Der Fotograf

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KultUrknall

Mitglied
Ich schwenke die Schale mit dem Entwickler und das einzelne weiße Papier gleitet in der schwappenden Flüssigkeit hin und her. Langsam erscheint das Bild, ganz langsam. Erst die dunklen Töne als graue Schatten, später die Hellen. Von unten aufgenommen, könnte man die Unsicherheit in Lauras Lächeln sehen. Ich fotografierte sie von schräg oben. Auf Hochzeitfotos ist kein Platz für so etwas. Ich würde den Mann neben ihr gerne herausschneiden, Laura und ihr gläsernes Lächeln isolieren. Ich habe eigentlich schon immer in Bildern gedacht, die Welt eingegrenzt. Die Wirklichkeit ist chaotisch und verwirrend, aber wenn man ihr einen Rahmen verleiht, kann man sie ordnen. Wenn man Dinge ausschneidet und einrahmt, ergeben sie vielleicht einen Sinn.

Ich habe Laura während meines Designstudiums kennen gelernt. Es war auf einer Party und sie kam, als ich längst gehen wollte. Ich habe an diesem Abend kein Wort mit ihr gewechselt, aber ein Foto habe ich gemacht. Sie trug ihre Haare damals noch lang, offen und durcheinander. Auf dem Foto beugt sie sich zu einer Freundin herüber, ihr Gesicht glüht vom Alkohol und der Hitze. Ihre grünen Augen sind fast völlig geschlossen und Zigarettenqualm schwebt vor ihrem Gesicht. Ich habe ihr dieses Foto nie gezeigt, obwohl es das Beste von ihr ist.
Damals erfuhr ich durch Zufall, dass sie neben ihrem Studium in einer Galerie arbeitet. Nach einigen Schwierigkeiten besorgte ich mir dort einen Job als Fotograf. Ich fotografierte die neuen Gemälde, die Fotografien, die Skulpturen und manchmal fotografierte ich Laura. In ihrem schwarzen Hosenanzug, die Haare mühsam in einen Zopf gezwängt, vielleicht mit etwas Make-up auf dem Gesicht. Sie hat nie absichtlich gelächelt, wenn ich die Kamera auf sie gerichtet habe. Ich mag keine Menschen, die auf Fotos immer glücklich aussehen wollen. Sie verzerren die Gegenwart, belügen die Zukunft. Laura sah auf Fotos selten glücklich aus.
Vor einem halben Jahr tauchte dann der Ring auf. Ich hatte ihn während der Aufnahme gar nicht bemerkt, plötzlich erschien er wabernd im Licht der Dunkelkammer. Wie aus dem nichts. Nicht viel mehr als ein unscharfes Detail. Zuerst hielt ich ihn für einen Fehler, vielleicht ein Staubkorn auf der Linse. Sie sah nicht aus, wie eine verlobte Frau. In den folgenden Wochen, habe ich viele Fotos von ihr gemacht - Großaufnahmen von ihrem Gesicht, von ihren feinen, weißen Fingern - aber der Ring blieb. Wie eine ewige Bildstörung, wie ein gefälschtes Lächeln.

Ich mag keine Hochzeiten, aber ich wollte heute unbedingt der Fotograf sein. Wollte sehen, wie sich alles entwickelt - Laura, die Bilder, das Staubkorn auf ihrem Finger. Manche Fotos brauchen viel Zeit im Entwickler um richtig klar zu werden. Als Fotograf muss man warten können, ein Gefühl für das richtige Timing haben. Ich nehme das entwickelte Bild aus der Schale, fixiere das frische Paar. Alles ist stechend klar.
 
M

Minds Eye

Gast
Ein beklemmender Text. Erinnert mich an "One Hour Photo" oder so.
Die Fotografie als Paradoxon. Distanz und Nähe. Die Intimität von Fremden. Prächtig.
Gruß,
ME.
 

Rodolfo

Mitglied
Die Wirklichkeit im Rahmen

Neben dem Leben stehen. Als Beobachter. Als Fotograf (Zeichner, Maler, Dichter?). Schauen, wie sich das entwickelt. Das ist doch der Punkt. Manchmal glaube ich, dass wir weniger Beobachter, mehr Teilnehmer sein sollten. Also, rauf auf die Bühne, die Leben heisst!

Danke für diesen Beitrag, diesen Anstoss, diesen Denk- Anstoss.

Betroffen: Rodolfo
 



 
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