Der Kapuzenmann

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disul

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Der Kapuzenmann


Es musste kurz nach sechs sein, als ich, da noch kaum Autos vorfuhren, auf meinem Stuhl im Tankstellenshop auf Kundschaft wartete und mir Gedanken über Gott und die Welt machte. Über meine Oma, die bei einem Sturz ihren Oberschenkelhals gebrochen, über den Ausgang der letzten Kurzgeschichte, die ich gelesen habe, und der mir so absolut nicht gefiel, über die Krise in meinem Land. Alles Mögliche schwirrte durch meinen Kopf. Auch über meine Semesterarbeit machte ich mir meine Gedanken.

Es war, während ich mich dem Sinnieren hingab, schon halb sieben geworden. Ein weisser Wagen hielt an der dritten Zapfsäule an.
Die Nacht machte bereits der Morgendämmerung Platz. Die Sonne war noch nicht zu sehen, aber die Färbung des Himmels hinter den Bergspitzen liess ihr Erwachen erahnen. Nebel wallte aus dem Tale hoch. Auf den nahegelegenen Höfen krähten die Hähne um die Wette und Hunde bellten. Das Rauschen des Baches war noch zu hören. Erst, wenn der Verkehr auf der Autostrasse zunahm, ging es im Lärm der Motoren unter. Der Geruch von Diesel und Benzin mischte sich mit dem von Rauch aus den Kaminen. Es war schon nötig, zu heizen, denn hier, gegen die Passhöhe zu, wurde es nun auch schon tagsüber empfindlich kühl. Nein, dieser Schluss war wirklich daneben. Ein Heiratsantrag kann unmöglich in einem Kanalisationsschacht einer Stadt erfolgen. Da müssen zumindest ein Sonnenuntergang, ein Kerzendinner oder eine Skihütte her.

Aus dem weissen Wagen stieg eine schwarze, vermummte Gestalt.
Ich erhob mich von meinem Stuhl und schritt auf den Wagen zu. Die nachtfarbene Kapuze des Kunden verdeckte sein Gesicht und mir kroch ein Schauer den Nacken hoch. Ich begann zu zittern, und dies nicht nur wegen der Kälte. Unwillkürlich verlangsamte ich meine Schritte. Mein Herz begann, wie wild zu rasen, als ich der Zapfsäule näher kam, um, wie dies meine Semesterferien-Arbeit war, neuen Treibstoff ins Auto einzufüllen. Am liebsten hätte ich rechtsumkehrt gemacht und wäre davongeeilt, denn ich sah mich schon als das gemarterte Opfer eines wahnsinnigen Inquisitors oder als die willkommene Beute des Leibhaftigen selbst.

Es verlief dann doch alles bestens. Aber wieder einmal bin ich in die Klischee-Vorurteilsfalle reingetappt, ohne dass ich mich gross wehren konnte. Der schreckliche Bösewicht entpuppte sich nämlich als friedfertiger Priester, der mich weder beseitigen noch richten wollte. Ganz witzig finde ich, weil dies nicht geplant und nicht vorgesehen war, dass ich hier an der Tankstelle fast tagtäglich praktische Beispiele bekomme, die ich in meiner Semesterarbeit „Über Klischees und Vorurteile“ einfügen kann.
Welch Glück ich endlich bekomme, meine vorgefassten Meinungen und meine falschen Definitionen zu ändern. Ich kann Erfahrungen machen. Ich kann erleben, entdecken, erkennen, dass ein Audi-Fahrer auch zurückhaltend, bescheiden und ruhig, eine Blondine intelligent, ein Krawattenträger kreativ und bärtig, eine turnbeschuhte Kurhaarige Managerin oder Politikerin und ein Kapuzenmann ganz besonders höflich, witzig und sehr einfühlsam sein kann.
 



 
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