschland bezeichnet werden und entsprach den damaligen Lebensumständen. Mir fallen da einige Episoden ein, die einfach zu dieser Epoche dazu gehörten.

Wir wohnten in einem Einfamilienhaus an der Stadtgrenze von Frankfurt zur Untermiete. Landwirtschaftlicher, idyllischer und schöner als an jenem Stadtrand konnte es für uns Kinder nirgendwo auf der Welt sein. Auf der einen Seite die Oderwiesen mit ihrer noch intakten Flora und Fauna, dem Küstersee, Kiebitzen und Füchsen und jenseits der kopfsteingepflasterten Hauptstraße ein leicht hügeliges Land mit Feldern und kleinen Hainen in denen zahlreiche Rehe ihr Versteck fanden. Ich weiß noch sehr gut, wie ich mit Salz in der Hosentasche, auf Hasenjagd ging oder rannte sobald ich einer Blume ansichtig wurde. Man hatte mir nämlich glaubhaft versichert, dass dieses nur auf eben die Blume gestreut zu werden brauchte, um ihrer habhaft zu werden.

Gleich gegenüber auf der anderen Straßenseite gab es Mitte der fünfziger Jahre einige Einzelbauerngehöfte. Deren Bauern liefen während der Aussaat noch immer hinter ihrem von kräftigen Pferden gezogenen Pflug her. Auch die Ernte fuhren sie, wie zu Urgroßelters Zeiten, mit Pferdegespannen und Leiterwagen ein. Wobei gesagt werden muss, dass es auf dem Lande, schon seit einigen Jahren Maschinen Traktoren Stationen (MTS) gab. Dort konnten sich die Bauern Traktoren oder andere Erntetechnik ausleihen.

Einer der Bauern ist mit meinem Vater mal so gut wie handelseinig geworden. Für ein paar Sack Kartoffeln und einige Seiten Speck sollte ich als Erstgeborener den Besitzer wechseln. Es war wohl auf einer seiner Kneipentouren, auf der die Beiden ins Geschäft kamen. Wenn ich so richtig überlege, kann es sogar sein, dass ich bei dem zukunftsweisenden Geschäftsgespräch daneben saß, da ich gerne mal auf diese Touren mitgenommen wurde.
Der Bauer plante jedenfalls, mich als seinen Hoferben zu erziehen und einzusetzen. Weshalb das Geschäft dann nicht zu Stande kam entzieht sich meiner Kenntnis. Ich denke aber, dass meine Mutter da nicht so richtig mitspielte. Auf jeden Fall hätte dieser Bauer eines Tages so etwas Ähnliches wie eine Hoferbin gehabt.

In jener Zeit ohne Fernsehen und bar jeder Technik verbrachten wir Kinder noch einen Großteil unserer Freizeit auf der Straße, oder, wie ich zum Beispiel oft, auf Klettertour auf den Bäumen. Ich habe zwei daraus resultierende Krankenhausaufenthalte wegen schwerer Gehirnerschütterungen und die erfolgte Behandlung mit Eisbeuteln bis heute nicht vergessen.

Aber zurück zur Straße. Dort lieferten wir uns regelmäßig, mit verfeindeten Gruppen, Straßenschlachten, bei denen auch schon mal Steine die Seiten wechseln konnten. In „Friedenszeiten“ hingegen maßen wir unsere Kräfte zur Abwechslung bei Seifenkisten oder Rollerrennen. Luftbereifte Roller gab es in einem Kaufhaus auszuleihen. Den Begriff Zwergtorfußball kenne ich ebenfalls noch aus jenen fernen Kindertagen.

Einmal sollte ich sogar als Lebensretter gefeiert werden. In unserem Garten befand sich, wie damals üblich, eine mit Brettern abgedeckte Jauchegrube. Sie diente als Auffangbecken für Fäkalien aller Art. Eines Tages, unsere Eltern waren gerade auf Einkaufstour, tobten wir wieder einmal wie wilde, kleine Fohlen über besagte Bretter.
Plötzlich, es gab ein berstendes Geräusch, verschwand mein jüngerer Bruder in der fürchterlich stinkenden Finsternis, dieser Grube. Zu Anfangs schrieen wir noch beide aus Leibeskräften, bis er wohl durch die Gase betäubt, immer ruhiger wurde und ich letztendlich allein mit meinem verzweifelten Geschrei übrig blieb. Ich machte dabei so einen Lärm, dass die Eltern, die sich bereits auf dem Heimweg befanden, schlimmes ahnend, im Laufschritt heraneilten. Mein lautes Geschrei war wohl noch in sehr großer Entfernung zu hören gewesen. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihnen dann, das bereits leblose und übelriechende Bündel aus der lebensbedrohlichen Situation zu befreien. Schon nach wenigen weiteren Minuten wäre, wie noch Jahre später erzählt wurde, jede Hilfe zu spät gekommen. Wir waren damals übrigens gerade im „zarten“ Alter von vier und fünf Jahren.

Ich weiß nicht mehr ob es eine Modeerscheinung war, aber in ganz frühen Kindertagen, so mit fünf Jahren, wurde ich ab und zu, als Mädchen gekleidet, zum Spielen geschickt. Weshalb und wie oft meine Mutter das machte konnte sie mir allerdings in späteren Jahren nie erklären, denn irgendwann hatte sie es einfach vergessen. An den Hahnenkamm, einer damals üblichen Mädchenfrisur und ein lustiges, buntes Wollröckchen kann ich mich hingegen noch recht gut erinnern. Vor allem weil sich seit jener Zeit der Wunsch, ein Mädchen zu sein, nicht mehr verdrängen ließ. Selbst im Kindergarten beneidete ich die Mädchen und insbesondere die hübsche Anneliese ob ihres, von mir heiß ersehnten, Daseins. Ich glaube aber nicht, dass sie das auch nur ansatzweise ahnte. Eines ist jedoch gewiss, gesprochen haben wir nie darüber.

Die Soldaten der Roten Armee sind mir ebenfalls in bleibender Erinnerung geblieben. Es geschah oft, dass sie uns Kinder mit ihren „stinkenden LKW- Ungetümen“ aus reinem Vergnügen und Spaß an der Freud durch die Gegend kutschierten. Diese stanken allerdings nicht nur sehr atemberaubend nach Fahrzeugsprit, sondern in den Fahrerkabinen roch es fast genauso stark nach Machorka. Den kräftigen Tabak drehten sie mit sehr viel Geschick in ihre Zeitungen, ich glaube die „Prawda“, ein. Dabei achteten sie mit äußerster Akribie darauf, dass kein Krümelchen verloren ging.

Auf die Kasernengelände kamen wir natürlich nicht rauf. Ihre Fahrzeuge standen vor einem, auf unserem Schulweg gelegenen, russischen Lazarett.
Die meisten jener Rotarmisten waren uns in den stundenlangen Wartezeiten, für ein wenig Abwechslung sehr dankbar. Es war für sie zudem die einzige Möglichkeit, über uns Kinder, ein klein wenig Kontakt zu den Deutschen zu bekommen. Von den Soldaten, die zumeist sehr jung waren, hatte kaum einer den Krieg an der Front miterlebt, weshalb sie eigentlich genauso neugierig und wissensbegierig waren wie es Jugendliche überall auf der Welt zu sein pflegen.

Eines Tages, ich war wieder einmal auf eines der Fahrzeuge geentert, bekam ich von einem der jungen Soldaten, mit ihm hatte ich mich ein wenig angefreundet, einen Zettel in kyrillischer Schrift in die Hand gedrückt. Kurz zuvor hatte ich ihm, da er recht gut deutsch verstand, voller Begeisterung von Sibirischen Zobeln erzählt. Über diese kostbaren Tierchen las ich erst unlängst in einem Abenteuerheftchen. Als ich mich nach einer Fahrtrunde um das Objekt verab-schiedete fragte ich: „Wolodja bekomme ich jetzt eine Zobelmütze von dir“? Meine Frage bejahend huschte ein verschmitztes Lächeln über sein Gesicht. Ich nehme an, er ahnte nicht einmal, was er damit bei mir angerichtet hatte.

Es glaubt ja keiner in welcher Aufregung und mit welcher Begeisterung ich von diesem Tag an die Leute verrückt machte. Ich muss heute noch darüber lachen. Das dramatische war ja, dass ich niemanden fand, der mir den Zettel übersetzen konnte. Zwei Jahre später, ich hatte inzwischen selber den obligatorischen Russischunterricht, zeigte ich diesen Zettel, völlig aufgeregt, meinem Russischlehrer. Der übersetzte ihn mir dann mit folgendem Wortlaut: „Ich wünsche Dir alles Gute im Leben, dein Freund Wolodja“.

Ich war natürlich erst einmal wie vom Donner gerührt, denn nun war mir endgültig klar geworden, auf meine Zobelfellmütze brauchte ich nicht länger zu warten. Den Rotarmisten hatte ich seit jenem Tag übrigens nie wieder gesehen. Es war wohl sein Abschiedsgruß an mich, seinem kleinen deutschen Freund. Ich meine, dass das eine schöne, mit langjährigen Träumen verbundene Geschichte war, denn ohne meinen Zobelspleen hätte ich den besagten Zettel längst vergessen gehabt. So schreibe ich sogar noch hier und heute darüber.

Meine kleine und noch dazu zierliche Großmutter hatte dagegen ganz andere Kontakte zu „Ihren Russen“ gepflegt. Sie befand sich mit ihnen, über viele Jahre hinweg, in einem dauerhaften Kriegszustand. Das hieß für sie fast wöchentlich Gefechte auszutragen, aus denen sie dann allermeist siegreich hervorging, sprich ihre Gegner erfolgreich in die Flucht schlug. Ihr Garten lag damals in unmittelbarer Nähe einer sowjetischen Nachrichtenstation. Diese war oberhalb der zahlreichen Schrebergärten auf einem kleinen Hügel stationiert. Jedes Mal wenn sich meine Omi zu Fuß ihrem Garten näherte ging sie erst einmal hinter immer demselben Gebüsch in Deckung. Sobald sie dann Gestalten in ihren zahlreichen Apfelbäumen wahrnahm, ergriff sie einen dort zwischengelagerten Knüppel und stürzte sich mit lautem „Dawai – Dawai“ Geschrei auf die wie Fallobst aus den Bäumen purzelnden Russen, wobei sie mit ganzer Kraft auf sie einhieb. Ich glaube so mancher von Ihnen hat dabei recht derbe Schläge einstecken müssen. Rotarmisten auf der Flucht, das gab es damals wirklich nur einmal, dank meiner tapferen Großmutter und ihrem Garten.

Apropos Russen. In den fünfziger Jahren gab es in Frankfurt, auf einer Halbinsel gelegen, die Badeanstalt Ziegenwerder. An jenem Tag, als sich „befreundete Soldaten“ dies und jenseits der Oder mit ihren Maschinenpistolen ein erbittertes Feuergefecht lieferten, wurde die Badeanstalt für immer geschlossen. Wie später erzählt wurde, wollte ein Rotarmist doch tatsächlich nach Polen abhauen. Ich weiß das noch, weil wir gerade die Badeanstalt besuchten und als die Kugeln über uns hinwegpeitschten von den Erwachsenen in Deckung gerissen wurden. Nach diesem Vorkommnis wurde das Baden, bis dahin im gesamten Oderbereich selbstverständlich, generell verboten.

Das Stadtbild prägen in jenen Jahren noch viele Kriegsinvaliden, die mit spitzen Stöcken auf Kippenjagd gingen oder vor Geschäften auf einen Obolus warteten. Den Anblick eines Menschen der sich gänzlich ohne Beine, auf einem hölzernen Rumpf fortbewegte werde ich auch nie wieder vergessen.

Ab und zu sollte meine Wenigkeit das Straßenbild der Stadt ebenfalls etwas auffälliger bereichern. Das war dann der Fall, wenn ich wieder mal in den Teichen des Lenneparks eingebrochen war und über und über mit Entengrütze besät den langen Weg zu Fuß durch die Stadt antrat. Irgendwie war ich eben schon damals recht leichtsinnig.

Der Schulweg führte für die meisten von uns Schülern an jenen Teichen im Lennepark vorbei. Im Winter war das für uns natürlich eine besonders reizvolle Gelegenheit zu Mutproben und ähnlichen Späßen. Ich gehörte allermeist zu den Waghalsigsten, wodurch mein Schicksal natürlich oft schon vorher besiegelt war. Was mich vor allem reizte, war die Jagd auf Fisch, zumeist Brassen, Güstern, seltener Barschen, der sich in den Eislöchern mit ein wenig Geschick, mit der Hand fangen ließ. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich, nach einem Bad im Teichschlamm, unter dem Beifall der Mitschüler wieder am Ufer ankam, meine Fische einsammelte und im Schulranzen verstaute.

Auf dem Heimweg ging es dann zum Aufwärmen erst einmal in ein Konsum Kaufhaus. Dort staunten Kundschaft und Personal nicht schlecht, als ich Winzling, vor Kälte und Nässe schlotternd und ebenda mit Entengrütze übersäet, eine wärmende Ecke suchte. Nachdem ich mich mit Duldung des mitleidvollen Verkaufspersonals etwas aufgewärmt hatte ging es dann immerhin noch cirka drei Kilometer zu Fuß weiter, bis ich unser Haus in der Vorstadt erreichte.

Zu Hause angekommen, ließ ich die glitschigen, etwas modrig riechenden Fische (Oder roch ich etwa so?) voller Begeisterung vor den Augen meiner geschockten Mutter aus dem Ranzen gleiten. Das mit Bangen erwartete Donnerwetter hielt sich ob des unerwarteten Mahles allerdings in Grenzen. Die einzigen Zwangsmaßnahmen die erfolgten, waren, dass ich nach dem Anheizen des riesigen Waschzubers in diesem in Gänze verschwand und anschließend im Bett von Eislöchern und Fischlein weiterträumen durfte. Einmal sogar 14 Tage in Folge. Vor besagtem Kaufhaus wurde mein Vater übrigens einmal, von einem an der Straße parkenden Brauereipferd, gebissen.

Zu eben jener Zeit entdeckte ich auch meine wahre, immerwährende Liebe zur Tierwelt. Vor allem, nachdem mein Vater in einer Kneipe beim Stiefeltrinken einen total verwahrlosten, dazu noch verflohten, Hund gewonnen hatte, den wir voller Stolz an einem Strick nach Hause führten. Oder ich sag mal besser, ich die Beiden. Allerdings, kaum dass wir heimatliches Gemäuer betraten, standen wir mit unserem Schützling auch schon wieder auf der Straße. Uns blieb noch nicht einmal die Zeit, Freude über unseren Gewinn kund zu tun. Da ich mich mit dem armen Vierbeiner auf dem Heimweg anfreundete, verstand ich nicht so richtig wie uns geschah. Mein verzweifeltes Jammern änderte an der Grundsatzentscheidung meiner Mutter jedoch nichts mehr. Das einzige was im Haus auch ohne besondere Einwilligung verblieb, waren die zahlreichen Hundeflöhe.

Dass sich meine Tierliebe inzwischen verfestigt hatte, sollte folgende kleine Episode belegen. In dem betreffenden Jahr hatte sich die Oder, wie üblich bei Frühjahrsüberschwemmungen, bis an unsere Gartentür hin ausgeweitet. Eines Tages, es waren immer noch einige Restlöcher auf den nahen Oderwiesen verblieben, zogen mein Bruder und ich mit selbstgebauten Keschern ausgerüstet los, um auf Fischfang zu gehen.

Unser Glückszustand kannte nun bald keine Grenzen mehr, denn wir fingen tatsächlich zwei Hechte, die wir flugs und voller Begeisterung an den häuslichen Herd schafften. Allerdings, als es ans Schlachten ging, unsere Mutter hatte die Messer bereits gewetzt, wollten wir es nicht zulassen, dass die in unseren Augen wunderschönen Hechte einfach so getötet wurden. Ich weiß nicht weshalb, aber selbst sie ließ sich von uns überzeugen, dass diese wunderbaren Tiere auf jeden Fall ein anderes Schicksal verdient hätten. Uns fiel, zu unserem Glück eine Kneipe ein, in deren Garten ein Anglerverein gerade ein Schaubas-sin für einheimische Fische eingerichtet hatte. Der Wirt freute sich jedenfalls von ganzem Herzen mit uns, als er unser Geschenk betrachten durfte. Allerdings gestanden wir es ihm erst zu nachdem er uns glaubhaft versichert hatte, dass die Fische am Leben bleiben würden. Wir konnten danach reich beschenkt, jeder mit einer Rolle Kekse versehen, den Heimweg antreten.

Tage später kam uns in den Sinn einmal nach unseren Lieblingen zu schauen. Als wir sie im Becken nicht entdecken konnten, erkundigten wir uns, von tiefer Sorge erfüllt, beim Wirt nach unseren Hechten. Das hätten wir mal lieber nicht tun sollen. Mit zornesgewaltiger Stimme jagte er uns nämlich aus der Gaststätte, nicht ohne uns hinterher zu fluchen: „Lasst euch hier nie wieder blicken, verdammte Bengels“. Grund für die Aufregung des Wirtes war, dass die Hechte in dieser reichlichen Futterkrippe und das in kürzester Zeit, ein aus Anglers und Wirtes Sicht grausames Blutbad anrichteten. Überlebt hatten wohl nur ein paar übergewichtige Karpfen.

Stalinstadt - Eisenhüttenstadt

Die vierte Klasse hatte gerade begonnen, da zogen wir im Oktober 1958 nach Stalinstadt. Mein Vater arbeitete dort seit 1951 im neuerbauten Roheisenwerk, am Hochofen. Wir, das waren inzwischen sechs Geschwister und die dazugehö-rigen Eltern. Meine Mutter war damals schon Hausfrau und sollte es auch ein Leben lang bleiben. Bei letztendlich acht Kindern gab es dazu kaum eine Alternative. Sie zählte zuvor zu den 12,5 Millionen Betroffenen die das Ende des Krieges in einem Flüchtlingstreck miterleben mussten. Ihr Weg führte sie dabei vom nunmehr polnischen Lodsz, ins Deutschland, in seinen neuen nachkriegsbedingten Grenzen. Das Endziel war, wie das vieler Trecks aus dem Osten, Frankfurt an der Oder.

Unser „alter Herr“ hingegen erzählte einmal, dass er als Siebzehnjähriger fast erschossen worden wäre. Er war noch zum Ende des Krieges zur Kriegsmarine eingezogen worden und kam umgehend an die Westfront, nach Frankreich. Dort ist er wohl eines Tages auf seinem Posten eingeschlafen. Dass er nicht vor ein Kriegsgericht gestellt wurde, um anschließend seiner Hinrichtung beiwohnen zu müssen, hatte er wohl seinem jugendlichen Alter und einem sehr menschlich denkenden Vorgesetzten zu verdanken. Ansonsten weiß ich wenig über diese Zeit. Nur dass er 1947 aus französischer Kriegsgefangenschaft heimkam und ich wenige Monate später das Licht der Welt erblickte. Aus gut informierten Kreisen erfuhr ich irgendwann, dass im November 1947 ein total vereister Eisenbahn-Personenwaggon einfach dazu herausforderte sich irgendwie warm zu halten.

Nach der Kriegsgefangenschaft wurde mein Vater Mitglied der SED und beabsichtigte bei der Kasernierten Volkspolizei (KVP), eine Offizierskarriere einzuschlagen. Durch den Befehl 51 wurde er jedoch, da er aus westlicher Kriegsgefangenschaft kam, recht bald wieder ausgemustert. (Der Befehl 51 beinhaltete, dass alle aus westlicher Kriegsgefangenschaft heimgekehrten keine Offiziers-laufbahn einschlagen durften) Es ergab sich dann, dass er sich im EKS (Eisenhüttenwerk J. W. Stalin) bewarb und dabei war, als 1951 der erste Hochofen angeblasen wurde. Beim ersten Roheisen, das sich in nagelneue Roheisenpfan-nen ergoss, stand er dann als Schmelzer an der Abstichrinne.

1949, nach Gründung der DDR, wurde ja bekanntlich von der Regierung als eine der ersten Maßnahmen verfügt, an der Oder, nahe des Schifferstädtchens Fürstenberg / Oder, ein neues Roheisenwerk zu erbauen. Die Notwendigkeit dafür ergab sich schon daraus, dass die junge DDR bis auf 6 Niederschachtöfen, meines Wissens in Unterwellenborn, über keine eigene Schwerindustrie verfügte. Diese Öfen wurden mit minderwertigem Brauneisenerz versorgt und waren, wie leicht vorstellbar, wenig produktiv. Im Gegensatz dazu verfügte die Industrie in der BRD über 56 funktionierende Hochöfen. Die Eigenversorgung der Hütten-; und Stahlwerke durch entsprechende Rohstoffquellen war dort ebenfalls weitestgehend gesichert. Die Beschickung der neuen Hochöfen in der DDR sollte dagegen vorwiegend mit sowjetischem Eisenerz und Koks erfolgen. Der Oder - Spree -Kanal war dabei als kostengünstiger Transportweg vorgesehen und Grund dafür, dass das Werk gerade in dieser Kiefern-; und Heideregion erbaut wurde.

Die Arbeiter, die 1950 die ersten Kiefern fällten und das Werk de facto aus dem Boden stampften, betrachten es auch heute noch als ihr Lebenswerk. Es sind auch jene, die vielfach mit den Gegebenheiten des vereinigten Deutschlands nie richtig klar kommen werden, da sie sich eines Stücks ihrer Identität beraubt fühlen. Ich schreibe das hier auf, weil ich es einfach weiß. Viele aus den Anfangsjahren sind meines Wissens jedoch schon verstorben. Wer einmal zumindest fünf Jahre, wie ich später, am Hochofen tätig war kann gut nachvollziehen wie der Körper bei diesem Job schneller als anderswo auszehrt.

Werk und Stadt wuchsen sehr zügig und parallel zueinander. Von den teils unsäglichen Bedingungen auf den Baustellen spricht jedoch kaum noch jemand. Auch nicht von der Lebensqualität in den eilig zusammengezimmerten Bara-ckenlagern. Nur die „Wilde Sau“, die berüchtigste Kneipe in der ganzen Region, ist bis heute unvergessen. Dort sollen vor allem die Zimmerleute manche Schlachten, vor allem mit den Einheimischen, geschlagen haben. Schwerverletzte waren wohl, nach so manchem Zechgelage, nichts Ungewöhnliches. Dass die Bauleute, zum großen Teil erst ein paar Jahre vorher aus dem Krieg gekommen, nicht gerade zimperlich waren sollte dabei auf der Hand liegen.

Das Szenario war jedenfalls fast mit dem alter Goldgräberstädte in den USA identisch, die ja einst ebenfalls aus dem Boden gestampft, viel Blutzoll forderten. Nur dieses mal wehten über allem die blauen Fahnen der FDJ (Freie Deutsche Jugend).

Stalinstadt 1958, das war eine völlig neuerbaute Stadt mit allen üblichen Verwaltungsstrukturen, Schulen, einem modern eingerichteten Krankenhaus und natürlich wie in der DDR üblich, einem Gebäude in dem das MfS (Ministerium für Staatssicherheit) stationiert war. Das letztere interessierte uns Kinder allerdings nicht. Für uns waren vor allem die Spielplätze mit ihren zahlreichen Spielgeräten und unsere neue lichte Vierzimmerwohnung Maßstab aller Dinge. Das kannten wir aus unserer Geburtsstadt Frankfurt/Oder so nicht. Zuvor unvorstellbar waren für uns gleichfalls die für unser Empfinden riesengroßen Innenringe mit ihren Springbrunnen und den gepflegten Blumenrabatten. Die damaligen ersten Neubauten sind heute, wegen ihrer Einmaligkeit, zum Kulturgut erklärt worden

Anfang der sechziger Jahre erfolgte auf Grund der Offenbarungen, Stalin betreffend, die Umbenennung der Stadt in Eisenhüttenstadt, mit dem Zusatztitel, „Erste sozialistische Stadt Deutschlands“. Über die grausamen Machenschaften des Diktators und die Millionen Toten, Opfer seiner Willkür, durfte inzwischen auch in der DDR offen gesprochen werden. Folgerichtig war damit, zumindest in allen sichtbaren Bereichen, eine offizielle Entstalinisierung verbunden. Da die Staatsdoktrin aber weiterhin auf der Diktatur des Proletariats basierte, ist selbstredend dem stalinistischen Gedankengut, nie wirklich abgeschworen worden.

Schulzeit in Eisenhüttenstadt

Mit Beginn der fünften Klasse erhielt unsere Schule den Status einer Ganztagsschule. Das hieß für uns bis abends um 17 Uhr in der Schule zu verweilen. Dadurch hatten wir natürlich viele Möglichkeiten gemeinsamen Unsinn auszuhe-cken. So ergab es sich in jenem Schuljahr, ich glaube im Oktober, dass unserer Drei loszogen, um ein paar Hühner zu stehlen. Wir beabsichtigten allerdings nur die Hühner zum Eier legen zu „überreden“, um dann selber Küken aufziehen zu können. Ich war selbstverständlich bei dieser „hochbrisanten Aktion“ dabei. Unser Ziel war ein Gehöft in den nahegelegenen Diehloer Bergen, welches wir vorher tagelang ausgekundschaftet hatten.

Nach erfolgreicher Hühnerjagd, wir wollten uns gerade auf den Heimweg machen, hörten wir urplötzlich das markerschütternde Gebrüll des Hühnerbesitzers. Daraufhin ergriffen wir postwendend, Hals über Kopf und unserem Urinstinkt gehorchend, die Flucht. Anfänglich hielten wir dabei die gackernden Hühner noch fest umklammert, die dann jedoch ihrerseits die Flucht ergriffen. Wie es das Schicksal so will, wurden zwei von uns Hühnerdieben nach einer wilden Jagd von dem beklauten Bauern dingfest gemacht. Mir nutzten da das Hakenschlagen und dass ich selber entkam, überhaupt nichts. Letztendlich stand ich zusammen mit den beiden anderen, die mich bei den anschließenden Verhören verpfiffen hatten, vor der Klasse, um meinen Tadel zu kassieren. Das Pionierhalstuch mussten wir aus diesem Anlass ebenfalls abgeben.

Nur wenige Tage später schickte unser Klassenlehrer Mitschüler los, die bei einem Bauern 12 Junghühner für eine Zucht abholen sollten. Das war aus unserer Sicht natürlich eine Superaktion, die uns da zuteil wurde. Ich brachte dann meinen Schäferhund, den ich nicht zu Hause halten durfte, gleich mit in die Gemeinschaft ein. So ergab es sich, dass ein Schäferhund und 12 Hühner die Nächte gemeinsam im Schulkeller verbrachten.

Wie ich zu dem besagten Schäferhund kam, sollte hier auch ein paar Zeilen wert sein. Ich war damals sehr häufig, mit Pfeil und Bogen ausgerüstet, in den nahe gelegenen Wäldern unterwegs. Das geschah weniger um Wild zu erlegen, sondern ich setzte mich oftmals stundenlang in Schlehenhecken, um die Vogelwelt zu beobachten. Zu entsprechenden Jahreszeiten konnte es auch geschehen, dass ich einen Korb dabei hatte und mich auf Pilzpirsch begab. Das wurde über die Jahre hinweg eines meiner beliebtesten Hobbys. 35 essbare Pilzarten, in allen Farbschattierungen, sollten eines Tages Beleg dafür sein. Jahre später besaß ich dann sogar einen Sammlerausweis.

An jenem betreffenden Tag war ich wieder einmal, mit meinem selbstgebauten Bogen bewaffnet, losgezogen. Auf einer Waldlichtung stockte mir dann fast der Atem. Urplötzlich stand mir, praktisch aus dem Nichts aufgetaucht, ein ausgewachsener Schäferhund gegenüber, der mich unentwegt anstarrte. Mehr als den Bogen langsam hinter den Rücken gleiten zu lassen und dabei ebenfalls, aber zu Tode erschrocken, zurück zu starren blieb mir erst einmal nicht übrig. Es vergingen Minute um Minute, bis sich der Hund unvermittelt in Bewegung setzte, sich auf die Hinterpfoten erhob und mir seine vorderen „Tatzen“ auf die Schultern legte. Zur Salzsäule erstarrt durchzuckten mich in diesem Moment gar schreckliche Gedanken. Besonders jene an die Tollwut.

Irgendwann fasste ich dann meinen wahrhaftig restlichen Mut zusammen, nahm ganz vorsichtig seine Vorderpfoten und setzte sie auf den Waldboden zurück. Nach weiterer, mir schier endlos erscheinender Zeit, setzte ich mich, rückwärts gewandt, ganz, ganz langsam in Bewegung. Zu meinem Erstaunen folgte mir das Tier jedoch in gleichem Tempo. Es sollte dann keine halbe Stunde mehr vergehen bis wir beide ausgelassen herumtollten. Ich konnte es zwar immer noch nicht fassen, aber unser Spiel setzte sich bis vor die Haustür fort. Der Hund folgte mir sogar bis in die dritte Etage, vor unsere Wohnungstür.

Nach dem meine Mutter die Tür geöffnet hatte, konnten wir dann gar nicht so schnell gucken wie der Hund im Wohnzimmer verschwand. Mein Vater, eben noch beim Zeitungslesen schlug diese gerade, nichts schreckliches ahnend, zusammen, als er des Schäferhundes ansichtig wurde. Der hatte sich inzwischen direkt hinter der Zeitung positioniert. Wie von der Tarantel gestochen in die Höhe schießend, schrie er nur eins: „Raus“. So landete mein neuer Gefährte, der Schäferhund, nachdem ich ihn einige Tage auf dem Hausboden versteckte, mit samt Hühnern im Schulkeller.

Meine Liebe zur Tierwelt blieb übrigens in meiner Eisenhüttenstädter Schulzeit ungebrochen. So ergab es sich, dass ich eine Zeitlang gleich mit drei zahmen Vögeln, irgendwie auf mir verteilt, und zwar einer Elster, einem Feldsperling und einem Star, in der Stadt spazieren ging. Heutzutage kommt das Fernsehen ja schon, wenn jemand mit einem Papagei auf der Straße unterwegs ist. Es dau-erte nun übrigens nicht mehr allzu lange, bis es öfters an unserer Wohnungstür klingelte, um verletzte oder irgendwo gefundene Tiere bei uns abzugeben. Den Zusammenhang verstehe ich zwar auch heute noch nicht ganz, aber ich gehe mal davon aus, dass viele dachten, dass wir in der Wohnung so etwas wie einen Zoo eingerichtet hätten, oder gar eine Tierarztpraxis. Jedenfalls war das eine Zeit, in der unser „Chef“ fast ständig von einer tierischen Krise in die andere gejagt wurde.

Was gibt es aus diesen Tagen noch so besonderes zu berichten? Dass ich den Unterricht wenigstens stundenweise im Klassenschrank absolvierte, dürfte nichts besonderes sein. Zumal es ja nicht täglich geschah. Auch nicht, dass die ganze Klasse zwei-, dreimal nachmittags aus der Schule abgehauen ist und die Lehrer Panikattacken bekamen.

Was mir allerdings dazu noch einfällt, bezieht sich auf meine Sangeskünste. Unser alter Musiklehrer war ein echter musikdampfererfahrener Haudegen, von gedrungener Gestalt und mit in Ehren ergrauter Haarpracht. Schon vor dem Krieg heuerte er, wie er gerne kundtat, auf einem dieser Schiffe an. In seinem Umgang mit uns sollte sich sein raues, von der Seefahrt geprägtes Wesen oftmals bestätigen. Es gab ansonsten auch keinen Lehrer der es sich wagte, Kat-zenköpfe zu verteilen oder an unseren Ohren solange zu drehen, bis sie den backbordseitigen Farben der Schiffssignalbeleuchtung glichen. Trotzdem mochten wir gerade diesen Lehrer mehr als viele andere, die uns unterrichteten.

Zum Musikunterricht gehörte, wie in diesem Fach üblich, neben dem Notenschreiben, auch ab und an das Vorsingen. Eines Tages sollte es mich kalt erwischen. Ich wurde nämlich zu meinem Entsetzen, zum Vorsingen, vor die Klasse zitiert. Opa Rose, wie wir ihn fast liebevoll nannten, stimmte dann, sobald ich Position bezogen hatte, mit schmiedeeiserner Hand das Klavier an. Ich schmetterte gleich darauf, aus Leibeskräften, den entsprechenden Text dazu.

Das mutete er der Klasse jedoch nicht allzu lange zu, denn er brach seine Klavierbegleitung unversehens ab. Danach drehte er seinen Schemel ganz langsam in meine Richtung und fragte unvermittelt: „Junge singst du im sibirischen Säuferchor“? Die Klasse grölte natürlich, wie sollte es anders sein, während ich mit hochroten Ohren nach einer Antwort suchte.

1961, wir saßen gerade im Russischunterricht, brachte der Lautsprecher des Stadtfunks, der sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand, plötzlich eine Durchsage. Als wir begriffen hatten, um was es ging, sprangen die meisten von uns, ohne, dass der Lehrer in der Lage gewesen wäre einzuschreiten, Parterres aus dem Fenster und scharrten uns um Selbigen. Es war der 12. April 1961. Juri Gagarin umkreiste gerade als erster Mensch, in einer Raumkapsel die Erde. Wir Schüler waren eben zu dieser Zeit noch zu echter Begeisterung fähig. Dass die Sowjets damals die ersten waren, die einen Menschen in den Weltraum schickten, passte unserem Russischlehrer anschließend sehr gut ins Unterrichts-konzept.

Etwa im gleichen Jahr sollte ein weiteres herausragendes Ereignis fast die ganze Stadt erschüttern. Da gab es doch tatsächlich Schüler die es gewagt hatten den Mädchen der Klasse, bei denen sie schon sichtbar waren, an die Brüste zu fassen. Einmal habe ich das auch probiert, ich gebe es ja zu. Die Rädelsführer dieser hochbrisanten Attacken auf jeden Fall des Öfteren. Irgend eines der Mädchen muss dann eines Tages den Eltern gegenüber ihre Fassungslosigkeit geäußert haben. Jedenfalls reichte das eine Mal, an dem ich mich an diesen „sexuellen Ausschweifungen“ beteiligte aus, um mich im Kreise der Vorverurteilten wieder zu finden.

Was mussten wir uns da alles in Fragen von sozialistischer Moral und Ethik anhören. Es war jedenfalls fast ein Donnergrollen, das die erste sozialistische Stadt Deutschlands erzittern ließ. Wir wurden natürlich von Tag zu Tag immer kleiner und hätten alle zusammen in einen Hut gepasst. Es war dann fast ein Wunder, dass niemand der Beteiligten, der Schule verwiesen wurde. Ich glaube, für die Hauptschuldigen gab es deftige Verweise. Ich selber kam nach den umfangreichen Ermittlungen, gerade so eben mit einem Tadel davon.

1962 begann ich damit Gedichte zu schreiben. Das lag aber eher an einem Zufall. Wir sollten in einer Kurzarbeit, ein Frühlingsgedicht, meines Wissens von Eichendorff, schriftlich wiedergeben. Ich wusste zwar noch die Anfangszeilen, danach ging aber irgendwie nichts mehr und ich schrieb munter drauf los. Bei der Rückgabe unserer Arbeiten erklärte die Lehrerin vor der Klasse: „Es ist mir ja fast nicht aufgefallen“. „Trotzdem bekommst du eine Vier“. Damit beendete sie dann resolut ihre positiv - kritische Bewertung meiner „dichterischen Fähigkeiten“.
Meinen Tatendrang, weitere Reime zu Papier zu bringen, hatte sie mit diesem Statement allerdings geweckt. Meine Aufsätze wurden, wenn es darum ging in eigener Phantasie etwas niederzuschreiben, sowieso schon seit längerem vorgelesen. Auch wenn es sehr viele Jahre her ist, erinnere ich mich gerne an die knisternde Spannung die entstand, bevor ein Schüler mit dem Vorlesen meines Aufsatzes begann. Oft genug hatte ich dabei die Lacher auf meiner Seite.

Nur einmal, als es in einem Aufsatz um unseren Berufswunsch ging, schoss ich aus innerster Überzeugung über das schulseitig angedachte Ziel hinaus. Ich schrieb nämlich, dass ich den Schneemenschen, sprich Yeti, aufzuspüren gedenke. Wie ich darauf kam? Ende der fünfziger Jahre wurden gerade wieder einmal vermeintliche Spuren eines Yeti im Pamirgebirge entdeckt. Da ich schon immer von Abenteuerlust geprägt war und es mir keineswegs an Phantasie mangelte, war das ein willkommener Anlass, meine Sehnsüchte zu Papier zu bringen.

In der Benotung stand einige Tage später, Thema verfehlt 4, Ausdruck 1. Aber weshalb denn das? Fragte nicht nur ich mich. Ich sag es einfach mal so. Die Lehrerin konnte sich nicht vorstellen, dass eines Tages DDR Bürger im Pamir unterwegs sein würden, eventuell auch auf den Spuren jenes Schneemenschen. Diese Lehrerin sollte den Mauerfall nicht mehr erleben dürfen. Ansonsten hätte ich mich wahrscheinlich gerne noch einmal mit ihr über so vieles unterhalten. Es handelte sich nämlich um eine Frau, die mir nicht nur wegen ihres stetig blitzenden Unterrocks in Erinnerung geblieben ist.

Meine dichterische Neugier war nach dem Ereignis, fast genauso gut wie jener Dichter aus dem 19. Jahrhundert gewesen zu sein, jedenfalls geweckt. Mit meinem ersten Gedicht belegte ich dann gleich den zweiten Platz bei einem Schul- Kreisausscheid. Der Tod des Grenzsoldaten Reinhold Huhn war mir damals wirklich zu Herzen gegangen. Nur deshalb war ich überhaupt in der Lage gewesen die folgenden Zeilen zu Papier zu bringen. Dass ich mit dem Thema von vornherein gute Karten hatte, habe ich zu damaliger Zeit jedoch noch nicht so gesehen.

Der Grenzsoldat
Am Grenzwall steht ein Soldat auf Wacht,
im Herbst in stürmischer Regennacht.
Plötzlich - ein leises Rascheln und knacken,
darauf gleich erregtes Stimmengewirr.
Entschlossen greift der Soldat zu den Waffen,
zu spät schon ein Blitzen, ein Krachen,
ein Feuerstrahl, Kugeln durchschlagen ihn,
glühender Stahl.

Getroffen sinkt er lautlos zu Boden,
ein letzter Hauch, ein letzter Odem.
Ein letzter Gruß den jungen Genossen,
sein Leben verlöscht, von Gangstern erschossen.

An der Mauer stand der Soldat auf Wacht,
an dem Grenzwall, den sein Volk geschaffen hat.
Er stand für den Frieden und gegen den Krieg.
Er stand für ein Leben in Freiheit und Glück.

Weshalb ich das Gedicht hier zu Papier bringe? Es gehört ebenso zu meiner persönlichen Entwicklung, wie alles andere worüber ich noch zu berichten gedenke.

1962 schrieb ich mein zweites Gedicht, das sogar in der „Eisenhüttenstädter Woche“, unserer neuen Stadtzeitung, veröffentlicht wurde. Jedes Mal wenn ich daran denke, erinnere ich mich gleichzeitig daran, dass sich unser Vater, nach dem Überfall von Exil- Kubanern, in der Schweinebucht, als Freiwilliger nach Kuba eintragen ließ. Obwohl es mit ihm in unserer Familie nicht immer ganz einfach war, er tankte zum Beispiel gerne nach der Arbeit in seiner Stammkneipe auf und war danach bestimmt nicht der Leiseste, hatten wir erstaunlicherweise große Angst, dass er für immer gehen würde. Übrigens, für uns Kinder war er damals schon unser Chef, so wie er es über alle Zeiten hinweg bleiben sollte.

Cuba Si - Yenki No
Im Kongo hat der Ami gehaust,
in Vietnam ist er heut noch zu Haus,
auf Cuba jedoch hat er alles verloren,
dort wurde die neue Staatsmacht geboren.
Nicht Interventionen, noch kalter Krieg,
führten auf Cuba den Ami zum Sieg.
Heut klingen dort Lieder der Revolution,
in neuen Schulen lernt der Arbeitersohn.
Er erlernt die Gesetze vom Sozialismus
und lernt ihn zu hassen, den Kapitalismus.

Das muss ich an dieser Stelle auch einmal bekennen. Ich gehörte zwar in der Schule nicht gerade zum Spitzenteam, lag eher im Mittelbereich, aber wenn ich mit dem Herzen dabei sein konnte, erreichte ich nicht selten Spitzenergebnisse. Sogar in einigen Schulfächern.

Ich weiß es nicht mehr so genau, war es noch 1961 oder 62, ich glaub eher 1962, als ein Wostock – Raumschiff, mit drei Kosmonauten an Bord, in den Weltraum geschossen wurde. Jedenfalls war unter den Kosmonauten erstmalig ein Arzt anwesend. Dieser Arzt, namens Jegorow, besuchte kurz nach seinem Raumflug die DDR und unter anderem auch Eisenhüttenstadt. Ich war damals wahrhaftig stolz darauf, mit ihm zusammen auf einem Foto, in besagter „Ei-senhüttenstädter Woche“ abgebildet zu sein. Als ich an jenen Besuchstagen, neben einem kosmischen Händedruck auch noch ein Autogramm auf einem zu diesem Anlass herausgebrachten Briefmarkenblock erhielt, kannte meine Be-geisterung keine Grenzen.

1962 ging es eines Tages, in Güterwaggons verfrachtet, nach Frankfurt an der Oder. Zu einer Friedenskundgebung, wie uns gesagt wurde. Als wir auf dem Platz vor dem Rathaus eintrafen, war dort bereits eine unübersehbare Men-schenmenge versammelt. Irgendwie gelang es mir, es war noch nie mein Ding gewesen ganz hinten auszuharren, mich ganz langsam und mit viel Geschick bis kurz vor die Tribüne durchzuschieben. Als die Musik einer polnischen Kapelle fast neben mir zu hören war, wusste ich, dass ich es fast geschafft hatte. Wenig später trennten mich dann nur noch eine Stuhlreihe und der Sicherheitsabstand von der Tribüne.

Auf den Stühlen waren, wie ich dann im Laufe des Gesprächs mit einer älteren Dame erfuhr, Arbeiterveteranen platziert worden, die darauf warteten später auf die Bühne gerufen zu werden. Kaum wurde mir das kundgetan, ließ mich der Gedanke dort oben unbedingt dabei sein zu wollen, nicht mehr los. Nachdem ich der Frau, mit etwas Herzklopfen, meinen Wunsch geäußert hatte, bot sie mir an, mich mit nach oben zu nehmen und als ihren Enkel auszugeben.

Nach für mich unendlich langer Zeit hatten dann alle Regierungschefs ihre Reden, von denen ich allerdings nicht viel mitbekam, gehalten. Es waren neben Ulbricht und Chruschtschow noch die Staatsoberen Polens und der CSSR. Daraufhin wurden die Veteranen endlich auf die Bühne beordert. Ich mischte mich nun, voll wilder Entschlossenheit, unter die Gruppe und erreichte ge-meinsam mit ihr den Tribünenaufgang. Die Hälfte der Treppe hatte ich bereits zurückgelegt, als ich verspürte, wie mich jemand am Hemd packte und zurückreißen wollte. Während ich mich entschlossen los riss schrie ich, den Blick nach vorn gewandt: „Ich gehör dazu“ und stand kurz darauf, mit den anderen zusammen, auf der Tribüne. Bis hier her reichte wohl der Einflussbereich der Sicherheitskräfte nicht mehr und sie mussten sich zwangsläufig mit dem Tatbestand meiner Anwesenheit, auf der Tribüne, abfinden. Das Herz schlug mir verständlicherweise bis zum Halse, als ich mich bei den Auserwählten mit einreihte.

Kurz darauf begann das Defilee der Staatschefs, einem Jeden von uns die Hand reichend. Nun war ich ja, wie nachvollziehbar sein sollte, mit meinem eher jugendlichen Outfit, im Protokoll überhaupt nicht vorgesehen. Alle Regierungschefs stutzten erst einmal ohne Ausnahme, gaben mir dann aber ebenfalls die Hand. Das Erstaunen stand ihnen dabei förmlich ins Gesicht geschrieben. Es ist mir noch immer in unvergesslicher Erinnerung, wie Nikita S. Chruschtschow dabei breit grinste und Walter Ulbricht sich ein geradezu süßsaures Lächeln abrang.

Wenige Stunden später erfuhr ich, dass der ganze Akt im Fernsehen gesendet wurde und ich tatsächlich von einigen Zuschauern erkannt worden bin. Das war also de facto mein erster Fernsehauftritt. Ein Tatsachenbericht von mir, über diesen „unfassbaren Vorgang“, erregte anfangs noch eini-ges Aufsehen. Kurz darauf war die Zeit Chruschtschows jedoch abgelaufen und die Aufzeichnungen für niemanden mehr von Interesse.
 



 
Oben Unten