Der Gefrorene

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wowa

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Der Gefrorene

Linda hat einen neuen Job mit Dienstwagen und Fahrer. „Unabhängig, motiviert, vielsprachig“ stand in der Stellenbeschreibung. Genau das ist Linda und noch einiges mehr. Ihr Vertrag läuft über ein Jahr. „Dann ist der Laden abgewickelt,“ sagt ihr Chef. Er hat die Firma selbst erst vor kurzem übernommen. Ihr Vorgänger hat gekündigt. Wäre interessant, mit dem zu reden. Linda hat keine Wahl. Dem Chef geht es ausschließlich um die Altfälle. „Nur die haben Potential,“ sagt er, „den Rest schalten wir ab.“

Zwei Wochen später im sonnigen Monaco ist Linda auf dem Weg zu ihrem ersten Kundengespräch. Am Pförtnerhaus gibt sie ihre Karte ab, sie wird abgepiept, gescreent, ihre Sachen geröntgt und dann knirscht weißer Kies unter ihren Weißwandreifen. Der Verwaltungssitz der Handelsgesellschaft liegt auf einer kleinen Anhöhe. Linda wird erwartet.
Nach den Floskeln kommt sie zur Sache.
„ Meine Herren, eines der Geschäftsfelder meiner Firma ist das Einfrieren von Menschen. Häufig geschieht das im Zusammenhang mit einer zu Lebzeiten des Klienten unheilbaren Krankheit, z.B. Krebs. Naturgemäß haben unsere Verträge lange Laufzeiten, doch leider läßt die Zahlungsmoral der Hinterbliebenen gelegentlich zu wünschen übrig, zumal unser Verfahren recht aufwändig ist und beträchtliche Kosten anfallen. Stets, wenn ein Vertrag ausläuft und die Frage im Raum steht: Auftauen, d.h. zum Leben erwecken oder abschalten, also begraben, diskret und auf Wunsch anonym, intensivieren wir unsere Recherchen mit dem Ziel, unsere Vertragspartner um eine Entscheidung zu bitten und sie gegebenenfalls an die Einhaltung ihrer Vertragspflichten zu erinnern.“

Linda macht eine Pause von ein, zwei Sekunden und läßt ihre Worte wirken. Ihr Französisch ist perfekt, sie ist gut in Form. Die drei Männer ihr gegenüber schweigen. Sie fixiert den deutlich ältesten, einen hageren Typ um die sechzig mit schlohweißem, vollen Haar und fährt fort:
„ Ihr Großvater, Monsieur, ließ sich vor fünfzig Jahren einfrieren. Ihr Herr Vater unterschrieb den entsprechenden Vertrag und Sie sind sein Rechtsnachfolger.“
Linda schiebt dem Hageren ein vergilbtes Schriftstück über den Tisch.
„ Nach unseren Informationen starb ihr Herr Vater vor fünfzehn Jahren. Seit dem gingen bei uns keine Zahlungen mehr ein.“
Sie klappt ihren Laptop auf und zeigt den Anwesenden ein Foto.
„ Dieses Bild Ihres Großvaters wurde letzte Woche aufgenommen. Die Konturen sind naturgemäß ein wenig verwischt, denn immerhin liegt unser Klient seit nunmehr fünfzig Jahren in diesem gläsernen Sarkophag. Gleichwohl wirkt er vital und alle Organe einschließlich des Gehirns sind intakt. Im Falle seines Auftauens hätte er gewiß noch einige schöne Jahre vor sich.“
Die Stille im Raum ist mit den Händen greifbar. Der Alte sitzt sehr aufrecht in seinem Sessel und schaut Linda aufmerksam an. Um seine Lippen, so scheint ihr, spielt ein ironisches Lächeln. Schließlich sagt einer der beiden andern:
„ Um welche Summe handelt es sich?“
„ Die laufenden Kosten pro Jahr liegen bei einer halben Million €, hinzu kommen Verzugszinsen von fünfunddreißig Prozent. Wir können demnach von einem Betrag um die zehn Millionen € ausgehen.“
Die Katze ist aus dem Sack, das Meeting kommt in die entscheidende Phase, Linda spürt ein leichtes Kribbeln unter der Kopfhaut.
„ Mademoiselle Linda,“ erstmals ergreift der Alte das Wort. Er spielt mit ihrer Karte, seine Stimme ist überraschend hoch und von einer kristallenen Kälte, „ es ist bewährte Praxis dieses Hauses, nur mit tatsächlichen Entscheidern in Kontakt zu treten. Wir werden also demnächst ihren Chef besuchen müssen.
Was Sie betrifft: Monaco und der Vatikan unterhalten seit Jahrhunderten ausgezeichnete Beziehungen. Der Vatikan hat ein problematisches Verhältnis zu Frauen, besonders zu renitenten Frauen. In den Katakomben gibt es einen Zellentrakt, schon sehr lange, dort bekommen Sie Lebensmittel, Getränke, auch Alkohol und sitzen so lange ein, bis Sie tot sind.“
Eine Mitarbeiterin betritt den Raum, legt eine Dokumentenmappe auf den Tisch und verschwindet. Der Alte schaut kurz hinein, nickt und wendet sich wieder an Linda. Er lächelt.
„ Alternativ zu dieser unerfreulichen Perspektive haben Sie jetzt die Möglichkeit, Ihren Job zu kündigen. Sie werden beim Verlassen unseres Hauses im unteren Empfangsbereich eine Aufwandsentschädigung entgegennehmen können, die Ihnen diesen Schritt angemessen vergütet. Im übrigen: Sie sind allein. Ihr Fahrer ist bereits gefahren.“
Er schiebt ihr die Papiere über den Tisch.
„ Unterschreiben Sie !“
Linda tut es.
„ Gut. Ihren Laptop und Ihr Handy werden wir auswerten. Nennen Sie uns jetzt alle erforderlichen Zugangscodes.“
Linda gibt ihm die Daten. Das Kribbeln unter ihrer Kopfhaut hat sich zu einem veritablen Juckreiz entwickelt. Sie fühlt sich wie das berühmte Kaninchen. Sie müßte sich dringend mal kratzen.
„ Gut,“ der Alte erhebt sich, „ gehen Sie jetzt. Und denken Sie daran: Falls wir uns noch einmal begegnen, wird das für Sie existentielle Folgen haben.“

Linda verläßt das Meeting und geht hinunter zum Pförtnerhaus. Ihre High-heels sind dafür nicht gemacht, der Weg zieht sich, sie fühlt die Augen in ihrem Rücken. Unten an der Schranke geben ihr die Männer zwanzigtausend € in bar, verlangen eine Quittung und fotografieren sie bei der Unterschrift. Es ist ihr egal. Mit Monaco ist sie sowieso fertig.
Später, in Frankreich im TGV, in bequemen Schuhen, schüttelt sie ein wildes Lachen. Die Nummer mit dem Vatikan war wirklich gut. Das alte Monster konnte kleinen Mädchen richtig Angst machen. Respekt.
Andererseits, ihr Job war ein Minenfeld und früher oder später wäre sie an den Falschen geraten, keine Frage. Die Leute mögen es nicht, auf diese Art abgezogen zu werden. Sie hatte Glück und zudem noch etwas Geld abgegriffen. Schon merkwürdig, daß der Alte ihr einen Haufen Kohle hinterherschmeißt. Sentimentalität? Erinnerung an die eigenen Anfänge? Vielleicht.
Alles in allem ist Linda mit dem Tag zufrieden. Sie lehnt sich zurück, schließt die Augen und beinah im gleichen Moment taucht sie ab in einen phantastischen Traum.
Lassen wir sie schlafen.
 



 
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