Der Freund der Nacht

Verlust - Ohne Hoffnung - Weihnachtswunder

Verlust

„Bleib doch!“
Es war keine Bitte, es war ein Flehen, und tief in meinem Innersten wusste ich, dass ich das Falsche tat. Bevor die Erkenntnis aber noch an die Oberfläche gelangen und Gestalt annehmen konnte, war sie auch schon wieder verschwunden. Verschluckt von der Angst vor der Trostlosigkeit des heraufziehenden Morgens.
Er, der das Ziel meines Flehens war, hatte sich schon auf den Weg gemacht, dorthin, wo er die taghellen Stunden verbringen würde. Zu dem Platz, den ich nicht kannte, und zu dem ich ihm auch nicht folgen konnte.
Würde er zurückkommen?
Ich bebte, da sah ich, dass er innehielt.
Langsam drehte er sich um, blickte mich erst fragend an, lächelte dann, immer noch verwundert, tat aber einen Schritt auf mich zu, tat noch einen und war bei mir. Er stieg wieder in mein Bett und umarmte mich. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Er war da, stark und warm, ein großer Mann mit einem Körper, der mir Schutz versprach, Mut und weitere Träume – in diesem Moment war ich unbesiegbar.
Die Kraft, die er mir gab, hielt mich am Leben – so gerade eben, aber ohne sie wäre ich nicht mehr, davon war ich zutiefst überzeugt. Aber auch mit ihr war es schwer, den Tag zu überstehen, an dem ich nichts haben würde außer Erinnerung. In manchen Momenten würde mich die Sehnsucht überwinden und zu Tränen treiben, und nur in ganz seltenen Fällen war es mir möglich, ihn auch am Tag herauf zu beschwören. Nur dann, wenn ich glaubte, nicht mehr atmen zu können vor Beklemmung und Schmerz, wenn mir schlecht war von dem Gefühl der Ausweglosigkeit, zeigte er sich. Schemenhaft nur, aber doch Hoffnung auf mehr, auf die Begegnung zu später Stunde.
Doch es gab auch Nächte, in denen ich ihn nicht dazu bewegen konnte, zu mir zu kommen. Dann wartete ich vergebens, hoffte und bangte, lief unruhig durch die Zimmer, gelangte schließlich zu der Überzeugung, ihn auf immer verloren zu haben und war niedergeschmettert. Dann durchdrang das Dunkel der Nacht jede Faser meines Körpers, und jeder Hoffnungsschimmer ging unter. Dann hatte ich Angst, war ich Angst, über und über nichts als Angst und Verzweiflung.

Die alten Muster, nach denen ich handelte, wollte ich nicht sehen, und ich verschloss meine Augen fest vor der Tatsache, dass es immer schon so gewesen war. Jeden Mann, mit dem ich eine Beziehung eingegangen war, hatte ich irgendwann dringend gebeten, mich nicht allein zu lassen. Bei mir zu bleiben … vierundzwanzig Stunden am Tag, 7 Tage in der Woche.
Funktioniert hatte das nie. Alle waren sie gegangen, hatten mich verlassen und der Einsamkeit übereignet, mich der Hilflosigkeit und der Verzweiflung ausgesetzt. Dabei kann ich nicht alleine sein. Wie ein Alp lastet dann die Stille auf mir, nimmt mir den Atem und lähmt mich. Also erdachte ich mir einen Gefährten. Einen, den mir keine andere würde nehmen können. Mein Geschöpf, das keine anderen Interessen hätte neben mir und Freunde auch nicht.
Doch dann überfielen mich die gleichen Ängste wie schon zuvor. Die Illusion, die meinen Vorstellungen entsprungen war, verselbstständigte sich.
War er bei mir, und das war er oft, dann war es schön. Und hätte mein Misstrauen mir nicht den Blick verstellt, dann hätte ich das auch sehen können und genießen. Doch das vermochte ich nicht, jedenfalls nicht dauerhaft. Die Zweifel kamen immer wieder. Sie wurden stark und stärken, und mir gelang es immer seltener, sie in die Flucht zu schlagen. Also begann ich damit, Fragen zu stellen und Bemerkungen zu machen. Sie zielten darauf ab, mich seiner zu versichern, seiner absoluten Hinwendung, die ausschließlich mir gelten sollte.
Er reagierte so, wie die Männer vor ihm es auch getan hatten. Er kam zwar immer noch so gut wie jede Nacht, doch gleichzeitig entfernte er sich zusehends von mir. In mir passierte, was immer schon passiert war: Mein Ego war beleidigt und tobte, mein Herz tat weh, und alles in mir weinte. Ich grübelte und fragte. Ihn, mich … er war ich und ich war er, wir wechselten die Rollen und drehten uns im Kreis, wir fanden den Ausgang nicht.

Seit zwei Nächten ist er nicht mehr bei mir gewesen. Bin wie betäubt, kann nicht denken, schleppe mich durch die Wohnung – vom Bett ins Bad, zur Couch, zu einem Stuhl am Küchenfenster …
Seit einer Woche schon herrscht brütende Hitze, es ist August, Hundstage. Die Hitze ist in alle Räume gedrungen, und auch die Nächte bringen kaum Abkühlung. Doch heute Morgen ist Wind aufgekommen, und im Westen steht dunkel eine Wolkenbank. Nicht lange, dann wird aus Wind Sturm werden. Er wird die Wolken herantreiben, Blitz und Donner werden sie begleiten, und sie werden ihre Regenlast über der Stadt abladen.
Ich bin von meinem Stuhl aufgestanden und sehe durch das Glas des Küchenfensters auf die Bäume im weitläufigen Innenhof. Ihr Laub ist dunkelsommergrün und hitzeschlaff. Der bleigraue Himmel drückt die Stadt in den Staub. Alles ist still, die Welt holt Atem. Ein Fenster fällt krachend zu, die Bäume biegen sich im Sturm, und erste Blitze durchzucken die Wolken.
In der Fensterscheibe sehe ich mein Spiegelbild. Teilnahmslos betrachte ich eine Frau, der die schwarzgefärbten und sehr kurz geschnittenen Haare wie Stacheln vom Kopf abstehen. Ich sehe in kleine, müde Augen, deren Farbe ich nicht ausmachen kann. Und dann ist er da. Ein Schemen nur, überlagert sein Gesicht meins. Aus meinen Augen sieht er uns an, Bedauern im Blick und Flucht, und ich weiß, es ist vorbei. Nun wird er mich endgültig verlassen, davonfliegen mit den Wolken im Sturm.
Ich habe verloren. Habe mich verloren.
Irgendwo in der Vergangenheit ist mir das Vertrauen abhandengekommen, in mich, in meine Familie, in die Menschen meiner Umgebung, und schließlich wurde der Verlust allumfassend. Mein Leben ist mir entglitten, und ich mir mit ihm. Wie in einem Dominospiel die Steine fallen, so ist das eine die Reaktion gewesen auf das andere, und ich weiß, wenn ich nicht eingreife, wird sich nichts ändern. Aber ich kann nichts tun, habe keine Kraft und kein Zutrauen mehr in mich selber, bin wie gelähmt. Es ist ein Teufelskreis, und ich drehe mich in ihm. Drehe mich wieder und wieder um mich selber, um mein verpfuschtes Leben und bin wie vernagelt.


[ Ohne Hoffnung
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Mit dem Gewitter im August endete der Sommer. Viel Regen folgte, grau verhangene Tage, Sonnenschein nur manchmal. Es war eine Zeit zwischen den Jahreszeiten, und eigentlich war es gar keine. Nichts Halbes und nichts Ganzes, nicht Fisch und auch nicht Fleisch.
Ich konnte nicht schlafen, aber wach war ich auch nicht.
Fühlte mich, als sei ich unter Wasser. Alle Geräusche waren gedämpft, alles floss um mich herum, die Dinge verloren ihre reale Form, waren verzerrt und grotesk. Manchmal flößten sie mir Angst ein – was, wenn die Wand, an die ich mich gerade lehnte, nachgeben und mich in die Tiefe reißen würde?
Den Großteil meiner Tage verbrachte ich auf dem Stuhl am Küchenfenster. Ich sah zu, wie die Blätter an den Bäumen sich verfärbten, wusste, dass sie nun gelb wurden und rot und golden und sah doch nur gleichmäßig grau. Ich wurde Zeugin, wie diese Blätter langsam zu Boden schwebten, dort erst einen Teppich bildeten und dann starben. Wie gerne wäre ich ihnen gefolgt. Doch ich hatte keine Kraft, mir den dazu nötigen Plan auszudenken, geschweige denn, ihn in die Tat umzusetzen … aber vielleicht war ich auch einfach nur zu feige dazu. Die Minuten schleppten sich dahin, quälten sich und mich, um zu Stunden zu werden, zu Tagen, zu Wochen …
Ich wollte schlafen, tief und lange, das gelang nur mit Alkohol. Diverse Händler, die ins Haus lieferten, versorgten mich damit, so musste ich meine Wohnung nicht verlassen. Über meine Schwelle nach draußen zu treten, das brachte ich schon lange nicht mehr fertig. Mit Einbruch der Dunkelheit begann ich zu trinken. Der Spätherbst in diesem Jahr war anthrazitgrau, und die Dunkelheit kam früh.

Der süße Likör erinnerte mich an die Kirschgärten meiner Kindheit. Ein wildes Kind war ich gewesen und ein glückliches. Doch dann hatte sich alles geändert, und von heute auf morgen geriet meine Welt aus den Fugen. Niemand bemerkte, wie verzweifelt ich war, nicht einmal ich selber. Fortan gab es für mich nur noch die Schule. Ganz selbstverständlich erwartete man besonders gute Leistungen von mir, und weil ich geliebt werden wollte, erbrachte ich sie.

Bier und Schnaps erinnerten mich an lange Nächte in Studentenkneipen. Wenn es etwas zu feiern gab, war ich dabei. Stets sehr gut gelaunt, laut und fröhlich - ein fragwürdiger Mittelpunkt. Die Tage waren angefüllt mit Vorlesungen und Übungen, mit Lernen, Klausuren und Hausarbeiten, mit gut sein, besser sein, erfolgreicher sein. Trotz langer Nächte immer wach, immer am Ball, Anerkennung generierend und Liebe.

Wein und Prosecco anstatt Champagner, erinnerten mich an Empfänge, Galadinners, Vernissagen, an rote Teppiche und an eine erfolgreiche Frau. Groß gewachsen, schlank und schön, die blonden Haare lang und immer nach der neusten Mode gestylt. Von den begehrtesten Männer umschwärmt und innen einsamer mit jedem Tag. Dann immer mehr Kokain – ein Aufbäumen, das erstaunlich lange gut gelang und dann abrupt endete: erst Verlust der Kontrolle, dann Verlust der Freunde, kein Job mehr, keine Anerkennung, Männer, die kamen und nie blieben. Noch mehr Einsamkeit, Verzweiflung, der erdachte Gefährte. Tiefe Resignation an grauen Wintertagen und auch kein Aufatmen, wenn sich die Sonne einmal blicken ließ. Dann und wann nur blitzte ein Gedanke auf – Selbstvertrauen. Doch kaum gedacht wurde er verdrängt von Resignation – wo sollte ich es suchen? Ich wusste ja nicht einmal, wo ich es verloren hatte.

Die Menschen um mich herum begannen ihre Fenster und ihre Stuben zu schmücken. Wenn schon bald am Nachmittag die Dämmerung in die Räume kroch, knipsten sie das Licht an. Dann saß ich im Dunkeln auf meinem Stuhl am Küchenfenster und sah ihnen zu. Sie gingen emsig umher, dekorierten die Zimmer für den Advent und dachten wohl auch schon an Weihnachten. Kerzen wurden aufgestellt und angezündet, und ich sah Tannengrün. Manchmal glaubte ich, es riechen zu können, und dann musste ich die Erinnerungen, die dieser Duft mir brachte, eiligst weit von mir schieben. Aufhören konnte ich mit meinen Beobachtungen dennoch nicht. Im Gegenteil, dieses Zusehen übte eine ganz eigene Faszination auf mich aus, und mit jedem Tag wartete ich ungeduldiger auf das Einsetzen der Dämmerung. Wartete auf das alte Ehepaar, das kaum sprach aber immer zu zweit am Tisch saß, auf die Mutter mit ihren beiden kleinen Kindern, auf das junge Paar, das manchmal stritt und sich dann doch wieder umarmte. Am wichtigsten aber war mir die Familie in den Fenstern genau gegenüber: Mutter und Vater, ein Bub und ein Mädel, sechs oder sieben Jahre alt schätzte ich und immer wieder auch ein älteres Ehepaar. Die Großeltern, malte ich mir aus, seien das, die in der Nähe wohnten und häufig zu Besuch kamen, den Kindern vorlasen, ihnen Geschichten erzählten und sie sehr lieb hatten.
Was meinen Blicken entzogen war, malte ich mir aus: die Schlafzimmer, die Diele, das Bad. Erdachte Spaziergänge am Sonntagnachmittag, Erlebnisse der Kinder in der Schule, die Frau und der Mann in der Intimität ihrer Ehebetten. Bald gehörte ich zu ihnen, stand ganz am Rande zwar und war doch Teil des Ganzen.


Weihnachtswunder

Etwas erschreckt mich, und ich werde übergangslos wach. Mitten am Nachmittag bin ich auf meinem Beobachtungsposten eingeschlafen, seltsam, das ist noch nie geschehen. Und da war etwas … ein Bild in einem Traum, eine Stimme, ein Geräusch vielleicht? Ich erinnere mich nicht, und je mehr ich mich anstrenge, es doch zu tun, desto schneller zerbröseln die wenigen Fragmente, die das erschreckte Erwachen übrig gelassen hat. Was bleibt ist eine nagende Angst, ein Grauen vor etwas, das wie eine dunkle Bedrohung auf mich zukommt. Ich kann sie nicht greifen, doch ich weiß, ich kann ihr nicht entgegen. Mir ist kalt, und ich zittere. Hinter mir auf dem Tisch steht eine Flasche, ich greife mit bebenden Händen nach ihr, trinke einen tiefen Schluck, spüre den scharfen Alkohol in meinem Hals, mich graust, und ich verstehe nicht, warum das auf einmal so ist. Mittlerweile ist es dunkel draußen, und mein Blick irrt über den Hof und durch das Geäst der blattlosen Bäume zu meiner Familie. Der Lichtschein aus ihren Fenstern beruhigt mich, und ich sehe, dass alle um den großen Tisch in der Küche versammelt sind: Die Mutter und der Vater, die Großeltern und natürlich die beiden Kinder. Sie essen und trinken, sprechen miteinander, gestikulieren und lachen. Im Raum nebenan ist es dämmrig, und ich kann den Weihnachtsbaum, den der Vater am Nachmittag dort aufgestellt hat, nur schemenhaft ausmachen. Doch ich weiß, es ist ein großer Baum, beinahe bis hinauf zur Decke geht er, und er ist reichgeschmückt. Lange hat die Mutter damit zugebracht, all die kleinen, glitzernden Dinge an den grünen Zweigen zu befestigen, und ich habe ihr geduldig dabei zugesehen. Die Kinder sah ich nicht, sie werden den Nachmittag bei den Großeltern verbracht haben.
Wind kommt auf, und die kahlen Äste der Bäume bewegen sich. Meine Augen folgen ihrem sachten Schwanken, mir wird ein wenig schwindelig davon, und dann gleitet mein Blick zurück zu den erleuchteten Fenstern gegenüber.
Das Bild hat sich verändert. Es ist gestochen scharf und nah, und ich schrecke vor ihm zurück. Ich will meine Augen verschließen vor dem, was ich sehe, doch ich kann es nicht. Ein weiter Raum, ein großer Tisch von Stühlen umstellt, Schränke an der einen Wand, Bücherregale an einer anderen, ein Sofa und mehrere Sessel, die um einen niedrigen Tisch gruppiert sind. Ein Christbaum, gerade gewachsen, ausladend und über und über geschmückt, zieht meine Blicke auf sich. Seine Kerzen duften nach Bienenwachs, und etwas wie Freude durchströmt mich. Dann stören mich streitende Stimmen. Worte wie abgehackt, laut und grob. Sie ängstigen mich, rasch drücke ich mich in die Ecke zwischen Sofa und Wand, kneife meine Augen zu und lege meine Hände fest über meine Ohren – wenn ich nichts höre und nichts sehe, wer weiß, geschieht gar nicht, was geschieht.
Es hilft nichts, die Stimmen werden lauter, vor Schreck öffne ich meine Augen, lasse auch meine Hände sinken und starre auf meinen Vater und meinen Großvater – Vater und Sohn. Sie stehen dicht voreinander, die wutverzerrten Gesichter hochrot, die Münder aufgerissen.
Meine Großmutter nähert sich ihnen, hebt beschwichtigend die Hände, will schlichten. Die Männer beachten sie nicht, und als sie es noch einmal versucht, stößt mein Vater sie mit Macht beiseite, sie taumelt, verliert das Gleichgewicht, schlägt hart auf dem Boden auf und bleibt regungslos liegen. Meine Mutter stürzt herbei, kniet sich hinunter zu ihr, ruft sie an, und ich höre die Angst in ihrer Stimme. Die streitenden Stimmen sind verstummt, die beiden Männer stehen da und starren auf die Frauen am Boden. Erst malt sich Verwunderung und Ungläubigkeit auf ihren Gesichtern, dann sehe ich, wie dieser Ausdruck sich in Schreck verwandelt. Ganz langsam geht es vor sich, und mein Großvater murmelt „Augusta“. Dann kommt Bewegung in ihn, er geht ebenfalls in die Knie, schiebt meine Mutter beiseite und beugt sich über seine Frau. Sie rührt sich immer noch nicht, und ihre Augen öffnet sie auch nicht. Ich stehe da, bin wie im Nebel und ganz und gar unbeteiligt. Die Angst von vorhin ist verschwunden, ich bin gar nicht ich, ich gehöre gar nicht dazu, das alles geht mich nichts an.
Wieviel Zeit vergangen ist, weiß ich nicht, dann kommen Männer in weißen Hosen und Jacken in gelb und orange. Zwei haben eine Trage dabei und einer einen großen Koffer. Sie scheuchen die anderen beiseite, beugen sich über die Frau am Boden, und tun etwas mit ihr, das ich nicht sehen kann, mit ihren breiten Rücken versperren sie mir den Blick. Sie reden miteinander in knappen Worten, es dauert lange, dann legen sie die Frau, die meine Großmutter war, auf die Trage und fahren sie aus dem Zimmer. Mein Großvater folgt ihnen und weist meinen Vater unwirsch zurück, als er ebenfalls mit ihnen gehen will. Meine Mutter steht mitten im Zimmer mit hängenden Armen, die Augen blicklos in die Ferne gerichtet, und mich beachtet niemand.
Mir ist, als stürzte ich ab aus großer Höhe, atemlos warte ich auf den Aufschlag, er kommt nicht, stattdessen zucke ich zusammen und finde mich auf dem Stuhl am Küchentisch sitzend wieder. Der Wind draußen ist stärker geworden, die Äste der Bäume bewegen sich heftiger. Ich beobachte sie und habe Angst, in die erleuchteten Fenster gegenüber zu blicken. Dann wage ich es doch und atme auf – ihnen geht es gut. Die Kerzen am Weihnachtsbaum sind entzündet, und die Familie schart sich um ihn. Sie singen gemeinsam, will mir scheinen, und die Kinder treten ungeduldig auf der Stelle. Die alten Bäume im Innenhof ächzen im Wind, und im Licht der erleuchteten Fenster sehe ich kleine dunkle Punkte, die zu Boden taumeln.

Sonnenschein dringt durch die Ritzen der Jalousien und malt ein Streifenmuster auf meine Bettdecke. Ich betrachte es aus den Augenwinkeln, gähne, strecke mich und fühle mich seltsam ausgeschlafen. Ich rümpfe die Nase, die Luft im Zimmer ist muffig und abgestanden. Ich stehe auf, mir wird schlagartig schwindelig und ich schwanke. Es gelingt mir, mich zu fangen, mühsam schleppe ich mich zum Fenster und ziehe die Jalousien hoch. Blinkendes Weiß blendet mich, und ich kneife meine Augen fest zusammen. Doch das Bild lässt mich nicht los, und ich öffne sie wieder. Einen kleinen Spalt nur, doch der genügt der Faszination dieses Wintermorgens, um mich ganz und gar gefangen zu nehmen. Ich stehe da und sehe hinaus in eine Zauberwelt aus Eis und Schnee und Sonnenschein. Noch nie habe ich etwas Schöneres gesehen, und der Wunsch hinauszugehen und einzutauchen in dieses Wunder überkommt mich mit großer Macht.
Ich bin ihr gefolgt, habe mich erst unter die Dusche geschleppt, mir die Haare gewaschen und sie sogar geföhnt, ein wenig gefrühstückt und mich dann sorgfältig angezogen. Ich fühle mich schwach, kann mich nur langsam bewegen, und für einen Moment habe ich Angst, es nicht einmal bis über die beiden Treppen hinunter und vor die Tür zu schaffen. Doch es muss sein, ich spüre es deutlich, also denke ich jeden einzelnen Schritt, bevor ich ihn tue, aber ich denke nicht darüber hinaus. Blende jeden weiteren Gedanken aus, wichtig ist nur der nächste Schritt – einer, dann noch einer, ein weiterer …
Es tut gut, im Freien zu sein. Wie würzig und frisch die Luft schmeckt, ich koste von ihr, ausgiebig und in tiefen Zügen, ganz ohne mein Zutun gleitet ein Lächeln über mein Gesicht und in meinem Kopf flüstert es: „Nimm dieses Geschenk an, vertraue auf deine Stärke.“
Eine Weile muss ich über diese Worte nachdenken, doch dann ist es, als sinke ein dunkler Schleier zu Boden. Er fällt langsam, und dahinter kommt Stück für Stück die Wahrheit zum Vorschein, die mir stets verschwiegen worden war. Wie auf Glas gemalt, legt sich das Bild des weihnachtlichen Wohnzimmers meiner Kindheit über den verschneiten Innenhof, und ich begreife das Ausmaß des damaligen Geschehens: Meine Großmutter starb durch die zornige Handlung des eigenen Sohnes, und nun bekommen auch die Worte einen Sinn, die meine Mutter meinem Vater wenig später ins Gesicht spie, als meine Eltern sich alleine glaubten: „Deine Schuld hat er nicht um deinetwegen verschwiegen, bilde dir das nur nicht ein! Einzig und allein für seine Enkelin hat er das getan!“
„Opa!“
Mein Herz ist so schwer, und meine Knie zittern, ich lehne mich an die Hauswand und stütze meine beiden Händen auf das sonnenbeschiene Mauerwerk, um mich aufrecht zu halten. Ich atme tief ein und aus, fühle mich allmählich kräftiger und setze meinen Weg fort. Langsam spaziere ich dahin, spüre die Schwäche meines Körpers, und wie gleichzeitig ein Funke Hoffnung in mir aufkeimt.
Urvertrauen – irgendwann habe ich irgendwen dieses Wort sagen hören. Was genau es beschreibt, kann ich nur ahnen, und ich habe die vage Vorstellung, dass es das ist, was mir an jenem Heiligabend abhandengekommen ist, als ich noch ein Kind war. Durch den Tod meiner Großmutter, die gleichzeitig meine Vertraute war, durch die Schuld meines Vaters, die nie gesühnt wurde, und durch das lieblose und gezwungene Miteinander, das nach jenem 24. Dezember unser Leben bestimmte. Ich bleibe stehen, gerade und ohne zu schwanken, das Fünkchen Hoffnung in mir wächst – immerhin weiß ich jetzt, wo mir das Vertrauen abhandengekommen ist.
 



 
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