Der Junge mit dem Apfel

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Claus Thor

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DER JUNGE MIT DEM APFEL
VON
CLAUS THOR


Der alte Mann saß in seinem Zimmer und rauchte eine Zigarre. Ab und zu nahm er einen Schluck Whiskey aus einem schweren Kristallglas und hing seinen Gedanken nach.

Immer dann, wenn er sich einsam fühlte, holte er die betagte Zigarrenkiste hervor voller alter Fotographien.

„Ah, dies war Helen mit neunzehn Jahren“, sagte er laut in das Zimmer hinein, als ob es ihm zuhörte. Das Foto zeigte eine hübsche Frau in der Kleidung einer Krankenschwester vor einem Militärjeep. Auf der Rückseite stand geschrieben: Florenz 1944 ich liebe Dich Helen! In dem Jahr war er an der rechten Schulter von einem Granatsplitter getroffen worden. So lernte er sie im Hospital kennen und lieben. Er machte ihr damals einen Heiratsantrag. Helen lehnte ab. Sie hatte ihm gesagt, dass sie doch nicht jeden Soldaten, den sie pflegte, heiraten könne. Sie hatten beide gelacht und sicherlich wäre mehr aus ihnen geworden. Aber wie es halt im Leben so ist, besonders in solchen schweren Zeiten, trennten sich ihre Wege. Nach seiner Genesung ging er zurück an die Front. Sie blieb eine Zeitlang in Florenz stationiert, bis eine neue Order sie nach Frankreich versetzte. Man hatte sich für nach dem Krieg verabredet. In Florenz. Aber Helen kam nicht. Später erfuhr er, dass sie bei einem Krankentransport ums Leben kam.
Er nahm noch einen Schluck. Die feuchten Augen blieben feucht. Er wollte es so. Das war er ihr schuldig.
Seine leicht von Gicht gekrümmten Finger kramten weiter in der Schachtel und brachten ihn tiefer in seine Vergangenheit.
Nun schaute er sich ein Bild an, das sein Vater geschossen hatte, Maine 1937. Er war dreizehn Jahre und mit dem Baseballpokal der Schulmeisterschaft zu sehen.
Der Alte schaute kurz auf und der Vollmond schien durch das Fenster. Er nahm mit greiser Hand das schwere Glas und nippte seinen Whiskey, zog tief den Rauch seiner Zigarre ein und griff sich das nächste Foto. Ein Junge, etwa neun Jahre alt, er hielt einen Apfel in den Händen, als wäre es ein Baseball. Die Kappe saß quer auf seinen blonden Haaren und er sah sehr konzentriert aus. Nie hatte er erfahren, wer diese Fotographie machte, aber sie bedeutete ihm, Bill, viel und er sah alles genau so vor sich, wie damals, als er dieser Junge war.

Man schrieb das Jahr 1934, Bill schaute den größeren Jungs beim Spiel zu. Er wusste genau, dass er niemals so ein guter Batter und Läufer werden würde wie John Watts. Aber er wusste auch - denn er übte oft - dass er das Zeug zu einem brauchbaren Pitcher mitbrachte. Er hoffte, dass er einmal die Gelegenheit bekäme mitzuspielen. Gut, Bill wusste, dass die Chancen schlecht standen, schließlich waren die Jungs älter und größer als er – sie würden ihn niemals mitmachen lassen, warum auch? Es war der Traum eines Jungen.

Bill kam von Mrs. Wigfield, wo er den Rasen mähte, um sein Taschengeld aufzubessern. Sie hatte ihm ein paar Äpfel mitgegeben, die er, bis auf einen, in seinem Rucksack verstaute. Bedächtig kauend kam er in Höhe des Spielfeldes, wo er stehen blieb und hinüber schaute. Dort sah er, wie einige Jungs heftig stritten. Drei Größere in schwarzen Lederjacken wurden handgreiflich; er sah, wie sie Pete Boyle, Clements Pearl und John Watts klatschten. Sie wehrten sich, aber die Lederjacken waren ihnen über. Pete, das war der Werfer - kein wirklich guter Pitcher - lag am Boden, so ein rothaariger Schläger obenauf.
Bill konnte nicht hören, worum es ging, aber das brauchte er auch nicht: Es war immer das Gleiche und er hatte es schon oft gesehen, was immer diese Schläger wollten, sie waren brutal gegenüber Schwächeren. Einmal, auf der Schultoilette, hatten auch ihm Rowdys Geld abgepresst, aber ansonsten ließ man ihn in Ruhe.
Bill wusste nicht zu sagen, was ihn an diesem Tag geritten haben mochte, jedenfalls hatte er noch diesen angenagten Apfel, er legte seinen Rucksack ab, visierte, in bester Werfermanier, die Lederjacke, die ihm am nächsten war an und warf gezielt. Der Treffer holte den Typ, mit einem hässlich schmatzenden Geräusch, von dem am Boden liegenden Pete.
Alle viere von sich gestreckt, blieb die Lederjacke, wie ein großer grässlicher schwarzer Käfer, auf dem Rücken liegen, und rührte sich nicht mehr.
Jählings richteten die anderen Beiden sich kerzengerade von ihren Opfern auf. „Hey, du Arsch“, rief der, welcher John Watts am Shirt gepackt hielt. Er war ein großer kantiger Bursche. „Du – du kleine hässliche Filslaus! Du wirst sterben – sag ich dir!“
Bill merkte, wie es ihm eiskalt wurde, und er starrte den Typen direkt in die gemeinen und böse funkelnden Augen. Er wusste, dass er keine Chance hatte. Mechanisch holte er einen weiteren Apfel hervor, zielte - und warf ...
Flink bückte dieser sich unter dem Wurfgeschoss weg und stand drei Sekunden später auf den Beinen. Die Lederjacke machte Anstalten Bill zu erwischen – aber es erwischte ihn: Der dritte Apfel traf den Burschen mitten ins Gesicht, sodass ihm später die Vorderzähne fehlten. Um den Dritten kümmerten sich die Jungs selbst. Tja, so war das damals, dachte der alte Mann und er erinnerte sich noch an den Rest, nachdem die Schläger dem Sheriff übergeben worden waren und alle sich bei Bill bedankten für sein couragiertes Auftreten. Bill freute es besonders, dass er beim nächsten Spiel Pitcher sein durfte. Pete Boyles Hand war gebrochen, und einen besseren Ersatz als Bill konnte sich niemand vorstellen.
Bill, der jetzt beinahe siebzig Lenze zählte, lehnte sich in seinem Sessel zurück und verharrte einen kleinen Moment in dieser Erinnerung, bevor er die Fotographie zurück in die Kiste legte und sie schloss. Er dachte daran, wie schnell doch die Zeit verflogen war, dann löschte er den Zigarrenstummel im Ascher aus und begab sich zu Bett.
 



 
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