Der Hausfrieden

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animus

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Der Hausfrieden

Das Läuten beendete die ungeliebte Deutschstunde.
Alle Kinder standen auf, schoben ihre Bücher und Hefte schnell zusammen, stopften alles in ihre Tornister und liefen nach draußen.
Ein Durcheinander beherrschte den Flur. Es wurde geschrien, geschubst, alles in einer spielerischen Laune.
Alle waren fröhlich, freuten sich über das Ende des Unterrichts und überall konnte man hören:
„Hurra, hurra der freie Nachmittag ist da.“
Die Sonne schien, es war warm, und alle freuten sich auf einen vergnüglichen Nachmittag.
Nur einem schien alles egal zu sein.

Der Peter ging langsam den Flur an der Mauer entlang und war vertieft in Gedanken.
Er empfand dieses Gefühl der Schulfreiheit nicht.
Aus ihm sprudelte keine Freude über den freien Nachmittag. Ihm war schwer ums Herz und er hatte das Gefühl einer dicken Faust im Magen.
Draußen angelangt, schlich er langsam über den Schulhof, als wenn ihm hinter der Schulhofmauer etwas Schreckliches bevorstünde.

Die letzten Sätze seiner Mutter, die er heute früh hörte, klangen immer noch in seinen Ohren.
„Du weißt ja, was du heute wieder mitbringen sollst? Vergiss es nicht, es ist wichtig für unseren Hausfrieden.“
„Ja“, antworte er mit erstickter Stimme und ging aus dem Haus ohne sich umzudrehen.
Peter wusste, dass ihm seine Mutter nachschaute, ob er auch vernünftig angezogen sei und den Toni auf dem Rücken trug und nicht in der Hand.
Er spürte ihre besorgten Blicke und dass sie mit ihm fühlte, wenn sie ihm jeden zweiten Tag sagte: „Bring wieder was für den Hausfrieden mit.“

Den ganzen Vormittag über dachte er an die Wörter seiner Mutter. Sie ließen ihn nicht los.
„Wie lange soll es noch so weiter gehen", fragte er sich. Heute musste er etwas dagegen unternehmen, denn er konnte nicht mehr. Er konnte nicht mehr ruhig schlafen, in der Schule konnte er sich nicht mehr konzentrieren, seine Leistungen wurden immer schlechter.

Während er auf den Bus wartete, gingen ihm viele Eindrücke aus dem Familienleben durch den kopf.
„Hausfrieden erhalten“, sagte seine Mutter.
Was ist das eigentlich? Hausfrieden. Er kannte nicht die Atmosphäre des Friedens in der Familie.
Manchmal, wenn er seinen Freund besuchte und sah, wie der mit seinem Vater und der Mutter umging und sie mit ihm, da hatte er den Eindruck, das ist Hausfrieden. Alles verlief ruhig, liebevoll und mit viel Verständnis untereinander. Das war bei ihm zu Hause ganz anders.

„Etwas muss geschehen, so geht es nicht weiter", dachte er für sich.
Er stieg in den Bus und blieb die paar Haltestellen stehen. Die vorbeirauschenden Autos auf der Straße und die vielen Menschen auf den Bürgersteigen mit ihren vollen Einkaufstüten, die sah er gar nicht.
In der Stadtmitte stieg er aus und ging seinen gewohnten Weg. Nach ein paar hundert Metern erreichte er das Geschäft, wo er immer die Besorgung für den Hausfrieden machte. Das Personal kannte ihn schon.
Er begrüßte die Leute wie immer sehr freundlich, nahm seinen Tornister in die Hand und ging die Reihe der Regale ab. Zuerst kam das Brot, dann die Süßigkeiten, Dosen, eine riesige Kühltheke mit den hunderten von Joghurts und Puddings; die mochte er besonders gerne durchzuschauen.
So ging er die ganzen Regale entlang, bis er sein Regal erreichte.

Er kann sich noch erinnern, als er es erstes Mal getan hatte. Voller Angst, der Schweiß stand ihm auf der Stirn und mit zittrigen Knien hatte er es damals getan. An der Kasse hatte er sich fast in die Hosen gemacht, vor lauter Angst. Er kam damals ganz leicht durch die Kasse, und je öfters er es tat umso routinierter wurde er.
Heute machte es ihm nichts mehr aus. Er schaute sich vorsichtshalber um, keiner war in der Nähe, nahm die Ware aus dem Regal, die er haben musste, und steckte sie geschickt in seinen Tornister.
Er machte den Tornister schon fast gelangweilt zu, hängte ihn um seine Schulter und ging die Regalreihe entlang zurück, bis er wieder bei den vielen Joghurts angelangt war.
Er suchte sich sein Lieblingspudding aus. Vanillegeschmack.
Schaute nach dem Verfallsdatum und ging langsam zur Kasse.

Die Kassiererin lächelte ihn an, grüßte freundlich und ließ den Puddingbecher über den Kassenscanner laufen.
„Du kannst ohne deinen Pudding nicht leben, was?“, sagte sie zu ihm und grinste ihn an.
„Mein Vater schenkt mir immer Geld für meine Lieblingsspeise“, sagte er leise zu der Kassiererin.
„Mein Vater liebt mich und schenkt mir fast jeden Tag etwas, oder Geld damit ich mir, was kaufen kann.“
„Ich verstehe mich sehr gut mit meinem Vater" ergänzte er, holte die neunundsiebzig Cents aus der Tasche und reichte sie der Kassiererin.
Sie nahm das Geld entgegen, zählte es gar nicht nach und warf die Geldstücke in die Geldkassette. Sie zeigte kein Interesse mehr mit ihm ein Gespräch anzufangen und er wollte sowieso raus, so schnell wie möglich.
Peter nahm seinen Pudding und ging langsam aus den Laden. Mit einem Blick zur Haltestelle stellte er fest, dass der Bus noch nicht da war. Er setzte sich auf einen Mauervorsprung, machte den Puddingbecher auf und trank ein bisschen.
„Danke Vater, du bist doch zu irgendetwas gut. Gut um die Kassiererin von meinem Tornister abzulenken", er hob den Becher in die Höhe, so wie es die Erwachsenen tun, wenn sie sich zuprosten und nahm danach einen großen Schluck.
So saß er da in der Sonne, den Vanillegeschmack auf seiner Zunge und grübelte vor sich hin.
Im Hintergrund hörte er die Dieselmotoren der ankommenden Busse.
Noch in Gedanken drehte er sich um und schaute zu den Haltestellen.
Zwei Busse standen jetzt da.
Der Bus mit der Nummer 44, der brachte ihn jeden Tag nach Hause.
Der andere mit der Nummer 7, fuhr in die entgegen gesetzte Richtung, zum Fluss. Peter stand auf und schlenderte langsam zu den Bussen. Er stieg ein, setzte sich ganz hinten auf die lange Bank, drückte seinen Tornister gegen seine Brust und blickte durch den fast leeren Bus nach vorne.

Am 15.2.2005 war in der „Tagespost“ zu lesen.
Ein 13-jähriger Junge wurde gestern unter der „Hoffnungsbrücke“ von Passanten leblos gefunden.
Die alarmierte Rettungshilfe konnte den Jungen wieder beleben und ins Klinikum transportieren.
Nach Auskunft der Polizei hatte der Junge eine lebensgefährliche Alkoholvergiftung.
Es wurde eine leere Flasche Korn gefunden und ein noch nicht analysierter Brief.
Nähere Umstände werden von der Staatsanwaltschaft untersucht.






[©animus-091106]
 
H

HFleiss

Gast
Anfangs glaubte ich wegen der Erzählweise, da hat einer zuviel Ganghofer gelesen (der Peter usw.). Aber die Geschichte wird nur mit der Zeitungsmeldung verständlich, und das ist wohl der Haken, an dem sie hängt. Warum spielst du nicht mit dem Entsetzen des Lesers, indem du ihm "zeigst", was Peter eigentlich geklaut hat: Schnaps.

Gruß
Hanna
 

Miriam Scr

Mitglied
Gut

Ich finde diese Geschichte echt gut! Wenn man sie gelesen hat wird man ziemlich nachdenklich. Und wenn man darüber nachgedacht hat wird man ein bischen traurig, ;)
 

Ripley

Mitglied
Kann man so machen: Die Diskrepanz zwischen der leichten, manchmal etwas übertrieben blumigen Sprache (dazu gleich mehr) und dem bedrückenden Thema kann eine gewollt gedrückte Stimmung erzeugen.

Mir ist vor allem am Anfang dieses
alles in einer spielerischen Laune. [...] freuten sich auf einen vergnüglichen Nachmittag [...] „Hurra, hurra der freie Nachmittag ist da.“
zu dick aufgetragen. Ich muss als Leser zu lange zweifeln, in was für einem Text ich da gelandet bin. Peter tritt zu spät auf.

Die Idee, dass in Peters Familie der Schnaps als "Hausfrieden" umschrieben wird, finde ich allerdings hervorragend, und ich konnte das auch verstehen ohne den letzten Zeitungsausschnitt - der den schönen Eindruck eher kaputtmacht in meinen Augen.

Spätestens als Peter den Supermarkt betritt und an den Regalen vorbeischleicht wurde klar, wolang der Hase läuft. Dass er sich am Ende das Leben nimmt: Da hätte ich mir gewünscht, Du hättest das genauso fein und subtil herausgearbeitet und nicht einfach drangeklatscht. Dass es in diese Richtung gehen kann, war doch vorbereitet:

„Etwas muss geschehen, so geht es nicht weiter", dachte er für sich.
Noch eins ist verbesserungswürdig: Du arbeitest mit vielen Füllwörtern (im gerade gebrachten Zitat das "für sich" zum Beispiel), da kannst Du noch streichen. Außerdem solltest Du nochmal überlegen, ob alle Abschweifungen, zum Beispiel in das Haus des Schulkameraden, der Geschichte dienlich sind oder sie eher verwässern.
 



 
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