Der Geist im Flur

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Costner

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An diesem Novembermorgen war alles anders. Eisblumen zierten die Fenster im geräumigen Kinderzimmer, in dem ein kleines Mädchen schlief, beobachtet und gut behütet von einer Schar Teddybären, die sich am Fenstersims versammelten. Die Tapete des Kinderzimmers war himmelblau, lachende und spielende Teddybären flogen mit bunten Luftballons an Zuckerwatteweißen Wolken vorbei. Von der Deckenlampe aus grinste breit ein gelber Mond das Mädchen jeden Abend in den Schlaf. Der Teppich Kornblumenblau und auch dort – Teddybären mit Waffeln und Eis, bunten Luftballons und Feuerwehrhelmen. Sie alle lachten, waren glücklich.
Das Mädchen lag eingemummelt unter ihrer flauschigen Decke, während unter ihrem Arm ein Teddybär mit einer bunten Zipfelmütze den Morgen begrüßte.
Das Mädchen lebte in einem großen Haus, umgeben von einem riesigen Garten, der an einen See grenzte. Im Winter färbte sich das Wasser dunkel. Das Haus war viktorianischer Abstammung. Auf dem Giebel saß eine seltsam anmutende Figur in der Gestalt eines Tieres. Niemand kannte ihren Ursprung.
Eine Reihe von Fotografien zierte die matt gestrichenen Wände des langen Flures im ersten Stock. Portraits der Familie, von Ausflügen, auf denen spielende Kinder zu sehen waren, lustig gekleidete Erwachsene und zahlreiche Landschaftsaufnahmen vom Umfeld des Hauses. Eine der Aufnahmen zeigte den dunkeln See im Winter. Ein kleiner Junge stand am Seeufer und winkte in die Kamera. Sein Gesicht war kreidebleich, dass weiß der Zähne schimmerte an diesem verschneiten Tag und das dunkle Braun seiner Haare fiel ihm ins Gesicht.
Die Dunkelheit der Nacht waberte aus den Räumen und dem Flur des Hauses. Es war kalt und die Stille legte sich über das Anwesen, als hätte das Leben der Familie hier keinen Eintritt. Eine kleine Kommode stand an der Wand, darauf ein besticktes Deckchen, eine antike Schirmlampe und ein Bilderrahmen mit einer verschwommenen Person. Das Fenster am Ende des Flurs, das den Blick auf den dunklen See freigab, war mit Eisblumen bedeckt.

Ein tiefer Seufzer hallte durch den Flur. Das kleine Mädchen drehte sich in ihrem Bett um und fuhr sich verschlafen mit dem Handrücken über die Augen. Ihr blondes Haar setzte sich in alle Richtungen ab. Aufmerksam starrte sie auf die große weiße Zimmertüre. Ihr Atem blieb flach und neugierig horchte sie in den Flur. Sie hatte etwas gehört, nur was? Ihre Müdigkeit war mit einem mal verschwunden und auch ihr schöner Traum. Mit einem Ruck zog sie die Decke von ihrem Körper und vergaß damit die mollige Wärme, in die sie sich eben noch geschmiegt hatte. Ihre kleinen Füße tapsten auf dem dunkelbraunen Laminatboden Richtung Haustüre und versuchten dabei, kein Geräusch zu machen. Zielstrebig war sie und unerschrocken. Dann griff sie nach der Türklinke und drückte sie langsam herunter. Ein Knarzen erfüllte die Stille des Kinderzimmers. Sie zog vorsichtig die Türe auf und streckte den Kopf in den Flur. Ihre durchdringenden blauen Augen guckten in die Leere, niemand war da und auch kein Geräusch. Immer noch neugierig trat sie mit wenigen Schritten in den weiten Flur hinaus und sah sich um. Das kleine Mädchen ließ sich nicht beirren, lief zu dem Fenster mit dem Blick auf den dunklen See und zog sich auf den breiten Sims hinauf. Ihre zierlichen Hände berührten den warmen Marmor des Fenstersimses. Sie wunderte sich, da im Gegensatz zum Fenstersims alles kalt war und keine Heizung ihn erwärmen konnte. Sie hüpfte wieder hinunter und lief den Flur entlang, begleitet durch das knarrende Geräusch der Dielen. Das kleine Mädchen machte vor dem Bild mit dem unbekannten Jungen Halt, der am Seeufer stand und in die Kamera winkte. Ihre Augen trafen seine und sie sah etwas, was niemand sonst sehen konnte.
Das Mädchen kniete auf dem dicken Polster um über den Tischrand sehen zu können. Mit großen Augen beobachtete sie die Cornflakes in der Schüssel. Ein Bouquet zierte in strahlenden Farben den Frühstückstisch. Ein halb gefülltes Orangenglas stand auf der anderen Seite des Tisches. In der Luft lag der Duft frisch gebrühten Kaffees. Das kleine Mädchen beobachtete ihren Vater, wie er sich Zucker in eine Kaffeetasse gab.
„Ich habe ein Geräusch gehört“, sagte das Mädchen mit heller Stimme. Ihr Vater drehte sich um. Er rieb sich mit beiden Händen das Gesicht und fuhr sich durch das schüttere Haar.
„Ein Geräusch?“ Er seufzte, als hätte er diese Nacht nicht gut geschlafen. Das Mädchen runzelte die Stirn.
„Was für ein Geräusch?“, fragte er. Sie bugsierte ohne großen Hunger einzelne Cornflakes auf den Löffel.
Das Mädchen grinste ihren Vater an. „Das was du gerade gemacht hast“, antwortete sie lebhaft. Die Kaffeemaschine gab ein röcheln von sich.
„Was habe ich denn gerade gemacht?“
„Na, das eben“, sagte sie und holte tief Luft, die sie mit großer Anstrengung über die Nase wieder ausatmete.
„Du meinst, das Seufzen?“
Das Mädchen nickte erfreut. „Ich bin davon aufgewacht.“
„Ja? Vielleicht hast du es nur geträumt?“, fragte der Vater und goss sich Kaffee in die Tasse. Er rührte den Zucker mit dem Löffel klappernd um und setzte sich an den Frühstückstisch.
Das Mädchen schüttelte heftig den Kopf, so dass ihre blonden Haare wild durch die Luft flogen. „Nein, habe ich nicht“, sagte sie störrisch und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie presste ihre Lippen fest aufeinander und beobachtete ihren am Kaffee nippenden Vater.
„Wo war denn das Geräusch?“
„Im Flur“, antwortete sie schnell. Dann sprang sie auf und wollte gehen. Doch er rief sie zurück.
„Was ist mit deinem Frühstück?“
„Ist zu matschig“, sagte sie und verschwand aus der Küche.
Die Eisblumen waren geschmolzen und in kleinen Rinnsalen am Fenster herunter gelaufen. Am stahlblauen Himmel schien die Sonne, doch merklich wärmer wurde es dadurch dennoch nicht. Das kleine Mädchen schlich mit vorsichtigen Tritten die letzten Treppenstufen zum Flur hinauf. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, als sie die blasse Leere des Flures erkannte. Selbst die Bilder vermittelten einen farblosen Eindruck, auch wenn sie farbig waren. Langsam schlurfte sie zum Fenster am Ende des Flures. Sie beugte sich nach vorn und betrachtete den dunklen See, der in der Winterzeit immer unheimlich wirkte. Die Wasseroberfläche war glatt wie Glas und das Spiegelbild der Natur im See vermittelte den Eindruck, beides würde ineinander verschmelzen. Gedankenverloren streifte sie mit ihren Blicken durch den Flur und lehnte sich an das Fensterbrett. Sie spürte in ihrem Rücken den kalten Luftzug, der zwischen den Ritzen des Fensters drückte. Sie seufzte auf und verkroch sich in ihr Zimmer.

Der Flur war leer. Heute Nacht schien der Vollmond besonders hell und so sickerte das fahle Licht durch die angelaufenen Fensterscheiben und warf groteske Schatten an die Wände des Flurs. Draußen ging ein leichter Wind und die Oberfläche des Sees kräuselte sich. Die Stille beherrschte das Haus, alle schliefen tief eingehüllt in ihren warmen Bettdecken. So auch das kleine Mädchen, im Arm ihren Teddy, der sie in dieser Nacht in ihren Träumen begleiten sollte. Das Zimmer war unaufgeräumt. Auf dem Boden lag überall Spielzeug, Buntstifte und auf dem Schreibtisch des Kinderzimmers einige angefangene Zeichnungen. Darauf waren Vater und Mutter neben einem schwarzen, großen runden Fleck gezeichnet, der den dunklen See unten darstellte. Neben ihren Eltern war sie gemalt und dann noch ein schwarzgekleideter, kleiner Junge an der Hand des kleinen Mädchens. Das Bild vermittelte den Eindruck einer glücklichen Familie. Bunte Luftballons trug der Wind in den Himmel, kleine Wölkchen trieben davon und das Haus der glücklichen Familie mit fröhlichen Farben unterstrichen.
Das Mädchen schreckte hoch, als ein unheimliches Seufzen die Stille im Flur zerriss. Hellwach starrte sie zur geschlossenen Zimmertüre. Sie brauchte sich diesmal nicht die Augen zu reiben, denn der Schlaf war in Sekundenschnelle vertrieben. Mit leisen Schritten näherte sie sich der Türe, drückte die Türklinke um den Kopf in den Flur zu stecken. Ihre Augen waren schnell an die Dunkelheit gewöhnt und sie hatte keine Angst. Mit festem Schritt trat sie in den Flur hinaus und starrte zum Fenster am Ende des Flurs. Ihr Schlafanzug ließ sie unberührt und unschuldig wirken. Sie verschränkte die Hände hinter dem Rücken und starrte weiterhin zum Ende des Flurs.
„Ich bin Ana und wer bist du?“, flüsterte sie, damit sie ihre Eltern nicht weckte. Eine vom fahlen Mondlicht beschienene Gestalt schreckte unvermittelt auf. Er war ertappt. Ana, das kleine Mädchen, sah ihn unverwandt an, betrachtete ihn von oben bis unten und staunte. Die Gestalt verharrte vor dem Fenster, ihr Gesicht lag im Dunkeln, während der Körper von hinten durch das Mondlicht angestrahlt wurde. Sie starrte ihn mit ihren neugierigen Augen an.
„Ich bin Daniel.“ Ana hörte nur mit Mühe seine flüsternden Worte. Sie spürte seinen Blick auf sich ruhen. Die Angst war groß, die Eltern aufwecken zu können. Sie fühlte sich von seinem Blick gefangen.
„Was machst du?“, fragte sie unschuldig. Ihre Hände baumelten an ihrem Körper. Zwischen den beiden lag eine ungewisse Anspannung. Daniel war nervös und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Er sah unsicher aus dem Fenster und beantwortete dann ihre Frage.
„Ich sehe aus dem Fenster“, begann er vorsichtig, während sie ihm mit ihren fragenden Blicken begegnete. „Ich sehe mir den See an. Er ist schön dunkel, dass Mondlicht spiegelt sich in seiner ruhigen Oberfläche, die so zärtlich in diesem Licht erscheint, als könnte man sie streicheln“, fuhr der Unbekannte fort. Die Anspannung begann zu weichen. In den Augen ihres Gegenübers erkannte sie, dass er Vertrauen fasste.
„Wohnst du hier?“, fragte Ana und kniff die Augen zusammen, um ihn besser zu erkennen. Doch das Dunkle umgab ihn wie eine schwarze Hülle, die sie nicht durchdringen konnte. Der Fremde zögerte auf die Frage der Kleinen. Er rieb sich nachdenklich über die Stirn, dann hob er den Kopf, sah sie wieder an, nickte.
Er nickte. „Ja, ich wohne hier.“ Seine Stimme war sanft und klang besonnen. „Es ist lange her, dass ich hier am Fenster stand und den See betrachtete. Es ist so viele Jahre her“, grübelte er. Ana trat einen Schritt näher heran, während er erschrocken zurücksetzte.
„Ich will dein Gesicht sehen“, erklärte sie. Der Junge stieß mit dem Rücken an das Fensterbrett, er konnte nicht weg. Unerschrocken trat Ana noch näher.
„Ich kenne dich“, sagte er. Ana erkannte das Gesicht wieder, als sie es endlich sah. „Du wohnst hier, mit deinen Eltern zusammen. Ich sehe dich hin und wieder, wie du unten im Garten spielst. Auf der Schaukel und wenn du um den See spazierst, manchmal allein, manchmal mit deinem Vater.“ Daniel sah aus dem Fenster. Das Mondlicht erfasste die zugefrorene Eisdecke des Sees und ließ sie wie Diamanten funkeln.
Ana schlurfte vorsichtig und lautlos weiter nach vorn, als sein Gesicht vom Mondlicht leicht gestreift wurde. Daniel zuckte zusammen und Ana erschrak. Auf einmal war sie froh, sein Gesicht nicht gesehen zu haben.
„Ich kenne dich“, sagte sie bestürzt, als hätte sie einen Geist gesehen. Rasch drehte sie sich um und zeigte auf das Foto, das an der Wand hing. Es zeigte den Jungen am See, der in die Kamera winkte. So schnell sie sich dem Jungen wieder zuwandte, so war er auch schon verschwunden. Ana fröstelte und eine unheimliche Kälte erfasste sie. Sie wollte nicht glauben, dass sie geträumt hatte. Es schauderte sie, als sie sich dem Fenster näherte und etwas spürte, dass sie mit Worten nicht zu beschreiben vermochte. Schließlich kroch sie zurück ins Bett und versuchte einzuschlafen. Es gelang ihr nicht, immer wieder hatte sie das Bild des Jungen vor Augen.

Die Cornflakes waren schon matschig geworden und Ana rührte lustlos darin herum. Verstohlen beobachtete sie ihren Vater der wie üblich an seinem Kaffee nippte während er die Zeitung las. Ein Poltern, das von oben kam, riss bei de aus ihren Gedanken. Dann versenkte sich ihr Vater wieder kopfschüttelnd in seiner Lektüre. Sie wand sich ihrem Vater zu, als würde er nicht in seiner Zeitung lesen.
„Der Junge vom See war heute Nacht da.“ Der Mann sah seine Tochter stirnrunzelnd an.
„Welcher Junge?“, fragte er irritiert.
„Na der Junge, der Junge von dem Foto oben im Flur“, erklärte Ana.
Jetzt wurde er neugierig, legte die Zeitung auf den Küchentisch und beugte sich nach vorn.
„Er war wo?“
„Im Flur, heute Nacht. Ich habe mit ihm geredet.“
Sorgenfalten erschienen auf seiner Stirn.
„Du hast ihn im Flur gesehen? In unserem Haus?“ Ein Staunen lag in seiner Stimme.
Ana nickte, als wäre es das normalste der Welt. „Er heißt Daniel“, sagte sie.
„Daniel“, murmelte ihr Vater nachdenklich. Er konnte sich an das Foto oben im Flur erinnern. An den Jungen, der am See stand und in die Kamera winkte. „Und du hast mit ihm gesprochen?“
“Ja.“
„Was hat er gesagt?“
„Er wohnt hier“, antwortete Ana und begann mit dem Löffel in der Schüssel zu spielen. Entsetzten machte sich bei Anas Vater breit. „Er hat uns um den See spazieren gehen sehen“, fuhr sie fort. Unschuldig schaute sie ihren Vater mit großen Augen an.
Der Vater seufzte. „Es war sicher nur ein Traum“, erklärte er abwertend und griff zu seiner Zeitung um wieder darin zu lesen.
„Nein, es war kein Traum.“ Klirrend ließ sie den Löffel in die Schüssel fallen. „Er stand oben im Flur, am Fenster zum See“, sagte sie trotzig, stand auf und lief durch die Küche nach oben.

Ein leichter Nieselregen fiel in der Nacht vom Himmel herab. Leise trommelte er auf den blechernen Fenstervorschlag. Kleine Rinnsaale bildeten sich auf der Fensterscheibe. Der Flur war in Dunkelheit getaucht.
Ana versteckte sich frierend in einer Nische, in der sie niemand entdecken konnte. Ganz klein machte sie sich, rieb sich die Oberarme warm, weil sie fror. Obwohl sie einen dicken Pullover angezogen hatte, war ihr kalt. Ana lehnte mit dem Rücken an der Wand, während sie ihre Füße gegen die gegenüberliegende Seite der Nische stemmte. Die Ärmel ihres Pullovers reichten bis über die Hände, damit die kühlen Finger wieder Wärme gewannen. Auf einmal ging ein leises Seufzen durch den Flur und ihre erschrockenen Augen blickten auf das Fenster zum See. Daniel lehnte am Fensterbrett und blickte hinaus auf den See. Obwohl es so dunkel war, sah Ana doch, dass auch er in einem dicken Pullover steckte. Er verhielt sich still, versuchte nicht aufzufallen. Ana stand auf und näherte sich ihm vorsichtig. Kurz bevor sie ihn erreicht hatte, drehte er sich um und sah ihr in die Augen. Still stand sie vor ihm, beobachtete ihn neugierig.
„Hallo“, begrüßte er sie. Sie lächelte ihn offen an.
„Hallo“, begrüßte sie Daniel. „Ich habe auf dich gewartet.“
„Wieso hast du das, Ana? Musst du nicht im Bett liegen?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, muss ich nicht“, antwortete sie munter. „Kannst du morgen mit mir frühstücken?“ Ihre Stimme klang unschuldig.
Daniel sah sie verblüfft an. Ana blickte voller Hoffnung auf ihn.
„Aber Ana…“ Er holte tief Luft. Aus seinen Worten klang Resignation. Unbeholfen wagte er einen Blick über die Schulter hinaus auf den dunklen See. Der Regen trommelte immer noch auf den Fenstervorsprung.
„Ana, dass geht nicht“, sagte er enttäuscht.
„Aber wieso nicht?“ Ana senkte traurig den Kopf. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn flehend an.
„Es geht einfach nicht, Ana.“ Ana folgte seinen suchenden Blicke, die sich im Flur verloren.
„Bitte! Ich möchte dich meinem Vater zeigen“, sagte sie starrköpfig.
„Deinem Vater? Du hast ihm von mir erzählt?“ Ana sah seine ungläubigen Augen.
Die Kleine nickte unschuldig. „Er glaubt mir nicht.“ Daniel atmete tief durch. Er wurde unruhig und die Gefahr, entdeckt zu werden, wurde größer.
„Er wird dir nicht glauben, Ana.“
„Wieso nicht?“
„Weil ich nicht das bin, was du vielleicht glauben möchtest.“
Daniel drehte sich um und sah aus dem Fenster. Das Fenster zog die Kälte an und ließ die beiden im Flur frösteln, als sie näher traten. Ana trat einen Schritt näher an ihn heran, voller Hoffnung, ihn umstimmen zu können.
„Was bist du denn?“
Daniel drehte sich um und sah Ana mit großen Augen an, die soviel zu erzählen hatten. Aber soviel Zeit hatte er nicht. Ana sah ihn neugierig an wie etwas, dass sie zuvor noch nicht gesehen hatte. Doch das wurde Daniel schnell unangenehm, da er befürchtete, dass sie mehr sehen konnte, als er wollte.
„Ich bin, was du siehst“, antwortete er. Ana hingegen schien die Antwort nicht zufrieden zu stellen.
„Woher kommst du?“
Schwermütig seufzte Daniel, wie in jener Nacht, als sie ihn am Fenster entdeckt hatte. Es war kein Seufzen der Erleichterung, eher das Ergebnis seines Leidens, dem er ausgesetzt war. Nur zusehen zu können, wie der Winter die Landschaft veränderte.
„Ich habe hier gewohnt“, begann er seine Geschichte. „Es war vor vielen Jahren. Mit meinen Eltern lebte ich hier, genauso wie du. Ein schönes, großes Haus. Nichts Wesentliches hat sich hier geändert“, erinnerte er sich. Eine wohlige Wärme ging von der Kleinen aus. Daniel hatte den Glauben daran verloren, noch einmal einen Freund gewinnen zu können. „Wir hatten da unten eine große Schaukel. Manchmal schubste mich mein Vater an, an anderen Tagen meine Mutter. Ein saftig grüner Rasen, der feucht vom Tau am Morgen war. Es roch, als würde die Natur bestätigen, dass es ihr gut ginge. Wir hatten einen kleinen Hund. Mit ihm ging ich im Wald hinter dem See spielen. Im See konnte man im Sommer schwimmen gehen, so warm war das Wasser. Es war herrlich“, schwärmte er, als wäre alles noch lebendig. Ana hörte aufmerksam zu. Die Geschichte nahm das Mädchen ein. „Doch ein Tag, der veränderte die ganze Welt. Es war im Winter. Der Frost hatte alles überdeckt. Die Fenster waren mit Blumenmuster aus Eis besprenkelt. Im Haus roch es nach frisch gebackenem Kuchen und Plätzchen. Ich baute mit meinem Vater draußen vor dem See einen Schneemann. Er war groß und er war toll“, erzählte er stolz. „Meine Eltern riefen mich später am Abend zum Essen. Ich ging runter zum See um das Eis zu prüfen, ob man Schlittschuhlaufen könne. Aber dann…“, brach er auf einmal ab. Ein Schauder durchfuhr ihn. Ana erschrak.
„Dann…?“, versuchte sie voller Neugierde ihn dazu zu bringen, weiter zu erzählen.
„Ich kann mich einfach an nichts mehr erinnern.“ Er schüttelte den Kopf.
Das Ungewisse ließ ihn nicht ruhen. Aufgewühlt und durcheinander suchte er mit seinen Blicken durch das Fenster den See, als würde er auf jemanden warten.
„Was ist mit deinen Eltern?“
„Ich weiß nicht.“ Seine Augen füllten sich mit Tränen, die Ana in der Dunkelheit kaum erkennen konnte. Unvermittelt fuhr ihre Hand vor und griff nach der seinen. Zuerst schreckte er zurück, doch dann weigerte er sich nicht mehr. Er fühlte die mollige Wärme, die ihn wie eine Umarmung erreichte. Das Vertrauen in ihren Bewegungen, diese einzigartige Freundschaft, die die beiden verband. Daniel fühlte sich nicht mehr allein.
Wie zwei Gespenster glitten die beiden durch die Dunkelheit der Nacht. Am Bild vorbei, das im Flur an der Wand hing. Ana sah stolz zu ihrem neuen Freund hinauf, mit dem sie Hand in Hand den Flur entlang spazierte. Ein Kribbeln erfüllte sie. Kurz darauf verblassten ihre Silhouetten, lautlos mit der Stille.

Ana saß am Küchentisch und schlürfte an ihrem Löffel herum. Unbekümmert fuhr sie mit dem Zeigefinger durch ihr lockiges Haar. Der frisch gebrühte Kaffee erfüllte die Küche und sie hörte Schritte näher kommen. Es war kühl und Ana überkam ein Frösteln. Ihr Vater stellte sich an den Küchentisch und entdeckte das Bild, das vor der leeren Schüssel lag. Er musterte den Inhalt des Bilderrahmens und sah dann zu Ana auf, die sorgloser als zuvor wirkte.
„Was ist mit dem Bild?“ Sein Stirnrunzeln erklärte seinen verwunderten Blick. Ana betrachtete das Bild, als wäre es schon immer hier gewesen.
„Das ist Daniel.“ Ihre Stimme klang munter. „Er ist ein Freund.“
„Daniel?“ Der Vater schluckte schwer. Er wurde nervös. „Wieso hast du es abgenommen?“
„Damit er bei mir ist.“
Ana fiel auf, dass sich ihr Vater schwer damit tat, die richtigen Worte zu finden. So kannte sie ihn gar nicht. Schlagfertig und offen war er sonst immer gewesen. Aber jetzt zeichnete sich ein ganz anderes Bild ab.
„Hast du diesen Daniel wieder gesehen? Heute Nacht?“
Ana nickte freudig. „Ich wollte ihn heute mitbringen, aber er sagte, es ginge nicht.“ Der Vater sah seine Tochter verwirrt an.
„Mitbringen?“, fragte er. Er versuchte von den merkwürdigen Gedanken wegzukommen, die in seinem Kopf spukten. Aber es gelang ihm nicht. „Was ist denn heute Nacht passiert?“
Ana sah ihn mit großen Augen an. „Er war wieder da, am Fenster zum See. Es hat geregnet und er konnte nicht wie sonst auf den See schauen. Daniel war traurig. Er erzählte mir davon, dass er früher mit seinen Eltern am See spielen war und einen Schneemann baute. Aber irgendwann konnte er sich an nichts mehr erinnern, es war in einem Winter“, erzählte sie die Geschichte, die er ihr heute Nacht erzählt hatte. Daniel, der Junge am Fenster.
Unbegreiflich dessen, was ihm seine Tochter soeben erzählt hatte, schlug ihr Vater die Hände über den Kopf. Tränen schossen in seine Augen.
„Warum weinst du, Papa?“
Ana stand von ihrem Stuhl auf und schlurfte mit traurigen Blicken zu ihrem Vater. Mit Schwung umklammerte sie ihn mit ihren zärtlichen Armen. Schluchzend versuchte er sich zusammenzureißen. Aber es war schwer, so schwer die Erinnerungen auf ihn lasteten.
„Woher kennst du seinen Namen?“ Seine Frage klang wie eine Anklage. Während er auf die Antwort wartete, wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht.
„Er sagte es mir.“
„Ich kann es nicht glauben, Ana.“
„Papa, was ist denn,?“
„Daniel ist dein Bruder“, presste er zwischen seinen Lippen hervor. Die Wahrheit tat so weh. So weh tat es, als er seiner Tochter in die erschrockenen Augen blickte, so unschuldig und klar. „Wir wollten warten, bis du älter bist und es verstehen würdest. Er wollte damals nicht reinkommen, der Winter hielt Einzug, der See war zugefroren, aber nicht fest genug. Als wir ihn holen wollten, fanden wir ihn nicht, bis wir eine Stelle im See entdeckten, die eingebrochen war. Daniel ertrank darin“, erklärte er mit zitternder Stimme. Anas Augen füllten sich mit Tränen, für die sie bisher keine Zeit zum weinen gefunden hatte. Die Wahrheit schmerzte so sehr, dass sie keine Worte hervorbrachte, um zu klagen, wieso sie nicht erfahren durfte, dass sie einen Bruder gehabt hatte. Traurig über diese tragische Geschichte löste sie die Umarmung und verließ die Küche.

Ana kauerte sich an das Fenster im Flur. Sie war allein und die Gänsehaut an ihren Armen ließ sie frösteln. Das Licht im Zimmer ihrer Eltern brannte nicht mehr, es war dunkel im Flur. Nur das fahle Mondlicht sickerte durch das Fenster, um groteske, aber schwache Schatten an die Wand zu werfen.
Im Mondlicht erschien die Haut von Ana blass. Sie spürte den kalten Luftzug, der zwischen den Ritzen des Fensters hindurch kam. Lange hatte sie diese Nacht auf Daniel gewartet, aber er wollte nicht kommen. Die Müdigkeit zollte ihren Tribut, ihre Augenlider wurden schwächer, dass Gähnen war das Zeichen ins Bett zu gehen und ihre schweren Beine und Arme veranlassten sie dazu, vom Fensterbrett zu rutschen und langsam durch den Flur zu ihrem Zimmer zu schlurfen. Enttäuscht über diese dramatische Geschichte um ihren Bruder versuchte sie die Gedanken fortzuwischen. Doch bevor sie in ihrem Zimmer verschwinden konnte, kehrte sie noch einmal um. Ana lief durch den Flur und folgte dem Mondlicht, das langsam aus dem Haus verschwand. Als sie das Fenster am See erreichte, beugte sie sich nach vorn und sah hinunter. Dort unten sah sie ihn stehen, Daniel, mit bleichem Gesicht, winkend zum Fenster. Es war wie auf dem Foto in dem Bilderrahmen, ein Junge am Seeufer, der dem kleinen Mädchen am Fenster winkte, mit bleichem Gesicht und den hervor scheinenden, weißen Zähnen und den braunen, strähnigen Haaren, die ihm ins Gesicht fielen. Ana winkte zurück, im Glauben, dass ihr Bruder zurückgekommen war, um sich von ihr zu verabschieden.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hallo,

eine überarbeitung des textes würde sich lohnen. bei dem absatz Das Mädchen kniete auf dem dicken Polster z.B. wird nicht gleich klar, dass es nun am folgenden morgen ist. diverse andere fehlerchen sind auch noch drin.
lg
 

Costner

Mitglied
Danke!

Ja,
die Geschichte bedarf sicherlich noch einiger Überarbeitung.
Dennoch wollte ich Positives und Negatives aus der Geschichte in Erfahrung bringen.
Danke für deine Kritik.
 



 
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