Der Goldfisch

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Eve

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Der Goldfisch

Ich erinnere mich noch gut – schon als Kind war mir das Haus an der alten Hauptstraße aufgefallen. Es lag etwas abseits unseres Schulweges, trotzdem gingen wir jeden Nachmittag nach Schulschluss dort vorbei – Anja, Birgit, Kerstin und ich. Das Haus war anders als die Häuser, die wir kannten. Das große Hoftor stand meistens offen, so dass wir in den Innenhof schauen konnten. Auf der einen Seite befand sich eine Scheune, an deren Rückwand dicke Strohballen aufgestapelt waren. Ein alter 2CV parkte in der Ecke. Über der Scheune lag der alte Boden, auf dem früher das Getreide getrocknet und gedroschen worden war. Vor einer rechteckigen Öffnung hing ein Seilzug vom Dach.

Auf der anderen Seite des Hofes begrenzte eine hohe Mauer das Grundstück zum Nachbarn. Vor dieser Mauer stapelten sich unzählige Blumenkübel, gehauene Steinwannen, zerbrochene Terrakotta-Töpfe, Metalleimer und andere Dinge, so dass man nicht genau erkennen konnte, was überhaupt alles dort herum lag. Es war ein totales Durcheinander aus Blumen, Pflanzkübeln, Putten, kleinen Statuen und Torsen, als ob jeder dort gerade das hingeworfen hatte, was er im Moment nicht mehr brauchte. Wir fanden diese Ecke großartig! Anja und ich konnten uns nichts Spannenderes vorstellen, als einmal in aller Ruhe den ganzen Haufen durchstöbern zu dürfen – aber natürlich hatten wir uns nie durch das Tor hindurch gewagt.

Schon der Blick in den Innenhofes war also spannend gewesen – aber das Großartigste, das wir bis dahin je gesehen hatten, war das, was sich am Ende des Hofes erhob: das Haus.

Es war nicht irgendein Haus, nicht so eines, wie das, in dem Kerstin, Anja oder ich wohnten. Es war groß, es war imposant, und es hatte überall kleine Simse bestückt mit steinernen Verzierungen aus Bögen, Rosetten und Girlanden. Eingerahmt von zwei Säulen, schützend überdacht, ruhte die Tür. Von der Brüstung des Balkons im ersten Stock flatterte eine Fahne.

Wir stellten uns vor, dass eine Prinzessin in dem Haus wohnte, die jeden Abend mit den vielen Katzen, die überall herumliefen, in ihrem Zimmer spielen durfte. Ab und zu sahen wir auch einen Mann im Hof, vor dessen Blicken wir uns immer schnell versteckten, um nicht entdeckt zu werden.

Jetzt – fast dreiundzwanzig Jahre später – stehe ich wieder vor der Hofeinfahrt und riskiere einen Blick auf das Haus. Der 2CV ist verschwunden – an seiner Stelle fristet ein alter Uno mit herabhängender Stoßstange sein Dasein. Ich gleite durch die Zeit und bin wieder das kleine Mädchen, das mit großen Augen um die Ecke lugt und sich ausmalt, wie es wohl in dem Haus aussehen mag. Ich bin wieder neun Jahre alt und höre hinter meinem Rücken das Gekicher meiner Freundinnen, von denen jede den Geschmack des Geheimnisvollen genüsslich auszukosten bereit ist.

Vor mir im Hof ist alles ruhig, nichts bewegt sich, kein Laut ist zu hören. Es ist wie damals; das merkwürdige Haus, das irgendwo in der Zeit stecken geblieben zu sein scheint. Aber etwas fehlt, etwas ist anders als damals. Ich blicke an der Fassade des Hauses empor und bemerke endlich, dass die Flagge verschwunden ist. Die Brüstung des winzigen Balkons macht einen seltsam nackten Eindruck. Es ist ein schöner Frühlingstag, die Sonne entwickelt grade wieder eine feine Wärme in ihren Strahlen und streichelt über meine Haut. Das Haus scheint zu leuchten, als würde auch der Stein in den Mauern die wiedererwachende Natur spüren und sich mit mir daran erfreuen. Die Tür zwischen den Säulen schwingt auf und eine Frau tritt hinaus. Auf ihren Armen balanciert sie eine Stiege voll mit Setzlingen, aus dem Bund ihres Rockes hängt ein alter Lappen herunter.

„Verena“, ich rufe ihren Namen und winke, um sie zu begrüßen. Gleichzeitig trete ich über die unsichtbare Linie zwischen Grundstück und Gehsteig.
„Verena“, noch einmal winke ich, während sie verwundert die Stiege absetzt, sich aufrichtet und mich anschaut.
„Hey“, sage ich, „ich bin doch früher weggekommen, als ich dachte … hier bin ich!“
Ich lache sie an, lange Jahre haben wir uns nicht gesehen, und ich freue mich auf einmal, hier zu sein und an einen Teil meiner Vergangenheit anknüpfen zu können.
„Mareike … was machst du denn hier?“
Ich bin baff, sie hat mich doch angerufen, mich fast angefleht, dass ich herkommen soll.
„Wir waren doch verabredet, weißt du nicht mehr?“, versuche ich zu erklären, „du hast doch letzte Woche angerufen, ob ich nicht kommen könnte? … also, da bin ich …“
Das Lächeln auf meinem Gesicht wird langsam schief, fast zweifele ich selbst schon an dem Telefonat, an ihrer Stimme, die wie ein Geist aus der Vergangenheit geklungen hatte.

Mareike, kannst du kommen? Und ich bin gekommen, so schnell es ging. Ich hatte nicht gefragt, wie sie an meine Telefonnummer gekommen war, nicht, warum sie mich jetzt nach so vielen Jahren brauchte, ich hatte ihre Bitte als Fortsetzung des Tages genommen, an dem wir uns zum letzten Mal getroffen hatten, als Erklärung des Schmerzes vielleicht, den sie mir damals zugefügt hatte.
„Ach ja, das hatte ich ganz vergessen.“
Weder verlegen noch unsicher bückt sie sich nach ihrer Stiege, blickt mich dann an und sagt, ich könne ja erstmal mit ins Haus kommen.

Auf dem Sekretär im Foyer steht noch immer die angelaufene Silberschale, in die sie den Haustürschlüssel wirft. Wie damals. Irgendwann hatten Anja, Birgit, Kerstin und ich herausgefunden, dass das Mädchen, das in unserem Haus wohnte, mit uns zur Schule ging. Sie war zwar schon immer da gewesen, aber genauso gut hätte sie sich auf einem anderen Planeten befinden können – Verena war anders. Sie war die Außenseiterin in unserer Klasse, sie war immer still, sprach mit niemandem und wurde auch niemals angesprochen. Ihr Platz war immer der hinterste im Klassenzimmer, in jedem Schuljahr. Niemand wollte neben ihr sitzen, und so hatte sie immer eine Bank für sich allein gehabt. Vielleicht hatten wir unbewusst gespürt, dass sie uns verachtete, dass sie uns gar nicht wollte, denn sie schien immer ihre eigene Welt um sich herum zu haben, aus der sie niemals hervor trat. Sie war anders in jeder Hinsicht. Jeden Tag hatte sie die langen, schwarzen Haare zu einem verfilzten Zopf geflochten, der ihr bis an den Po reichte. Immer hatte sie Röcke getragen, nicht ein einziges Mal hatte ich sie in Hosen gesehen. Sie war anders, weil sie keinen Schulranzen gehabt hatte, weil sie nie ein Pausenbrot oder niemals Geld gehabt hatte, um sich am Kiosk Gummibärchen zu kaufen. Sie war anders, weil sie uns das Gefühl gegeben hatte, für sie nicht zu existieren – und deshalb hatten wir wie sie reagiert: die ganze Klasse ignorierte sie.

Als sie letzte Woche angerufen hatte, kamen all die alten Geschichten und Gefühle wieder in mir hoch. Und aus Sicht der erwachsenen Frau, die ich heute bin, hätte ich nachträglich um sie weinen können. Um die Jahre in der Schule, die furchtbar für sie gewesen sein müssen. Und dennoch steht sie jetzt vor mir und gibt mir wieder dasselbe Gefühl wie damals, als ich sie zum ersten Mal angesprochen hatte. Weil sie in dem Haus wohnte, das für mich so interessant und spannend war, dass ich es wagte, die Grenze zu ihr zu übertreten.

Verena stellt die Stiege auf den ovalen Nussbaumtisch mit den Löwenfüßen und macht sich offensichtlich keine Gedanken über die Erdklumpen und Wasserreste, die sie dadurch auf der Tischplatte hinterlässt.
„Du kannst mir helfen.“
„… wenn du schon mal da bist“, vollende ich in Gedanken und beginne mich unwohl zu fühlen. Wir laufen durch das große Wohnzimmer, sie schert sich nicht darum, dass ihre Dreck verkrusteten Gartenschuhe Flecken auf den alten Teppichen und Läufern hinterlassen. Ich sehe mich um, es sieht noch genauso aus wie damals. Das riesige Bücherregal an der rechten Wand voll gestopft mit Büchern, in deren Rücken die Titel mit goldenen Lettern eingestanzt sind. Schwarzweiß-Aufnahmen in ovalen Bilderrahmen an der Wand über dem Sekretär, weiße Lackmöbel mit dunkelroten Samtpolsterungen. Nirgendwo ein Fernseher oder eine Stereoanlage, dafür noch der alte Plattenspieler auf der Anrichte. Und überall Fotos von Verena in jedem Alter ihrer Kindheit. Würde ich mich nicht bewegen, müsste ich glauben, mich in meinem eigenen Traum zu befinden. So aber folge ich Verena hinaus auf die breite Terrasse, deren Flügeltüren weit offen stehen und den Blick in den Garten freigeben. Zwei Plastikliegen stehen neben einem niedrigen Gartentischchen, gerade so, als warteten sie nur auf Sommergäste. Die Terrasse öffnet sich zu einer halbrunden Freitreppe, die sich in den Garten hinunter ergießt. Efeu wuchert über die Ränder der Treppe, hat sich über die Jahre einen Weg die Terrassenbrüstung entlang geschaffen. In den Ecken liegt altes Laub, das der Wind nicht mit sich fort genommen hat. Groß gewachsene Tannen und dichtes Gestrüpp verwehren den Blick auf die Mauer zum Nachbargrundstück. Das ist kein Garten, es ist ein kleiner Wald – und heute wie damals halte ich die Luft an, weil dieser Garten so grün, so wild und so still lebendig ist, dass man ihn nicht durch die eigene simple Anwesenheit stören will. Unweigerlich fühle ich mich als Gast der Natur, als müsse ich mich glücklich schätzen, ihr hier einen Besuch abstatten zu dürfen. Steinplatten, wahllos hingeworfen, markieren einen Weg, der von Moos und Efeu überwuchert ist. Es ist kein braunes Fleckchen Erde auszumachen, überall haben wild wachsende Schneeglöckchen und Osterglocken sich ihren Platz zwischen den immergrünen Efeuranken erobert. Es raschelt unter der dichten, grünen Decke, als wir über die Steinplatten laufen. Für Mäuse muss es ein Paradies sein – und es ist auch für mich immer noch ein Zauberparadies. Ich vergesse, dass Verena so merkwürdig ist, bestimmt fällt es ihr nicht leicht, die Worte auszusprechen, die die Vergangenheit überbrücken könnten.

Der Weg beschreibt einen Bogen und mündet in eine Lichtung. Die helle Offenheit des kleinen Platzes nach dem Dämmerlicht des Waldstückes wärmt mir wohltuend das Herz. Auf Steinbänken, im Halbkreis angeordnet, warten Blumenzwiebeln und Gartengeräte, ein gelber Schlauch liegt auf dem Boden, aus der vorderen Düse tropft Wasser auf die Fliesen, zwischen deren Ritzen Gras und Moose hervorschauen. Zwei Katzen liegen in der Sonne, rennen aber weg, als wir uns nähern. Ein Sack Erde ist umgefallen und hat seinen Inhalt auf die Fliesen ergossen, mitten in eine Ameisenstraße hinein. Neben dem Sitzbereich der Lichtung, teilweise noch im Hellen, teilweise schon im Dunkel des beginnenden Waldstückes, sprudelt ein Springbrunnen in einem großen, runden Bassin. Vom Rand spuckt ein Frosch Wasser in das Becken, und die Rücken einer Delfingruppe lugen leicht unter der Wasseroberfläche hervor. Die Steinfiguren wirken wie eingefroren in der Zeit, wahrscheinlich passen sie deshalb so gut an diesen Ort.

Ich gehe näher an den Brunnen heran und entdecke Fische, die umher schwimmen oder still an einem Platz verharren. Damals lebten nur Goldfische in dem Becken, heute sind auch andere Fische dabei: blaue und gelb-grün gestreifte, welche mit langem, fasrigen Schwanz und ganz kleine, die in ruckartigen Bewegungen ständig ihre Schwimmrichtung ändern. Algen und langblättrige Wasserpflanzen bewegen sich am Boden des Beckens, ahmen die Bewegungen der Fische nach. Die Sonne streckt ihre Strahlen über die Kronen der Tannen, so dass sie – wenn man noch im dunkleren Wald steht – wie feine Streifen sichtbar sind. Inmitten der Efeuwiese taucht immer mal eine Venus mit abgebrochenem Arm oder eine Amphore auf, aus der sich knospende Kletterpflanzen winden. Ein Eichhörnchen huscht den Stamm einer Tanne hinauf, verharrt kurz auf dem ersten Ast, als ob es mich beobachtet, und verschwindet dann in den dichten Zweigen nahe der Krone. Vögel zwitschern oder rufen sich gegenseitig, und ich habe das Gefühl, den Frühling an diesem Ort auf besondere Art zu spüren.

„Hier“, Verena reicht mir eine Schere, „alles ab.“
Damit deutet sie auf die Efeuwiese und um sich herum. Ich verstehe nicht gleich. Was soll ab? Da setzt sie auch schon das fort, was sie wohl gerade getan hat, als ich ankam. Sie kniet auf dem Boden vor dem Efeu und schneidet allen Blumen, die schon zu blühen angefangen haben, die Köpfe ab. Im ersten Moment bin ich unfähig mich zu rühren oder etwas zu sagen. Ich verstehe nicht, aus welchem Grund sie das macht. Ich drehe mich um und sehe ihr ins Gesicht. Ein fast weicher Ausdruck leuchtet in ihren Augen, als sie jedes Pflänzchen vorsichtig am Stengel hält und dann in einem festen Schnitt den Kopf abtrennt. Die Blüten lässt sie liegen, wohin sie gefallen sind – und als ich mich umschaue, bemerke ich, dass sie hinter dem Fischbassin schon alle Blumen geköpft hat. Bemerke ich, dass die Farbtupfen, die ich zuvor nur kurz wahrgenommen habe, alle auf dem Efeu liegen und neben ihnen die blanken Stengel ohne Seele fragend in die Höhe ragen.
„Warum machst du das?“
„Alles neu, es muss alles neu gemacht werden. Im Frühling kommt alles neu.“
Auch das ergibt keinen Sinn für mich, „aber du machst die ganzen Blumen kaputt. Du kannst sie ja nicht einmal in die Vase stellen, wenn du nur den Kopf abschneidest.“
„Das Leben besteht aus immer wieder kehrendem Wachstum. Nichts bleibt, wie es ist, alles muss sich verwandeln. Immer und schnell ... Leben ist Vergänglichkeit. Du musst etwas Schaffen, sonst vergehst du selbst.“
Ist sie verrückt geworden? Man kann doch auch etwas schaffen, ohne dafür etwas anderes zerstören zu müssen. Ich verstehe immer noch nicht, und Verena tötet weiter.
„Lass’ uns doch einfach neben den alten Blumen neue pflanzen“, setze ich an und greife schon nach der Schaufel, um kleine Löcher für die Zwiebeln auszuheben. Aber ich habe keinen Erfolg, Verena ignoriert mich und setzt ihre Arbeit fort. Scheinbar folgt sie einem bestimmten System, denn als sie in einem Halbkreis um die Lichtung herum alles abgeschnitten hat, steht sie auf, legt die Schere auf eine der Bänke und geht hinüber zum Fischbecken. Nach einem kurzen Blick wendet sie sich ab und geht zurück in Richtung Haus. All das, ohne ein Wort zu sagen. Ich bleibe, wo ich bin, denn ich weiß weder, was ich hier soll, noch was ich stattdessen machen soll. Als Verena zurückkommt, trägt sie einen durchsichtigen Plastikbeutel. Sie setzt sich an den Rand des Beckens und beobachtet das Treiben in seinem Innern. Ich beobachte sie. Jetzt erkenne ich auch, was in dem Plastikbeutel ist – es muss Fischlaich sein. Bewegungslos starrt Verena in das Wasser, plötzlich schießt ihre Hand vor, schließt sich um etwas und schnellt wieder hinaus. Dann öffnet sie die Hand über einem Eimer, der neben dem Becken steht, ein blauer Fisch gleitet hinein. In aller Ruhe dreht sie sich um, greift nach dem Beutel mit dem Fischlaich, öffnet ihn und lässt die gallertartige Masse vorsichtig in das Becken hineingleiten. Die leere Plastiktüte stopft sie in den Eimer, in den sie zuvor den blauen Fisch hatte gleiten lassen. Und ich begreife. Alles muss sich verwandeln … Leben ist Vergänglichkeit … Verena will etwas Neues schaffen, immer wieder, sie will die Entstehung des Lebens sehen, aber nicht dessen Blüte.

Ich verstehe, was sich vor meinen Augen abspielt, aber ich verstehe nicht, weshalb sie mich angerufen hatte. Die Schulzeit fällt mir wieder ein, der Tag, an dem wir uns kennen gelernt hatten. Tagelang war ich jeden Morgen auf sie zugegangen, hatte sie angesprochen – ohne Erfolg. Sie hatte mich genauso ignoriert, wie sie das seit Jahren mit den anderen tat. Aber eines Tages hatte sie mich angesehen, und das war mir zum Zeichen geworden, durchhalten zu müssen. Dem Blick war ein Hallo gefolgt, irgendwann, und irgendwann durfte ich neben ihr nach Hause gehen. Ich war wie besessen von ihr, von der Schweigsamkeit ihres Wesens, das für mich der beste Beweis für ein geheimnisvolles Abenteuer war, das hinter den Mauern dieses ganz besonderen Hauses auf mich warten würde. Es war tatsächlich ein Abenteuer gewesen, aber eines, wie ich es nicht erwartet hatte.

Den Tag, an dem ich zum ersten Mal den Hof betreten hatte, würde ich wohl nie vergessen. Endlich war es soweit, endlich würde ich als einzige das Geheimnis des Hauses lüften! Erwartungsvoll stapfte ich hinter Verena durch den Hof, wartete voller Ungeduld, bis sie den Schlüssel zur Haustür aus ihrer Tasche geholt hatte und stand dann mit ehrfürchtigem Staunen im Vorraum des Hauses, das mich seit so langer Zeit schon beschäftigte. Solche Möbel hatte ich vorher noch nicht gesehen, jedes Stück mit geschwungenen, fast filigranen Beinen mit Tatzen am unteren Ende. Dicke Teppiche auf rotbraunen Fliesen, die die Geräusche unserer Schritte schluckten. Verena war voraus gegangen, hinein in das sonderbare Wohnzimmer, und hatte sich auf dem rot gepolsterten Sofa niedergelassen. Schweigend zeigte sie mir später die anderen Räume – alle gleichermaßen altmodisch und fast zerbrechlich eingerichtet, mit willkürlich angebrachten Bildern und Fotos an den Wänden und fremdartigen Tonfiguren dekoriert. In jedem Zimmer gab es Blumen, Palmen und Topfpflanzen, dazwischen immer wieder Katzen. Ich war begeistert! Aber richtig sprachlos war ich erst, als ich den Garten sah. Wie ein Zauberwald lag er vor mir, wild und voller Verstecke, aber auch ein bisschen Angst einflößend im dunkleren Teil, wo unter den dichten Tannen kein Sonnenlicht hinein dringen konnte. Auf der Lichtung hatte ich ihn dann gesehen. Es war der Mann aus dem Hof. Er lag auf einer Liege, mitten im Halbkreis der Steinbänke, und sonnte sich. Nackt. Ich konnte nicht anders, als ihn anzustarren. Und als Verena es bemerkte, zerrte sie mich weg. Unsere Treffen waren merkwürdig, man konnte sie nicht Freundschaft nennen, obwohl ich Verena auf eine Art wirklich mochte. Sie zeigte mir den Boden, auf dem sich ihr Geheimversteck verbarg, eine Höhle aus Decken und Strohballen. Dort lagen wir, ich erzählte ihr erdachte Geschichten rund um das Haus, in dem sie wohnte, sie hörte schweigend zu. Manchmal lächelte sie. Manchmal redete sogar auch sie und erfand ihrerseits Geschichten. Nur wie ihr Leben tatsächlich war, erzählte sie nie.

Wenn wir allein waren, spielten wir im Garten. Wir suchten uns Verstecke im Dickicht oder pflückten Blumen, die überall wild wucherten. Wo sonst war so etwas erlaubt? Eines Nachmittags spielten wir wieder im Garten verstecken, als ich mich beobachtet fühlte. Ich entdeckte Verenas Vater hinter einem Busch. Er winkte mir zu, als er merkte, dass ich ihn gesehen hatte. Und er machte ein Zeichen, dass ich darüber Stillschweigen bewahren sollte. Ich tat, was er wollte, fühlte mich aber dennoch nicht ganz wohl dabei. Ab diesem Zeitpunkt mied ich diesen Teil des Gartens und vergewisserte mich immer vorher bei Verena, ob wir allein waren. Dennoch waren die Augen oftmals wieder da, beobachteten uns, beobachteten mich. Wenn ich den Mann, Verenas Vater, im Haus traf, war er immer sehr nett zu mir. Manchmal zeigte er uns neue Pflanzen, kleine Triebe, die er großziehen wollte, oder er erzählte uns etwas über die vielen Goldfische in dem großen Becken hinten im Garten. Er schenkte sogar jedem von uns einen der Fische, denen wir Namen geben durften. Ab und zu bemerkte ich dann Blicke von Verena, die sich heiß in meine Seite zu bohren schienen. Immer seltener nahm sie mich danach mit zu sich nach Hause. Als ich nach einer Weile doch wieder einmal bei ihr sein durfte, und wir gerade unsere Fische gefüttert hatten, kam ihr Vater in den Garten. Es war Sommer, und er trug nur eine kurze Hose. Seine nackten Füße waren schwarz vor Dreck und Erde. Er hätte uns Limonade gemacht, sagte er, dann nahm er mich an der Hand und zog mich in Richtung Küche. Verena nahm er an seine andere Seite – und gemeinsam versuchten wir, auf dem schmalen Weg Platz zu finden. Er hatte ein Spiel daraus gemacht und gesagt, wir sollten von Fliese zu Fliese hüpfen, dann würde der Platz für alle reichen. Ich lachte, Verena nicht. Sie nippte nur an ihrer Limonade, dann zog sie mich an der Hand hinaus in den Hof und deutete nach oben zum Boden, zu ihrem Versteck. Ich verstand ... wir würden uns wieder Geschichten erzählen … sie war voran gegangen und wollte, dass ich wartete, bis sie mir das Zeichen gäbe, dann sprang sie davon. Ich erinnere mich daran, als sei es gestern gewesen, und in diesem Moment spüre ich die Gewissheit so sicher wie nie zuvor, dass alles, was danach geschehen ist, kein Versehen oder Zufall gewesen war, sondern schiere Absicht eines kleinen Mädchens, das niemals meine Freundin gewesen ist.

Das Zeichen kam, und ich machte mich auf den Weg, die Leiter hinauf zu Verenas Versteck. Ich hatte noch Gummischlangen in der Tasche und saure Drops, die wir teilen konnten. Sie steckte ihren Kopf zwischen den Decken hindurch und wartete. Vorsichtig stieg ich von der Leiter, klopfte meine staubigen Hände an meiner Shorts ab und lief auf das Versteck zu. Weit kam ich allerdings nicht, plötzlich war kein Boden mehr unter meinen Füßen, ich trat ins Leere, rutschte durch das Stroh hindurch und stürzte nach unten. Ich schrie, aber bevor ich richtig losgelegt hatte, war ich schon unten aufgekommen, zum Glück für mich auf den Strohballen, die an dieser Stelle aufgestapelt waren. Mein Rücken tat weh, mein Arm auch, aber beides ließ sich noch bewegen. Trotzdem heulte ich. Oben erschien Verenas Gesicht in dem Loch, das vorher von Stroh bedeckt gewesen war und nun frei lag. Sie sprach kein Wort, schaute nur nach unten zu mir. Ich rappelte mich auf, erschreckt, völlig verdreckt von dem alten Staub, den ich mitgerissen hatte, und schaute sie nur an. Dann lief ich weg.

Und erst jetzt, dreiundzwanzig Jahre später, bin ich wieder an diesen Ort gekommen. Verena war nach diesem Vorfall damals wieder zu der geworden, die sie immer gewesen war: die Außenseiterin, die sich mit niemandem abgab. Und ich hatte niemandem von diesem Tag erzählt. Es war ja nichts passiert, hatte ich mir eingeredet, und außerdem war ich froh gewesen, dieses merkwürdige Gefühl aus meiner Erinnerung verbannen zu können, das mich seit einiger Zeit dort im Haus befallen hatte.

Während ich in alten Zeiten krame, sitzt Verena immer noch am Beckenrand und fixiert die Wasseroberfläche. Dann schießt ihre Hand wieder nach vorn, um einen weiteren Fisch zu fangen.
„Du musst damit aufhören“, schreie ich sie an, „Himmel noch mal, du tötest sie!“
Aber Verena tut das, was sie am besten kann; sie ignoriert mich. Ich reiße sie von dem Becken weg, wir fallen beide auf den Boden. Kurz ist Ruhe, dann kratzt sie mich mit ihren Nägeln quer über das Gesicht, es brennt höllisch, und mir reicht es. Ich stoße mich von ihr ab, stehe wieder auf und laufe mit dem Eimer in der Hand ins Haus. Sofort lasse ich Wasser hinein laufen, aber es ist zu spät, die Fische haben Verenas Attacke nicht überlebt. Traurig stelle ich den Eimer auf den Tisch, immer noch übt dieses Haus eine Faszination auf mich aus, derentwegen ich überhaupt gekommen bin. Jetzt will ich nur noch weg von hier!

Erst als der Ort hinter mir liegt, fallen mir die Fische ein, die Verenas Tun hilflos ausgeliefert sind. Seit wie vielen Jahren wohl schon? Ich habe keine Ahnung, wen sie damit in Gedanken immer wieder töten will, aber die Fische können sicherlich am wenigsten dafür. Ich bremse das Auto ab, überlege kurz und wende dann. Irgendwie müsste sie mir die Fische geben. Die Katzen, das habe ich gesehen, gehen ihr von selbst aus dem Weg. Komisch, dass sie dennoch dort bleiben? Ich parke wieder am Straßenrand, etwas entfernt von der Hofeinfahrt. Dann denke ich nach ... ich könnte ihr die Fische abkaufen. Dann würde sie neue kaufen ... sie würde immer neue kaufen, um die alten töten zu können. Trotzdem scheint auf einmal alles davon abzuhängen, diese Fische, die jetzt in dem Steinbecken leben, zu retten. Ich warte und überlege, ohne Ergebnis. Heimlich hoffe ich, sie würde das Grundstück verlassen, so dass ich mich hineinschleichen kann. Und tatsächlich biegt etwas später der alte Uno auf die Straße und fährt in die entgegen gesetzte Richtung davon. Sie kann mich nicht gesehen haben; trotzdem bleibe ich noch sitzen, schließlich bin ich nicht mehr neun Jahre alt und kann mich einfach irgendwo hineinschleichen, weil es mich gerade interessiert. Innerlich klopfe ich mir auf die Schultern und öffne dann die Tür des Autos. Es geht los! Nach rechts und links blickend laufe ich durch das Hoftor auf das Haus zu. Es scheint mich zu beobachten, den Atem anzuhalten. Aber irgendwie scheint es mich auch einzuladen. Ich fasse Mut und beschleunige meine Schritte. Die Haustür ist verschlossen, aber ich kenne einen anderen Weg in den Garten. Wie ich vermutet habe, ist der Bretterzaun nicht repariert worden, und so kann ich leicht hindurch schlüpfen. Aus dem Gerümpel greife ich mir einen Eimer für die Fische und schlage mich durch die Sträucher und Kletten, bis ich die Fliesen erreiche, die den Weg in den hinteren Teil des Gartens bilden. Mühsam schöpfe ich nach und nach alle Fische mit einem Blumentopf in den Eimer voll Wasser, hole noch einen zweiten Eimer dazu und will mich dann wieder davon schleichen. Da dringt ein entferntes Klopfen an mein Ohr, es kommt von einem der oberen Fenster. Als ich hinauf blicke, sehe ich ein Gesicht. Erst fürchte ich, die Person wird mich gleich ausschimpfen oder zumindest befragen, was ich hier zu tun habe. Aber nichts geschieht, sie sieht mich nur an. Ich kann zwar kaum etwas erkennen, weil sich das Licht in der Fensterscheibe bricht, aber ich ahne, dass es Verenas Vater ist. Warum er dort oben hinter dem Fenster auftaucht, will ich nicht wissen. Ich will überhaupt nichts mehr von hier wissen, ich will nur noch weg von diesem Ort, an dem die Stille plötzlich nicht mehr beruhigend sondern geisterhaft ist. Überall die schon verwelkenden Blumenköpfe und ihre empor ragenden, leeren Stengel. Ich packe die beiden Eimer, nehme all meine Kraft zusammen, um das Gewicht tragen zu können, ohne etwas zu verschütten, und laufe zurück zu dem kaputten Zaunstück. Alles geht gut, ich erreiche mein Auto ohne weitere Störungen, stelle die Eimer mit den Fischen auf den Boden vor den Beifahrersitz und fahre los. Ohne einen Blick zurück, rase ich wieder die alte Hauptstraße entlang und halte erst an einem Feldweg etliche Kilometer weit entfernt. Dann wähle ich die Nummer der Polizei und bitte um einen Besuch in einem ganz bestimmten Haus an der alten Hauptstraße in dem Ort, in dem ich früher gewohnt habe. Ohne meinen Namen zu nennen, lege ich auf.

Die Fische leben seitdem in einem großen, freundlichen Aquarium in meinem Wohnzimmer. Ich kann mich täuschen, aber ich glaube, es gefällt ihnen dort gut. Vor kurzem habe ich einen Brief von meiner alten Freundin Kerstin bekommen, mit der ich immer noch in Kontakt stehe, dem sie einen Zeitungsartikel beigelegt hat. Er handelt von den Bewohnern des Hauses in der alten Hauptstraße. Und er erzählt eine Geschichte, die ich kaum glauben könnte, wenn ich nicht selbst gesehen hätte, was Verena mit den Blumen in ihrem Garten gemacht hat. Jahrelang hatte sie ihren Vater in einem Zimmer gefangen gehalten, völlig vernachlässigt und abgemagert war er schließlich von der Polizei gefunden worden, die einem anonymen Anruf zufolge das Haus aufgesucht hatte.

Ich hatte den Artikel nicht zu Ende gelesen, denn ich wollte von den Geheimnissen dieses Hauses nichts mehr hören. Verena hatte die Möglichkeit gehabt zu wählen, und sie hatte sich dafür entschieden, zu zerstören, wie vielleicht auch sie zerstört worden war. Vielleicht war ihr Anruf eine Bitte um Hilfe gewesen – und ich glaube, dass sie unbewusst das von mir erwartet hat, was ich letztlich getan habe: ihr jemanden zu schicken, der ihr wirklich helfen kann und der sie aus diesem Haus lösen würde. Vielleicht hat sie mir ihr makabres Spiel mit den Fischen vorgeführt, weil ich mich an unsere Goldfische von damals erinnern sollte, an die einzige Verbindung, die sie vielleicht jemals zu einem anderen Lebewesen aufgenommen hat; und somit hat der Tod der beiden Fische dann doch noch etwas Gutes nach sich gezogen, denn die anderen Fische aus dem Becken sind alle davon gekommen und haben ein neues Zuhause gefunden.

Eve
 

Ohrenschützer

Mitglied
Hallo Eve,

eine interessante, schräge Geschichte, trotzdem sehr greifbar erzählt, gegen Ende auch immer spannender. Mir gefällt auch der Zeitsprung in die Vergangenheit mittendrin. Allerdings könnte es vor allem zu Beginn für mein Empfinden ein bisschen gestraffter sein. Ich weiß nicht genau warum, aber ich habe mich anfangs lange gefragt, wann endlich die eigentliche Geschichte beginnt - obwohl der Anfang ja schon Teil der eigentlichen Geschichte sein sollte.

Schönen Gruß,
 

Eve

Mitglied
Hallo Ohrenschützer,

vielen Dank für deine Anmerkungen ... ich hing auch ein paar Mal über dem Anfang und dachte über Kürzung nach - aber irgendwie kam ich immer zu dem Schluss, dass ich diesen Teil brauche, um den folgenden verständlich zu machen. Am besten lasse ich alles ein bisschen ruhen und lese es dann noch mal.

Ein bisschen schräg ist die Geschichte allerdings ;-) - dieses Haus gab es wirklich, und bei meinen wenigen Besuchen dort hatte ich immer ein merkwürdiges Gefühl im Nacken. Der Rest jedoch ist Erfindung ;-)

Viele Grüße,
Eve
 

Eve

Mitglied
So, nachdem ich den Text etwas ruhen lassen konnte, habe ich jetzt doch einige Passagen gekürzt oder ganz rausgenommen ...

Eve
 



 
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