Der Lebenslauf der Sterne

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ebbajones

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Der Lebenslauf der Sterne


Nathaniel mochte die Dunkelheit.
Eine gute Vorraussetzung für seine Arbeit, da es während eines Vortrages meist dunkel war. Die Menschenscheu, als Konsequenz seiner spärlichen sozialen Kontakte, hatte ihm anfangs mehr zu schaffen gemacht.
Doch mit jedem Vortrag war es besser geworden.
Jetzt klang seine Stimme ruhig und sicher, er sprach nur etwas lauter als sonst, denn die Bauarbeiten in der Hochschule waren noch in vollem Gange.
Direkt im Büro nebenan wurde heute ein nasser Fleck in der Wand trockengelegt und Nathaniel versuchte mit seiner Stimme das gedämpfte Klopfen zu übertönen. Nach der üblichen kurzen Vorstellung seiner Person und des Planetariums lenkte er die Aufmerksamkeit seines jungen Publikums auf die Vielzahl von Lichtpunkten über ihren Köpfen.
Im Moment herrschte erwartungsvolle Stille.
Er begann mit der Vorführung irgendeiner Nacht, ohne jegliche Erklärungen nur untermalt von Musik, um den Besuchern die Chance zu geben, sich ungestört der Schönheit der Sterne zu nähern.
Eine Schönheit, die Nathaniel von frühster Kindheit berührt und fasziniert hatte.
Umgeben von einem leeren und kalten Universum verbrachten diese riesigen, glühenden Gasbälle den größten Teil ihres Lebens damit zu verbrennen.
Eine weltferne Biographie, ähnlich seiner eigenen.
Irgendwo knisterte Papier.
Im hinteren Bereich des Saales war leichtes Gekicher zu hören.
Ein Vortrag dauerte zwischen vierzig und hundertundzwanzig Minuten.
Den vorhergehenden, gehalten vor einer uninteressierten und unangenehmen Schulklasse hatte Nathaniel bereits nach vierzig Minuten beendet.
Um die Aufmerksam dieser Gruppe wieder zu erlangen, setzte er
jetzt die Sternschnuppen ein, was begeisterten Applaus auslöste.
Marias Blick glitt leicht nervös zum Eingang.
Sie durfte sich nicht erwischen lassen, denn sie war auf den Job angewiesen.
Sie stand an der hinteren Wand des Saales, leicht verdeckt von dem Projektor mit dem nur noch die Sonnenfinsternisse dargestellt wurden.
Früher mit der wichtigen Aufgabe betraut, zukünftigen Kapitänen das Navigieren anhand der Sterne zu vermitteln, hatte er in Zeiten des GPS und Navigationscomputern ausgedient. Irgendwie war es ihr auch so ergangen.
Sie hatte den Anschluss verpasst in dieser schnelllebigen Zeit, war immer mehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt, schließlich abgestürzt, in den Abgrund der Arbeitslosigkeit und schwer Vermittelbaren. Eine Tatsache, die ihr bei jeder Bewerbung und Absage deutlich vor Augen geführt worden war.
Auch der Leiter des Planetariums, einer von diesen überkorrekten, hatte verwundert die Augenbrauen hochgezogen, beim Überfliegen ihres Lebenslaufes. Ein beruflicher Absturz wie der ihrige befand sich wahrscheinlich jenseits seiner Vorstellungskraft. Es hatte Maria alle Überredungskraft gekostet, zum Schluss hatte sie sogar an sein soziales Gewissen appelliert, um die Stelle zu bekommen. Lächerlich, wenn man bedachte, dass sie nur für die Sauberkeit der Räumlichkeiten verantwortlich war.
Endlich war wieder Ruhe im Saal eingetreten.
Nathaniel begann mit den Erklärungen zu den Himmelsrichtungen und dem Sonnenaufgangspunkt am Horizont.
Maria mochte seine Stimme. So oft sie konnte, schlich sie sich bei seinen Vorträgen in den Saal.
Zudem gefiel ihr die Vorstellung, dass auch die Sterne ihrem Schicksal nicht entgehen konnten. Mit Sicherheit wäre sie einer dieser hellen Sterne, die manchmal aufflammten, wo vorher kein Stern gesichtet worden war.
Eine trügerische „Nova“, die nicht lange anhielt, deren Helligkeit in kürzester Zeit wieder auf ihre ursprüngliche Intensität schwand.Inzwischen hatte Nathaniel die Erklärung der Sternbilder beendet.
Geduldig und ruhig beantwortete er die aufkommenden Fragen und ließ sich auch nicht von obligatorischen Zwischenrufern einiger pubertärer Zuhörer verunsichern. Eine seiner stärksten Qualitäten, wie Dr. Fischer wieder einmal mit einem leichten Hauch von Verwunderung feststellen musste.
Er saß in der hintersten Reihe des Saals und lauschte Nathaniels Ausführungen.
Ihm selbst fehlte die Toleranz für diese notorischen Unruhestifter, doch das war nicht weiter von Belang, denn als Leiter des Planetariums hatte er andere Aufgaben zu bewältigen. Im Stillen beglückwünschte Dr. Fischer sich selbst zu der Entscheidung, diesem doch recht eigenartig, fast schon leicht autistisch wirkenden jungen Astrologen eine Chance gegeben zu haben. Er war wirklich ein Gewinn für sein Team, das aus zwei Teilzeitbeschäftigten und dreizehn freien Mitarbeitern bestand. Einschließlich der Putzfrau, die er heute zum wiederholten Male bei der Vernachlässigung ihrer Pflichten beobachten konnte.
Er würde ein ernstes Wort mit ihr reden müssen.
Ein unangenehmer Gedanke, denn eigentlich waren ihm Menschen wie diese Person suspekt, vergleichbar mit den Schwarzen Löchern im Universum. Zerfallene Sterne ohne Strahlung, nur lokalisierbar durch den Effekt, den sie auf etwas Sichtbares hatten, mit keiner Chance für Außenstehende, ihre inneren Vorgänge zu bestimmen. Auch seine geschiedene Frau war so ein Mensch. Eine Tatsache, die ihm allerdings erst nach dem Unfalltod seines Sohnes klar geworden war. Aber er hatte sich nicht einsaugen lassen, in dieses schwarze Loch der Trauer aus dem es kein Entkommen gab, hatte alles hinter sich gelassen, das keplersche Gesetz gesprengt und seine ihm bestimmte Umlaufbahn verlassen. Ein auch durchaus denkbares Szenario in unserem Universum, ausgelöst durch die Kollision zweier Planeten, oder die Gravitation eines anderen Sternes.
Gerade begann Nathaniel mit Hilfe von Dias die Bewegungen der Planeten zu erläutern. Ein zusätzlicher Vortrag, der nur bei wirklichem Interesse an das normale Programm angehängt wurde.
„Das Wort Planet stammt aus dem griechischen und bedeutet Wanderer, denn Planeten sind ständig in Bewegung. Nur die Schwerkraft der Sonne verhindert, dass sie sich selbständig machen. Merkur, Venus, Mars, Jupiter, Saturn, Uranus, Neptun und die Erde besitzen eine so hohe Bewegungsenergie, dass sie sich eigentlich selbst ins All schießen müssten.“
Schon nach seinen ersten Worten herrschte wieder absolute Ruhe. Dr. Fischers Blick glitt durch den verdunkelten Raum.
Wie die Plejaden am Himmel, saßen die Zuhörer verteilt im Saal. Sternhaufen wie die Plejaden gehörten zu den schönsten Objekten am Himmel.Sie konnten einige Dutzend, aber auch einige hundert Sterne enthalten und besaßen keine feste Struktur. Diese Sterne waren gleich alt und entstammten der gleichen interstellaren Wolke, doch sie bestanden nicht unbegrenzt fort. Im Laufe der Zeit wurden sie von anderen Sternen beeinflusst und verloren ihre Stabilität. In wie weit würde wohl dieser exzellent gehaltene Vortrag das Leben seiner Zuhörer beeinflussen? Oder war dieser Gedanke so anmaßend wie der Griff nach den Sternen? Doch mit Sicherheit hatte Nathaniel es wieder einmal geschafft, seine Zuhörer mitzunehmen, ihnen ein klein wenig den Blick geöffnet für die Unendlichkeit des Universums und den Lebenslauf der Sterne.
 

Val Sidal

Mitglied
ebbajones,

ich habe gerade angefangen zu lesen, als ich die eingebung hatte, mir dein profil anzusehen -- nichts.
du kommentierst keine texte und hast auf keinen kommentar der kollegen geantwortet.

also werde ich deinen text nicht lesen.
 
J

justooktavio

Gast
Sehr schön die Metaphern etc. ziemlich gut getroffen und alles nur kurz angeschnitten, nicht all zu tief in die personen eingedrungen und doch ein schönes kurzes bild vermittelt...
 

Ironbiber

Foren-Redakteur
Eine nette Geschichte die zwischen leichtem Autismus, menschlichem Gefühlsebenen, vorlauten kleinen Mistkerlen und der Schönheit und Größe des Universums angesiedelt ist. Ja, ein gutes Planetarium kann Gänsehaut vermitteln.

Ich hätte mir zwar mehr Tiefe bei den Charakteren und eine deutlichere Handlungsebene gewünscht, aber im Großen und Ganzen sehe ich diese Geschichte als weitgehend gelungen an, da sie Atmosphäre schafft.

Wenn du jetzt noch dem „Astrologen“ Nathaniel den Rang eines „Astronomen“ verleihst, bin ich ganz zufrieden, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass er den kleinen Teufelchen auch noch Horoskope erstellte.

Grüße vom Ironbiber
 



 
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