Der Fremde

Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlußlichter rasch kleiner wurden.

Am frühen Nachmittag traf sein Blick inmitten gleichförmiger, ausdrucksloser Gesichter auf ein aufmerksames, blitzendes Augenpaar. Irritiert musterte er den Fremden mit den Lachfältchen um Augen und Mundwinkel und der gepflegten, aber auch sehr farbenfrohen Kleidung. „Hallo Jörn!“, rief eine bekannte Stimme. „Ach, hallo Andre!“ „Das ist mein Cousin Chris – mein Kumpel Jörn!“, stellte er ihm den Paradiesvogel vor. „Hast nicht Lust ...“, Jörn spürte die wohlwollenden Blicke des Cousins, „... mit uns heute abend um die Häuser zu ziehen?!“, fragte Andre. „Ich glaube, er möchte lieber nicht!“, warf Chris mit hochgezogenen Augenbrauen ein. „Ach was, na klar kommt er mit. Wir zeigen dir schon, daß so ´ne Kleinstadt auch was hergibt! `ne Jörn?!“, und er klopfte ihm auf die Schulter.
Zu Hause überlegte Jörn, was er am Abend anziehen sollte. Er sah ungewohnt lange in den Spiegel. Ihm schien, als beobachtete ihn daraus dieser Chris, als würde er mit seinen Augen bis ins Innerste hineinschauen.‚Ich möchte lieber nicht!‘, murmelte er.
Im „Wilden Mann“ gab es dann ein großes „Hallo“ und „Wen habt ihr denn da mitgebracht?“
„Hi, ich bin Eva!“, machte sie Chris schöne Augen.
Andre grinste seinen Cousin an. „Welcher richtige Mann kann schon den verlockenden Früchten“, er stierte in ihren weiten Ausschnitt, „der holden Eva widerstehen!?“
Eva sah spöttisch lächelnd zu Jörn. Dieser genehmigte sich schnell einen großen Schluck Bier.
Chris zwinkerte Jörn zu und konterte: „Welche richtige Frau mag Männer, die ihr nur auf die Titten und den Arsch sehen, aber das zarte und intelligente Wesen in dem Körper vergessen?!“
Claudia klatschte Beifall.
„Welche Frau gibt sich mit einem gebildeten, einfühlsamen Mann, der aber im Bett ein Schlappschwanz ist, zufrieden?!“, konterte Andre.
„Ich nicht!“, lachte Eva heiter angetrunken.
„Solch ein gebildeter, einfühlsamer Mann ist vielleicht der beste Freund einer Frau und hat guten Sex mit einem anderen Mann!“, erwiderte Chris.
Eva stierte ihn mit geweiteten Augen an.
Jörn sah von Chris zu Andre. Dieser lachte: „Guten Sex kann man als richtiger Mann nur mit einer Frau haben!“ Er haute Eva lüstern auf den Hintern.
„Was sagst du dazu, alter Freund?!“, fragte Andre und stieß Jörn an.
„Ich?!“, stammelte er.
„Ist doch widernatürlich, zwei Männer, iiii ...“, Eva schüttelte sich und kam dabei leicht ins schwanken.
„Wieso denn das?“, meinte Claudia, „Ist doch keine Krankheit. Soll doch jeder nach seiner Fasson glücklich werden!“
Jörn starrte in sein leeres Bierglas.
„Steh deinem alten Kumpel bei!“, rief Andre.
Jörn sah unsicher seinen Freund an: „Ich möchte lieber nichts dazu sagen.“
Während Andre völlig betrunken mit Eva rumknutschte, brachte Jörn Chris zum Bahnhof. Sie liefen schweigend durch die leeren Straßen. Jörn schossen Erinnerungen durch den Kopf. Die erste Nacht mit Eva – sie verzieh ihm. Die zweite Nacht – sie schwieg. Die dritte – sie verließ ihn. „Herrliche Luft und dieser sternenklare Himmel!“, riß Chris Jörn aus den Gedanken. Die Erinnerungen entschwanden im Nebel des Vergessens und er mußte lächeln. Jörn fühlte sich leicht und beschwingt neben Chris. Auf dem Bahnsteig stand der Zug schon bereit. Sie sahen sich in die Augen. Mit den Worten: „Besuch mich mal, dann zeig ich dir das Großstadtleben!“, drückte Chris ihm eine Visitenkarte in die Hand. Ein Augenzwinkern und er war im Zugabteil verschwunden.

Er drückte die Zigarette aus. Die Dunkelheit hatte längst den Zug verschlungen. Er fühlte nach der Visitenkarte im Mantel. „Vielleicht möchte ich doch.“
 
G

Guest

Gast
Hallöchen Sommersprossenelfe!

Super bewältigte Aufgabe!!!! Der Mann am Bahnhof mit der Zigarette, ich kenne das. Schau mal in mein Profil, ich glaube wir sind fast "Kollegen"!

Viele Grüße,
Guido
 
Hallihallo Guido!

*schmunzel* - scheint als wären wir "Kollegen". Das finde ich ja interessant, die Welt ist klein ;)
Danke für Dein Urteil - wäre ja mal interessiert, wie Du die Aufgabe gelöst hast!?

Guten Start in die Woche,
Sommersprossenelfe
 
G

Guest

Gast
Hi Antje,

also, mich hat das jetzt doch gedrückt mit der Story und habe sie schnell noch hier reingesetzt. Sie ist von 1996, aber lies mal selbst.
Gruß,
Guido
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo sommersprossenelfe,

also die ersten drei Sätze deines recht niedlichen Geschichtchens (mir waren es gemessen an der Länge der Geschichte lediglich zuviele Protagonisten) brauchte ich gar nicht zu lesen. Die kenne ich auswendig. Mich würde mal interessieren, was deine AAA-Letoren, die mir alle ein wenig prüde vorkamen, auf Evas Arsch und Titten reagiert haben. :))

Gruß Ralph
 
Hallo Ralph!

Naja, auch die Lektorin meinte, daß ich "... ruhig auf ein oder zwei Nebenfiguren verzichten." sollte.
Wie sie auf Evas Arsch und Titten reagierte, würde ich auch gern wissen - bemängelt hat sie´s zumindest nicht.

Aber wieso "niedliches Geschichtchen"? Ist ein Stück Realität - Beobachtungen gemixt zu einer Geschichte. Niedlich ist ein Kind, sind eventuell Tiere, und Geschichten darüber - aber dieser Text niedlich? Hmmm ... *grübel*

Gruß,
Sommersprosse
 



 
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