Der Flüsterer

R

Ruth Luise

Gast
Als ich an meinem 45. Geburtstag aufwachte, regnete es. Ich beschloß, den Vormittag im Bett zu verbringen, holte eine Flasche Champagner aus dem Kühlschrank, legte Tchaikovkys Violinkonzert in D-dur auf und ging wieder ins Schlafzimmer. Die wunderbare Canzonetta des Zweiten Satzes war gerade verklungen, als es an der Haustüre läutete. Ich öffnete und stand einem kleinwüchsigen Mann von etwas sechzig Jahren gegenüber. Er war mit einem fast bodenlangen Kleppermantel bekleidet, auf dem Kopf trug er eine Wetterhexe. "Was kann ich für sie tun", fragte ich und musterte ihn, "Wollen sie mir etwas verkaufen?" Er schüttelte sachte den Kopf und ich sah sein Profil. Er war hager, ohne der Typ des Hageren zu sein. "Ich wurde beauftragt, ihnen ein Geschenk zu überbringen", sagte er und bewegte kaum die Lippen beim Sprechen, "es handelt sich um eine Geschichte". "Eine Geschichte?" Wiederholte ich ungläubig und unsere Blicke trafen sich im Garderobenspiegel. "Ja, ich soll Ihnen eine Geschichte erzählen und wurde dafür im Voraus bezahlt", flüsterte er, nahm die Wetterhexe ab und wendete mir sein Gesicht zu. Auf seinen Wangen erschien eine Stafette winziger Falten. Eine merkwürdige Gespanntheit ergriff mich, als ich ihn in die Wohnung bat. Er nahm einen großen Schluck von dem Mineralwasser, das ich ihm brachte und strich dann mit dem Mittelfinger über den Glasrand, ohne den Ehrgeiz einen Ton zu erzeugen. "Und nun?" sagte ich "welche Geschichte werden sie mir erzählen?". "Ich werde Ihnen von der Lust erzählen", flüsterte er , "oder wünschen Sie etwas anderes zu hören?" Ich schüttelte den Kopf und begann das herabhängende Tischtuch zu kneten. Schließlich warf ich ihm einen Blick zu, und wieder strich er über den Glasrand, diesmal mit Ton. Dann begann er ohne weitere einführende Worte von einem Zimmer zu erzählen, in das wir uns zurückgezogen hätten.
"Es liegt im ersten Stock eines Hotels, Straßengeräusche sind zu hören. Aber Ihr Atem übertönt bald das Stimmengewirr der Passanten, kleine Schweißperlen erscheinen auf ihrer Stirn..."
Ich trank das Glas Champagner aus und versuchte, das Geflüster nicht auf mich wirken zu lassen, der Flüsterer fuhr unbeirrt fort.
"Sie machen ein Hohlkreuz, ich halte ihr heißes Gesicht. Meine Hände sind kühl. Sie möchten sprechen, aber sind nicht fähig dazu. Ich nehme Ihre Arme und lege sie Ihnen hinter den Kopf, ich küsse ihre Achseln. Mit meinen Lippen schreibe ich Ihnen das Wörtchen Glück auf die Haut. Bald reicht es von ihren Schultern bis zu den Knien. Ich glätte ihr durchnäßtes Haar. Sie schauen mich an, als trieben sie auf einen Abgrund zu, immer wieder sagen sie: Nein. Dann richte ich mich auf und breche ihren Widerstand."
Mir stieg die Röte ins Gesicht. Fast ohne Stimme hauchte ich: "Womit?""
Mit der Überlegenheit meines Alters."
Ich tupfte mir die Lippen ab und betrachtete ihn. Ein großer Ernst umgab diesen Mann. Er begann weiterzuerzählen.
"Wir beide wissen, daß es keinen zweiten Versuch geben wird. Gemeinsam müssen wir durch ein Nadelöhr, für das jeder allein zu groß wäre in seiner Begierde. Nur wenn wir einen Augenblick lang alles aufs Spiel setzen, schaffen wir es vielleicht. Noch kontrolliere ich mich und schenke Ihnen damit Zeit; auch darin zeigt sich die Überlegenheit meines Alters. Doch ich lasse Sie auch fühlen, daß ich mich jederzeit vergessen könnte. Ich halte Sie in der Schwebe, längst glänzt ihr ganzer Körper. Ab und zu reden wir leise. Jedes unserer Worte ist wie eine zusätzliche, geschickte Berührung. Wir verzichten auf alle Kosenamen. Sie greifen mir blind ins Gesicht. Ihre Nägel schleifen an meinem Rücken. Sie erstarren für einen Moment, auch ich halte inne. Dann genügt eine einzige schwache Bewegung, und ich spüre das Verkrallen Ihrer Finger. Eine Straßenbahn fährt vorüber und erschüttert den Boden. Ihr Mund schließt sich um meine Hand. Ich dämpfe Ihren Schrei..."
Er sah mich an und strich mit dem Daumen über das Tischtuch. Er verstand sich auf die Kunst einer Pause. Wer er sei, wollte ich fragen, aber fand keine Worte. Es war so, als wären alle Worte bei ihm und alle Sprachlosigkeit bei mir. Er fuhr fort. Ein Strom leiser, musikalischer Sätze drang in mein Ohr.
"Sie ringen nach Luft, ich streichle ihr Haar. Der ganz Nachmittag liegt noch vor uns. Wir schweigen und keuchen. Sie haben diesen aufwärts gerichteten Blick eines Menschen, der sich weigert, seinen Traum aufzugeben. Sie träumen von der vollkommenen Lust, einem Versinken darin. Ich berühre ihr Knie, Sie murmeln Ungereimtes; Kissen und Bettuch liegen längst auf dem Boden. Sie bäumen sich auf. Fünf, sechs, sieben Herzschläge lang sind Sie nur mehr ein Geschöpf, das sich auflöst. Ich betrachte Sie jetzt aus einer gewissen Distanz. Ich sehe, wie sie sich vergessen. Dann geht ein Flattern durch all ihre Muskeln und Sie erschlaffen. Blässe überzieht Ihr Gesicht, es nimmt einen kindlichen Zug an. Sie beginnen zu frieren, so erschöpft ist ihr Körper; Sie fragen nach meinem Namen. Ich flüstere ihn und Sie wiederholen leise. Kurz darauf kommt die Eintönigkeit. Sie hat keine Vorboten, sie ist plötzlich da. Uns Sie wenden sich der Wand zu, während ich mir Gesicht und Hände abtrockne. Mein Blick fällt auf die Vorhangfalten. Wie spät mag es sein, frage ich mich. Um gegen meine Müdigkeit anzukämpfen, komme ich auf Ihre Gefühle zu sprechen. Ich möchte wissen, was Sie für mich empfinden. Und zur Wand hin antworten Sie: NICHTS..."
"Das würde ich nie sagen" Diese Worte waren mir herausgerutscht. Der Flüsterer sah mich an. Sein Gesicht trug Spuren von Schlaflosigkeit, das fiel mir jetzt auf. "Erzählen Sie oder ich?" fragte er nur. Er lächelte für einen Moment, und die Art, wie seine Lider dabei schwer wurden und dem Blick etwas Gebrochenes gaben, sagte mir, daß er diesem sonderbaren Gewerbe nur nachgehen konnte, weil ihm die Frauen nichts oder nichts mehr bedeuteten. Er schien sie zu verachten, nachdem er eine von ihnen vergeblich geliebt hatte. Mit dem kleinen Finger schob er seine weiße Manschette zurück. Er trug keine Uhr, doch sah man einen hellen Hautstreifen rund ums Gelenk. Er hat sie versetzen müssen, die Uhr, schoß es mir durch den Kopf: er ist völlig am Ende, nur seine Sprache konnte er retten. "Ist die Geschichte fertig?" fragte ich leise.
Er sah mir in die Augen, und ich schloß sie. Deutlich hatte ich das Hotelzimmer vor mir. Seine ersten Worte hörte ich kaum. Dann hob er die Stimme.
"Es ist dunkel geworden, und ich bestelle ein Essen für uns. Meeresfrüchte und eine Schale mit Obst, frischgepreßten Saft aus Orangen, zwei klare Fleischbrühen. Ein junger Kellner bringt es aufs Zimmer, er kommt und geht geräuschlos. Wir essen im Bett. Anschließend sinken wir in einen Schlummer. Der Lärm des Nachtverkehrs weckt uns auf. Über uns steht die Luft. Ich greife um deine Hüften, es dauert nur Sekunden, bis wir vereint sind. Wir sprechen jetzt nicht mehr. In den Straßenlärm mischt sich dein Jetzt... Ich halte Dich, bis es verklingt. Wir liegen nebeneinander. Gehen wir noch in die Nacht, schlage ich vor."
Er leerte sein Glas, und ich nickte. Ich hatte keinen anderen Wunsch, als mit ihm aufzubrechen und in diese Nacht zu gehen und irgendwann zurückzukehren in dieses Hotelzimmer. Bis ich die Augen öffnete, bis ich ihn fragte: Wer sind Sie?" "Das gehört hier nicht hin." Er lächelte wieder. "Waren Sie zufrieden mit meiner Geschichte?" Ich stand auf und brachte ihm noch ein Glas Mineralwasser. Ich versuchte Zeit zu gewinnen. Meine Antwort sollte wohl überlegt sein. Denn ich war mehr als zufrieden. Ich war fasziniert. Und sicher spürte der Flüsterer meine Schwäche für ihn, ließ es mich aber nicht wissen. Plötzlich war eine seltsame Stille zwischen uns.
"Ihre Geschichte", sagte ich, "ist sehr schön."
"Sie ist zu Ende", antwortete er mit ungewohnt lauter Stimme, "bringen Sie mich zur Tür?"
 

ingridmaus

Mitglied
Wow! Tolle Geschichte. Wirst Du den Fluesterer wiederverwenden? Ich waere gespannt, wie seine Geschichten ueber Themen wie Sehnsucht, Wut, Liebe, Erfuellung oder so aussehen...
 

McFire

Mitglied
Mal eine (für mich) etwas andere Art des Schreibens. Sehr interessant.
Erzeugt auch eine Art von Wehmut, daß diese Art Kommunikation wohl ein Traum bleiben wird.
 
M

Monfou

Gast
Die Geschichte in der Geschichte

Liebe Ruth Luise,

nun, wieder eine sehr schöne, vollgelungene Story. Die erotischen Momente sind sauber gearbeitet. Der Schluss sitzt. Dieses Problem, das wir immer wieder haben,warum Tschaikowkis Violinkonzert in D-Dur und nicht Mendelssohns Violinkonzert? Was ich meine, die konkrete Benennung ist nicht zwingend, aber das ist nicht schlimm, ich meine nur, in so einem Text darf alles zwingend sein. Was ich gut finde, es ist der 45. Geburtstag, klar, kein anderer kommt in Frage.

Frag mich nicht, warum der 45. Geburtstag zwingend ist und der Tschaikowski - der natürlich zu Champagner passt und sehr festlich ist - nicht so ganz. Das ist so eine Sache der Intuition. Des Gespürs beim Lesen.

Liebe Grüsse von Monfou

PS: Ich mag diesen Tschaiko sehr. Diese hochromantische Violinphrasierungen. Mhhh!
Ach ja, ich habe eine entfernt verwandte Geschichte geschrieben (Das Buch), wie gesagt, entfernt verwandt, denn es geht da ums Lesen und nicht ums Erzählen. Werde ich später vielleicht mal zugänglich machen.
 



 
Oben Unten