Der Himmel im Heu

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Kayl

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Der Himmel im Heu

Joseph fischte sein Hölzchen aus der Brusttasche und stopfte die Pfeife nach. Dann sog er und sorgte für Glut. Der Rauch verteilte sich gemächlich in windstiller Abendluft.
Er sah sein Haus, sein solides Heim, in dem er seine emsige Frau bei der Zubereitung des Abendessens und Tochter Wilma bei der Vorbereitung zum Ministranten-Treffen wusste.
Der Rauch verdünnte sich in kaum sichtbare, blaue Schwaden und lenkte seinen Blick zum Kirchturm des Dörfchens, der über dem Scheunendach zu sehen war. Gleich würden die Glocken zum Abend läuten und seine Gedanken untermalen. Der Pfarrer hatte ihn namentlich im „Sonntagsblatt“ mit anderen frommen Nachbarn gelobt, weil sie den Glockenstuhl erneuert hatten. Joseph tat noch einmal einen Zug und nickte. Er war fest im Glauben und ein fleißiger Kirchgänger. Joseph wusste, wem er die reiche Ernte zu verdanken hatte.
Er senkte seinen Blick in den Schatten des Hofs, klopfte die Pfeife aus und sah zufrieden zu seiner Scheune.
Hatte er das Tor nicht verschlossen? Das Vorhängeschloss hing neben dem Riegel. Regina hatte ihre Vorräte im Keller und sonst musste niemand in die Scheune. Das Heu war schon vor einigen Tagen eingebracht.
War er selbst in der Scheune gewesen? Nein, er konnte sich nicht daran erinnern. Allmählich wurde es ihm verdächtig. Weshalb war das Tor zugeschoben, aber nicht verschlossen? Joseph steckte die Pfeife ein und ging auf die Scheune zu. Der Schlüssel steckte im Vorhängeschloss.
Zündelnde Bengel? Einbrecher? In der Scheune war doch außer einem Ladewagen und altem Gerät nichts Wertvolles.
Joseph fasste sich ein Herz, zog das Tor langsam einen Spalt auf und schob sich hinein.
Der Ladewagen stand im Dämmerlicht. An der Seite duftete das Heu, aufgetürmt fast bis zum Dach. Er sah niemanden.
Ein rhythmisches Stöhnen, dieses leise Schreien, wo hatte er es schon mal gehört? Es kam oben vom Heuboden. Joseph stand starr. Hier war der Teufel am Werk! Und jetzt fiel ihm auf, dass die Leiter nach oben zum Heu fehlte. Nein, er sah ihr Ende oben auf dem Heu. Sie war hochgezogen worden.
Der Leibhaftige in seiner Scheune bei schwarzer Messe mit einer Hexe? Die Hölle in seinem frommen Heim! Die Angst fuhr Joseph in die Glieder. Lautlos drückte er sich wieder durchs Tor hinaus, schob es zu und atmete durch. In wirren Gedanken überquerte er den Hof und setzte sich auf die Bank vor dem Hauseingang.
Was tun? Den Herrn Pfarrer rufen?, die Polizei? Er holte wieder seine Pfeife heraus. Sie hatte ihm stets Gelassenheit vermittelt.
Hatte er gesündigt?
Tochter Wilma hatte er mal kräftig geohrfeigt, nachdem er die Sechzehnjährige auf Kirchweih beim Tanz mit einer Freundin erwischt hatte. Hübsch und gut gebaut konnte Wilma doch die Köpfe der jungen Burschen verdrehen und sollte nicht auf seltsame Abwege geraten. Und auch Regina hatte er mal ordentlich gestupst, weil sie den Herrn Pfarrer bezichtigte, etwas mit der Haushälterin zu haben.
Allmählich wurde er ruhiger. Das glimmende Stövchen und der aufschwebende Rauch brachten ihn zum Nachdenken.
Wenn der Unhold zum Betreten die Scheune aufgeschlossen hatte, musste er sie auch wieder durchs Tor verlassen. Sie hatte kein offenes Fenster, und die Lüftungsluken waren versperrt mit Fliegendraht. Ja, er musste durch das Tor kommen.
Joseph wurde neugierig. Es wurde spannend.
Auf der Bank konnte er sich so setzen, dass er das Scheunentor im Auge hatte, er selbst aber hinter dem Hauserker fast nicht zu sehen war.
Die Minuten vergingen.
Es kam die Zeit zum Abendbrot. Warum rief Regina ihn nicht zum Essen? Sein Tabaksbeutel war gut gefüllt. Aber was sollte er machen, wenn Beelzebub erst zur Geisterstunde erschien?
Wenn er schon aufs Abendessen verzichten musste, hätte er doch gern eine Flasche Bier geholt. Aber dann hätte ihm der Teufel entwischen können.
Die Glocke schlug zur Viertelstunde, dann zur halben Stunde.
Joseph wartete geduldig und ließ hin und wieder den Pfeifeninhalt glühen.
Hatte er sich getäuscht? Hatte ihn das Dämmerlicht getäuscht? Nein, Joseph starrte hinüber. Ohne Zweifel, das Scheunentor bewegte sich, die Eisenrollen quietschten leise.
Langsam wurde ein dunkler Spalt frei. Ein Gesicht schob sich aus dem Dunkel. Joseph steckte die Pfeife weg und drückte sich in die Bank. Er sah einen Kopf, der sich aus dem Spalt streckte und nach rechts und links wendete.
Dieses Gesicht kannte er doch, aber woher? Immerhin konnte er beruhigt ausschließen, dass sich dort der Teufel oder ein Einbrecher zeigte.
Wo hatte er dieses Gesicht schon mal gesehen?
Auf der Kanzel!
Die Gestalt schob das Tor ein Stück weiter auf, trat auf den Hof hinaus und sah um sich.
Da ging der Herr Pfarrer! Hochwürden hatte doch letzten Sonntag noch mit Leidenschaft und Lautstärke gegen das sittenlose Treiben gewettert. Kaum hat sich das junge Volk kennen gelernt, geht es Kontakte ein, die dem Sakrament der Ehe vorbehalten sind. Das sechste Gebot wird nicht mehr ernst genommen. Wollt ihr in der Hölle schmoren mit einer befleckten Seele voller Todsünden?
Nun wandelte der wortgewaltige Gottesmann in diesem armseligen Hof! Nein, Joseph hätte ihn lieber gesehen in einem prächtigen Saal mit weichen Teppichen, berühmten Kunstwerken und glitzernden Lüstern anstatt auf den holprigen Pflastersteinen seines Hofs. Joseph schämte sich.
Herr Pfarrer kam näher.
Er entdeckte Joseph, der starr und staunend auf der Bank saß.
Wie gern wäre Joseph verschwunden, aber hinter ihm war die Hauswand, und der Priester war nur noch wenige Schritte entfernt.
„Grüß Gott, mein lieber Joseph!“
Joseph gab sich einen Ruck, erwiderte den Gruß und sagte, um etwas zu sagen und ein bisschen stolz: „Sie waren in meiner Scheune?“
„Richtig. Gibt es einen besseren Ort zur inneren Einkehr? Dort oben, nahe dem Paradies, sind mir Gedanken für meine Predigt am Sonntag gekommen, nachdem ich inbrünstig um göttliche Eingebung gefleht habe. Ich tat einen befreienden Schrei.“
„Herr Pfarrer, die Leiter. Sie haben meine Leiter gebraucht? Die stand nicht mehr unten.“ Joseph staunte selbst, dass er diesen Einwand über die Lippen brachte.
„Mein Sohn, sieh die Leiter als Symbol des Aufstiegs zum Himmel, Stufen zu Gott, sie war mein Werkzeug zu höherer Erkenntnis und Gottesnähe. Ohne deine Leiter wäre ich nie so weit gekommen, dass ich die Worte zum nächsten Sonntag im Kopf habe.“
Joseph war hin und her gerissen. Er war stolz und es ging ihm ans Herz, dass seine alte Holzleiter Hochwürden zu höherer Erkenntnis und – was war es noch? – Gottesnähe? - verholfen hatte.
„Herr Pfarrer, ich hatte den Eindruck, Sie waren nicht allein in der Scheune!“
Oh Joseph, das war ihm unüberlegt heraus gerutscht.
„Fürwahr, Joseph, wie kann ich allein sein, wenn ich bei meiner Suche nach Erkenntnis die heilige Maria um Hilfe bitte.“
„Ich war in der Scheune, und was ich gehört habe, war eher des Teufels als der Gottesmutter.“
Das war wiederum ehrlich.
„Oh großer Gott, da siehst du, wie sich ein Mensch täuschen kann. Ich bin sicher, du warst noch nie vollkommen in göttlichem Geist versunken, dass du mit der heiligen Maria Zwiesprache halten konntest.
Bist du sicher, dass wahr ist, was du gesehen hast? Bist du sicher, deinen Ohren trauen zu dürfen? Wissen wir alles, was zwischen Himmel und Erde geschieht? Wir sind alle Irrende auf diesem kleinen Planeten.“
Noch nie hatten Joseph solche Augen angesehen, noch nie hatte ein Mensch ihn so verwirrt. Dieses Wesen vor ihm war wie eine Lichtgestalt, nicht von dieser Welt. Gestik und Tonfall zogen ihn in den Bann. War er noch Joseph? Lebte er noch oder war er im Paradies? Er spürte einen unwiderstehlichen Sog, mit der dieser Geistliche ihn fesselte.
„Joseph, mal ehrlich, bist du sicher, dass morgens die Sonne über dem Horizont aufsteigt? Man sagt doch Sonnenaufgang. Und dass sie soeben hinter den Dächern des Dorfs versunken ist? Frage dich einmal, ob nicht wir uns morgens zur Sonne bewegen und abends von ihr weg.“
Der Pfarrer hob einen faustgroßen Stein auf. „Joseph, Joseph, bist du sicher, was nun geschieht?“ Hochwürden ließ den Brocken auf den Hof fallen. „Jedes Menschenkind wird behaupten, ein Stein sei zur Erde gefallen, sonst nichts. Ist es die Wahrheit, die ganze Wahrheit?“ Der Pfarrer sah ihm fest in die Augen und hob fragend die Hände. „Nein, glaube mir, mein Sohn, es ist nicht die ganze Wahrheit.“ Der Priester hob den Stein wieder auf, hielt ihn Joseph entgegen, ging einen Schritt auf ihn zu, senkte seine Stimme und raunte beschwörend: „Nein, Joseph, ungläubiger Thomas, die Erde ist auch auf den Stein gefallen!“
Einen Moment war Ruhe.
„Hochwürden, aller schlauen Worte zum Trotz, ich bin ein frommer Bauer, aber es fällt mir schwer, Ihnen zu glauben. Habe ich nicht eine menschliche Stimme gehört? Oder gar zwei, und eine Frauenstimme dabei?“
„Joseph, ich warne dich vor falschem Verdacht! Willst du falsch Zeugnis ablegen wider deinen Nächsten? Schäme dich, wenn du sündige Gedanken hattest. Komm zu mir zur Beichte nächsten Samstag, Gottes Gnade kann dich retten. Oh Herr, vergib ihm!“ Der Pfarrer sah zum Himmel.
„Was aber wahr ist, mein lieber Sohn, ich war nicht allein, um diese fromme Andacht und Einkehr zu erfahren. Es wäre doch eigensinnig von mir als Seelsorger, Gottes Nähe allein zu suchen und im Gebet mit ihm intim zu sein. Diesen Menschen kennst du sehr gut, mein Sohn, der in aller Frömmigkeit den Weg der Tugend beschreitet und ein entscheidendes Prinzip unserer christlichen Ethik verwirklicht hat, Liebe deinen Nächsten. Du sollst wissen, wer dieser fromme Mensch ist!“
Joseph war sprachlos. Ihm schwirrte der Kopf, er konnte nicht mehr klar denken.
Hochwürden schritt zurück zur Scheune und rief: „Mein lieber Engel, komm herunter, habe keine Angst, Gott und die heilige Lucia sind mit dir.“
Immer noch stumm sah Joseph, wie im Dunkel hinter dem Spalt des Scheunentors eine Gestalt erschien und im Rest des Abendlichts sichtbar wurde.
Seine Tochter.
Joseph fühlte sich wie betrunken.
„Komm her, Wilma, komm und zeige dich deinem Vater als frommer Engel, der unsere Ministranten vorbildlich führt, der die Nächstenliebe als höchste Tugend erkannt hat.“
Wilma schlug die Augen nieder, knöpfte an ihrer Bluse und zupfte sich Spelzen aus den Locken.
Joseph überwand sich und sagte: „Ich dachte, du wärst im Pfarrhaus bei deinen Ministranten.“ Herr Pfarrer parierte: „Aber mein Sohn, wenn sich ihr die Gnade bietet, Stufen auf der Leiter zum Paradies zu erklimmen, sollte ihr doch die Wahl zwischen irdischem und himmlischem Glück nicht schwer fallen, oder?“
Joseph verstand das alles nicht ganz und wagte auch nicht zu antworten.
„Wilma, nun kannst du zurück in den Schoß deiner Familie. In nomine Patris et Filii, et Spiritus sancti.“ Hochwürden machte ein Kreuzzeichen und entließ das Mädchen aus seiner Aura.
Joseph war in den nächsten Tagen noch schweigsamer als sonst. In erlösendem Traum sah er Tochter Wilma in dunkler Kutte für seine Familie beten.
Samstag ging er zur Beichte, weil er gesündigt hatte mit dem Gedanken, anstelle des Gottesmannes wäre der Teufel in seiner Scheune gewesen.
Er beichtete auch, dass er seine Tochter geohrfeigt hatte wegen ihres Fehltritts auf Kirchweih, und den Stups gegen Regina, die in böser Vorstellung behauptet hatte, der Herr Pfarrer würde aus Angst vor der Eifersucht seiner Haushälterin in anderen Revieren balzen.
Joseph ging erleichtert heim und verband das Nötige mit dem Angenehmen, setzte sich auf die Bank vor dem Haus, stopfte sein Pfeifchen und erledigte seine Buße. Mit fünf Ave Maria und fünf Vaterunser war er glimpflich davon gekommen.
 



 
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