Der Kick

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steyrer

Mitglied
„Ich weiß, weshalb Sie anrufen, Herr Heuensteiner: wegen Ihrer Kurzgeschichte. Eine Einschätzung, extern, unabhängig, zum Vorfühlen, weil ich ja den Herausgeber gut kenne. Hier ist sie, ja, und außerdem habe ich eine wichtige Nachricht, die könnte ein Kick für Sie werden. Mir ist selber die Spucke weggeblieben. Aber vorher braucht es noch ein wenig Textarbeit, aber alles nur Kinkerlitzchen. Ihr Icherzähler Gerhard ist also Korrespondent einer Schweizer Zeitung und berichtet 1960 mit einem Fotografen Werner von der Tunnelbaustelle am Großen Sankt Bernhard. Historisches Setting also. Eine weitere Figur haben sie mit einem gewissen Padre Francesco vom Hospiz auf der Passhöhe, zwar etwas altväterisch, aber akzeptabel. Weiter geht es um eine Katastrophe, den Einsturz einer 20 Meter hohen Brücke am Karfreitag und um ein Wunder. Bitte Vorsicht: Nicht allen wird der Karfreitag was sagen und wie heißt denn eigentlich diese Schweizer Zeitung? So sieht es unpersönlich aus. Immerhin: Es gibt keine Opfer und genau das ist das Wunder, denn eine Musikbox spielt statt Schlagern plötzlich klassische Musik – zweimal dasselbe – und steht dann still. Die Arbeiter versäumen ihren Schichtantritt und stürzen nicht mit der Brücke in den Abgrund. Gut. Es gibt allerdings ein kleines Problem: Ihr klassisches Stück ist nicht irgendeines, sondern Schuberts Unvollendete, und die verträgt sich nicht mit Ihren Zeitangaben: Sie schreiben: ‚Vier Minuten – sechs Minuten. Dann war die Platte wieder zu Ende.‘ Nehmen Sie lieber irgendetwas Eingängiges, Kurzes – lassen Sie mich überlegen, vielleicht von Bach: ‚Wachet auf, ruft uns die Stimme‘, oder noch besser: ‚Canon und Gigue‘ von Pachelbel, das dauert Ihnen genau sechs Minuten und fährt voll ein. Sie wollen damit ja Wilde beeindrucken, ja so heißt Ihre Geschichte doch: ‚Bei dem wilden Volk der Mineure‘. Der Titel muss unbedingt kürzer und knackiger werden und ein bisschen mehr Atmosphäre ist nötig: Sie beschränken sich auf Hörbares und Sichtbares, aber Ihre Tunnelarbeiter rauchen doch sicher alle und schwitzen und sind dreckig. Wie riecht es, wenn einer von denen die Schuhe auszieht, und bekommt der eine Gänsehaut, wenn die Musikbox loslegt, oder sträuben sich die Nackenhaare?

Jetzt zu dem Untertitel: ‚Eine seltsame, aber wahre Geschichte‘, nun, das ist zwar nett, aber Sie erzählen in der Ich-Form. Lassen Sie es besser jemand anderen erzählen, oder ändern Sie die Erzählperspektive. Und Ihr Padre Francesco: Der ist wohl eine Art guter Geist oder gute Seele, ja? Dazu passt, dass er sehr undeutlich bleibt. Ja doch, Sie werden sehen: Hin und wieder taucht er bei den Arbeitern auf, um, ich zitiere: ‚… den rauen Gesellen ins Gewissen zu reden‘ und als er aufgefordert wird, ein Wunder zu vollbringen, antwortet er: ‚Menschen machen keine Wunder, die geschehen so nebenbei‘. Schon wieder eine Plattheit, aber eben auch ein Hinweis auf das bevorstehende Wunder. Als alles vorbei ist, wird er nach der Musikbox gefragt und sagt, er habe eine Vorahnung gehabt, nachdem er am Weg zu den Bernhardinerhunden auf einem Trittbrett eingebrochen sei. Dabei sieht er seine Gesprächspartner ‚beinahe listig‘ an, was immer das auch heißen mag. Wissen Sie es? Ja, ja, geheimnisvoll, wunderbar, rätselhaft. Ich sage Ihnen: Aus diesem Padre könnten Sie einen Geist machen oder vielleicht sogar einen Engel? Aber gut, wenn Sie meinen, dann nicht, und ja natürlich: Sie bezeichnen ihn ja als ‚echtes Original‘, gut, dann sollten Sie ihn deutlicher zeichnen, meinetwegen als komischen Heiligen. Irgendeine weibliche Figur brauchen Sie übrigens noch, vielleicht eine flotte Kantinenwirtin? Bis jetzt haben Sie nur einen langweiligen Kantinenwirt. Da wir schon bei den undeutlichen Figuren sind: Werner bleibt die ganze Zeit quasi unsichtbar und wird nur gebraucht, um zusammen mit dem Icherzähler zu fotografieren, damit der sich beim Anblick der Fotos erinnert. Wie umständlich! Lassen Sie nur Ihren Gerhard fotografieren, das ist ökonomischer. Und noch etwas: Eben der sagt, dass der Große Sankt Bernhard nur wenig interessant sei – ja, für den Autofahrer aus Österreich und klappt dann nach: ‚… für den aus der Schweiz oder Deutschland jedoch sehr‘. Warum dann Österreich zuerst? Das ist ungeschickt, und drei Absätze vor dem Schluss kommt’s dick: Er sagt, er habe in seiner Reportage diesen Vorfall erst gar nicht erwähnt und tut es jetzt nur, weil ‚… es gerade wieder Ostern ist‘.Wie bitte? Soll Ihre Geschichte also nur zu Ostern gelesen werden? Dann wird der Leser auch noch direkt angesprochen und geduzt. Das streichen Sie alles besser und denken Sie an die Namen Ihrer Figuren: Gerhard, Werner und Francesco. Wie gewöhnlich! Wie wär’s wenigstens mit Gérard und Vernier und Padre Bonifacio, und noch zwei Dinge: Warum geht es in Ihrer Geschichte um eine Brücke und nicht um den Tunnel? Lassen Sie den doch einstürzen und außerdem haben Sie dort oben doch die berühmten Bernhardiner. Was brauchen Sie da eine Musikbox?

Herr Heuensteiner, brüllen Sie nicht, die Verbindung ist ausgezeichnet. Ja, exakt: Mit meinen Vorschlägen würde eine andere Geschichte draus. Ich wollte nicht glauben, was Sie mir geschickt hatten, aber dann fühlte ich mich wieder blutjung, wie damals am staubigen Dachboden mit der Geschichte von Gerhard Steinhäuser. Ja, genauso steht sie im Jungösterreich-Heft von April ’76. Sind Sie noch dran?“
 
A

aligaga

Gast
Köstlich!

Wer kennte sie nicht, @Steyrer, diese Verschlimmbesserer, die es gut meinen, aber böse Absichten haben!

Die aus jedem atemberaubenden Prosarennen eine brunzlangweilige Kaffeefahrt machen wollen, weil ihre Abonnenten sonst sehkrank werden; die ein glühheiß gebratenes Drehbuch zu einem lauwarmen Würstelgulasch herunterkühlen, weil sie Angst davor haben, sich das Maul zu verbrennen, und die nur solche Wege vor sich liegen haben möchten, die mit ausgetretenen Filzpuschen zu bewältigen sind.

Sie sind der wahre Feind der Kunst, die Teufel neben dem Literaturhimmel, gefährlich wie ein weißer Hai oder ein Eiterkeim, dem auch mit dem breitbandigsten Anti-Biotikum nicht beizukommen ist.

Die Cholera und die Pest hole sie, diese Feiglinge, diese Bremser, diese kulturellen Rosstäuscher, diese Bieder-Meier-Monster! Und doch: Sie sind's, die die Macht haben! Es waren die, die in der Schule rosig und picklig waren, die die Mädchen nicht bekamen, aber dafür die guten Noten, und die einen nie abschreiben ließen.

Die haben jetzt die Macht, sitzen in den Aufsichtsräten und den Entscheidergremien, während wir immer noch on the road sind und unser immer dünner werdendes Herzblut in Wurstdärme füllen. So wie Lemmy es gemacht hat, bis er nicht mehr konnte.

Friede sei seiner Asche!

Gruß


aligaga
 

steyrer

Mitglied
Hallo aligaga!

Ich freue mich, dass sie dir gefällt. Hoffentlich bleiben meine Kommentare stets konstruktiver als diese Kurzgeschichte. ;-)

Grüße
steyrer
 



 
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