Der Liebesbeweis

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HFleiss

Gast
Sarah kannte er erst seit kurzem, seit einem Straßenfest. Er sah sie vom Podium aus, wo er mit der Band spielte, das lange schwarze Haar war ihm auf den ersten Blick aufgefallen. Er gab den anderen einen Wink: Spielt ohne mich. Und dann tanzten sie. Und er spürte, mit keiner anderen im Leben würde er je wieder so tanzen können, so selbstverloren, so eins mit sich selbst, es war, als habe sie ihn verzaubert. Der Rhythmus riss sie mit, die Band spielte nur für sie beide. Sarah lächelte, Abdul schien es ein überirdisches Lächeln, als befinde sie sich an einem anderen Ort. Er sah nur ihre schwarzen Augen, lang bewimpert, Augen, die ihn nicht loslassen wollten.

Sie war mit einem anderen Mädchen gekommen, das eine Cola nach der anderen trank, aber nicht tanzte und sie nicht allein ließ. Unter dem Tisch suchte er Sarahs Hand und ließ sie nicht mehr los, bis er auf die Bühne musste. Später, als sie endlich für wenige Minuten allein waren, küsste er Sarah, behutsam, als sei sie aus kostbarem Porzellan, und sie ließ es geschehen.

Als sich die Band verabschiedet hatte, spätabends, lief er mit Sarah durch schwach erhellte, schläfrige Straßen, es gab kaum Autoverkehr, einige ältere Paare kamen ihnen entgegen und warfen ihnen misstrauische Blicke zu.

Nichts wusste Abdul von seinem Vater, erzählte er Sarah. Nur dass er in Tansania verschollen und dass er Student war, damals, Ende der achtziger Jahre, an der Humboldt-Universität, ehe er zu einem Urlaub in sein Heimatland reiste. Die Mutter, in ihrem Schmerz, sprach nach der Tragödie nicht vom Vater, Abdul drängte sie auch nicht, es war, als gäbe es zwischen ihne eine unausgesprochene Übereinkunft, den Vater nicht mehr zu erwähnen.

Abdul lachte, als er von seinem Vater sprach, er lachte immer, sobald sich sein Herz zu verkrampfen begann. Es war sein Schmerz, nur seiner, niemand, auch nicht Sarah, sollte von ihm wissen, als könne er ihm gestohlen werden.

Fremd war Abdul die Welt geworden, gleich nach der Wende, die veränderte Welt, in der er jetzt lebte, die ihn als Ungeliebten behandelte, als einen, der nicht hierher gehörte, dem man schon äußerlich ansah, dass er kein Deutscher war, und Abdul sprach von sich scherzhaft als von einem Bastard.

Die Zukunft? Sarah blickte ihn erwartungsvoll an. Musiker, ja Musiker wäre er gern. Früher wollte er Medizin studieren, wie sein verschollener Vater, das sei er ihm schuldig. Aber, die Wirklichkeit sei prosaisch, wieder lachte Abdul, jetzt könne er nur mit einer Lehrstelle rechnen, irgendeiner, Sarah wisse so gut wie er, dass eine alleinstehende Frau mit ABM-Stelle, er meinte seine Mutter, ein Studium niemals ermöglichen könne. Was die Musik angehe, seine Stimme wurde weich, er liebe die Musik, und die Musik liebe ihn. Er spiele in der Band Gitarre, sei Vormann oder Trommler, und das mit aller Leidenschaft. Eines Tages werde Sarah seinen Namen auf einem Plakat lesen: Abduls Band, und er würde durch Jamaika und die USA reisen, auch durch ganz Europa, und Wahnsinnserfolge feiern, alle Welt werde seine Lieder kennen.

„Und du, Sarah, wirst bei mir sein, überallhin werde ich dich mitnehmen, niemals werden wir uns trennen. Willst du das?“

Sarah nickte zweifelnd.

Nach dem Straßenfest trafen sie sich an den Nachmittagen, entweder in Abduls Zimmer, wo er selbstkomponierte Lieder zur Gitarre sang, voll Pathos und mit viel zu tiefer Stimme, oder sie gingen in das Straßencafé in der Nähe und tranken Apfelsaft, den Sarah bezahlte. Sie redeten und redeten, bis die Zungen schwer wurden, Sarah sagte lachend, er solle noch ein paar Storys für später aufheben. Ach was, erwiderte er, sie würden noch so unendlich viele Storys erleben, und kein Mensch werde sie glauben, sei das nicht verrückt? Wenn er sie bedrängte, wehrte sie ihn behutsam ab: Noch wolle sie nicht alles, sagte sie verlegen, später, wenn sich ihre Liebe bewährt habe, bliebe genug Zeit für die Liebe. Abdul fügte sich, eingeschüchtert von der unerwarteten Konsequenz.

Sie schwärmte von ihrem Vater, der Rabbiner war, und sprach voll Angst davon, als Jüdin in Deutschland leben zu müssen. Eines Tages, sobald der Vater wieder nach Tel Aviv zurückginge, werde sie dieses kalte Land verlassen und ihn, Abdul, wenn er sie dann immer noch liebe, mitnehmen, versicherte sie. In Israel liebe man übrigens Musik, er werde auch dort berühmt werden können. Doch ein schweres Gepäck sei er, denn ihr Vater werde wenig Verständnis für ihre Liebe zu einem schwarzen Deutschen aufbringen können, dessen Vater, auch wenn er ihn kaum kenne, zudem noch Moslem war.

Inschallah, scherzte Abdul und nahm sie in die Arme.

Abdul lebte in dem Gefühl, dass sein wahres Leben jetzt erst begonnen habe. Die Welt hatte sich verändert, sie liebte ihn wieder, jeden Tag mit Sarah erlebte er wie den ersten, die Tage waren viel zu kurz geworden. Er spürte etwas Neues in sich, ihm schien, als wachse er mit jedem Tag.

Plötzlich aber änderte sich alles. Abdul konnte sich den Grund nicht erklären, er fühlte sich schuldlos. Sarah sah er seit neuestem immer seltener. Sie studierte an der Musikschule Violine, und so manches Mal ließ sie ihn warten und redete sich mit irgendeiner Probe heraus, die überraschend angesetzt worden sei, einige Male wartete er sogar vergeblich.

Eines Tages drang er in sie: Warum, warum war sie nicht gekommen? Liebte sie ihn nicht mehr?

Sarah erhob sich auf die Zehenspitzen, nahm seinen Kopf in die Hände und küsste ihn. „Ich mag dich wie eh und je, Abdul. So sehr, dass du es nicht glauben kannst. Das weißt du doch. Du Dummkopf“, flüsterte sie.

Dummkopf, Dummkopf ... Ja, er war ein Dummkopf. Wie einen Tanzbären führte sie ihn am Nasenring herum.

Abende lang wartete er vor der Musikschule auf sie. Menschen gingen aus und ein, sie durften mit Sarah sprechen, ihren Duft atmen, sie berühren. Er aber stand hier, auf der Straße, vor dieser verdammten Musikschule, vergebens. Nicht ein einziges Mal blickte sie aus dem Fenster, hinunter zu ihm. Sah er sie dann kommen, mit ihrem Instrument, wagte er es nicht, sich bemerkbar zu machen.

An diesem Abend aber trat sie auf die Straße, in einem Moment, als er es noch nicht erwartete.

Er stürzte auf sie zu. „Du“, keuchte er.

Sie entwand sich seiner Umarmung. „Es ist spät. Morgen, Abdul, morgen drücke ich mich vor der Probe. Wir haben einen ganzen Tag, einen ganzen Tag Zeit für uns, nur für uns beide. Morgen, Abdul.“

„Du liebst mich nicht mehr, ich weiß es.“

„Nichts weißt du. Du kennst meinen Vater nicht.“

„Dann bring mich zu ihm. Ich werde ihm alles erklären. Er wird mich lieben. Vielleicht mag er Musik.“

„Zu meinem Vater? Niemals.“

„Aber ich liebe dich, Sarah, und nicht deinen Vater.“

„Wenn du mich liebst, musst du auch meinen Vater lieben. Und er dich.“ Sie schmiegte sich an ihn. „Er ist so unerhört konservativ, weißt du?“

„Liebst du mich noch?“

„Ja doch, du Dummkopf. Wie oft soll ich es dir noch sagen?“

Er war verloren. Sarah liebte ihn nicht mehr. Aber sie sprach von Liebe. Was sollte er glauben? War es möglich, dass sie schon längst an einen anderen dachte, irgendeinen dieser lackierten Affen von der Musikschule? Nein, entschied er, sie liebte ihn, nur ihn. Sarah in den Armen eines anderen? Unvorstellbar. Ja, ja, sie liebte ihn, nur ihn. Aber auf eine Weise, die ihn verwirrte. Einen Beweis brauchte er, einen Beweis, der jeden Zweifel beseitigte.

Zwei Abende später, den ganzen Tag hatte es tagsüber geregnet, wartete er wieder vor der Musikschule. Die Straße erglänzte im Schein der Lichter von Schaufenstern, Laternen und Autoscheinwerfern. Wieder stand Sarah vor ihm, überrascht. Er sah ihr Erschrecken, deutete es sich auf seine Weise.

„Du sagst“, begann er, „du liebst mich. Wie sehr liebst du mich?“

Sie zuckte die Schultern. „Ich fühle deine Liebe, Abdul, auch deshalb liebe ich dich. Du weißt, wie sehr ich dich vermissen würde. So sehr, dass ich kein Wort dafür weiß.“

„So sehr, dass du heute mit mir gehen würdest?“

Sie erblasste. „Nein, nicht heute. Mein Vater wartet. Ich bitte dich, Abdul.“

„Du sagst nicht heute und meinst niemals.“

Sie wurde unsicher. „Ich müsste ... Mit mir selbst klarkommen müsste ich, Abdul. Und mit meinem Vater.“

„Du bist eine Frau, Sarah, und ich ein Mann.“

Sie schwieg, starrte aufs Pflaster, sekundenlang. „Gut“, sagte sie plötzlich tonlos, „dann eben heute.“

Er hatte nichts vorbereitet. Zum Glück war die Mutter war noch nicht im Hause. Der Kühlschrank war leer. Im Wohnzimmer fand er eine billige Flasche Sekt. Er balancierte Gläser und Flasche auf einem Tablett in sein Zimmer.

Sarah saß auf dem Bett und sah ihm schweigend zu. Wie ein Opferlämmchen, dachte er, und er fühlte sich plötzlich erwachsener als sonst. Er goß ein. „Auf unsere Liebe, Sarah“, sagte er ernst.

Sie trank in kleinen Schlucken und blickte ihn mit Augen an, in denen er Erschrecken und Angst las.

Ungeschickt streifte er ihr den Pullover über den Kopf.

„Lass“, wehrte sie ab, „ich zieh mich allein aus, du bist zu stürmisch.“

„Ich bin ein Tolpatsch, von Geburt an ...“ Er lachte. Sie hielt ihm den Mund zu.

Als er sein Zimmer wieder wahrnahm und ihren erhitzten Mädchenkörper an seinem Leib spürte, fragte er: „Wie fühlst du dich? Gut?“

„Es war nicht so angenehm, wie ich dachte“, sagte sie gequält. „Das Laken, spül es aus, sonst findet es deine Mutter. Ach, du - Dummkopf, mein lieber, lieber Junge, Abdul.“ Sie zog ihn an sich.

Der nächste Tag war ein Sonnabend. Die Mutter hantierte lautstark in der Küche, als es klingelte. Abdul lag auf dem Bett, den Kopf ins Kissen gewühlt, es roch nach Sarahs Haar, kaum merklich noch. Eine männliche Stimme drang von der Wohnungstür zu ihm, er glaubte, englische Wortfetzen zu verstehen. Abdul sprang auf, öffnete seine Tür einen Spalt. Er sah den Rücken eines dunkelhaarigen älteren Mannes in schwarzem Anzug, die Mutter führte den Gast ins Wohnzimmer. Beklommen stand Abdul dann im Flur und versuchte das gedämpft geführte Gespräch zu verstehen. Es war der Vater, Sarahs Vater. Was wollte er hier? Abdul schlich zurück in sein Zimmer.

„Was wollte er?“ Abdul wartete beunruhigt auf die Antwort der Mutter.

„Abdul, mein Junge“, wehrte sie ab. „Lass mich erst mal alles überdenken. Ich habe auch nur die Hälfte verstanden, er sprach die ganze Zeit über englisch.“

Am Nachmittag wartete er auf Sarah. Seit einer Stunde schon saß er müde am Tisch des kleinen Cafés, in dem sie sich immer getroffen hatten, sah abwesend dem Straßenverkehr zu und wartete.

Mütterlich blickte die Serviererin zu ihm, sobald sie sich seinem Tisch näherte. „Soll ich was bringen, Abdul? Wo bleibt denn Sarah heute?“, fragte sie jetzt zum ungezählten Male.

Abdul erwiderte nichts.

Er erhob sich, er spürte es, Sarah würde heute nicht kommen. Ein schwarzhaariges Mädchen stand plötzlich vor ihm. Genauso schwarzhaarig wie Sarah, ging es ihm flüchtig durch den Kopf, im ersten Augenblick hatte er sogar geglaubt, sie, Sarah, sei es. Er kannte sie nicht, glaubte sie aber ein paarmal vor der Musikschule gesehen zu haben. Sie sprach kein Wort, blickte ihn nur prüfend und, wie es Abdul schien, mitleidig an und reichte ihm einen Brief. Abdul erblasste unter seiner dunklen Haut.

Erst in seinem Zimmer las er. „Abdul, mein Lieber, mein Leben. Wir reisen ab. Ich musste ihm alles erzählen, er hat mich so lange gequält, bis er alles wusste. Er hat getobt. Ich muss jetzt in Tel Aviv weiterstudieren, ich darf nicht aus dem Zimmer. Ich hasse meinen Vater. Wäre ich doch lieber gestorben. Ich möchte ein Vogel sein. Ich liebe dich. Immer werde ich nur dich lieben. Nur dich allein, Abdul.“

Abdul stöhnte auf, das Zimmer drehte sich. Nein, nicht das! Sarah! Sie wollten doch ... Durch die Welt reisen wollten sie, mit der Band, Sarah gehörte zu ihm, sie war ein Teil von ihm! Sarah, Sarah ... Hingehen würde er, ja hingehen, das würde er tun, er würde hingehen, vor Sarahs Vater treten, ihm den Kopf geraderücken! So ein Alter, noch dazu ein Rabbiner, was wusste der von der Liebe? Sollte er sich doch mit seiner Thora beschäftigen, was kümmerten sie, Sarah und Abdul, die jahrtausendealten Gesetze! Die Liebe ist stärker als jeder noch so viele Male heruntergebetete Bibelvers! Sie lebten heute, im einundzwanzigsten Jahrhundert!

Er kam zu sich, stemmte den Kopf in die Hände. Aber konnte er etwas tun? Nein, machtlos war er, er konnte nichts tun. Er kannte ja noch nicht mal Sarahs Adresse, in Wilmersdorf wohnte sie, hatte sie gesagt, auch die Straße erwähnt, er hatte sie vergessen. Vergessen! Er, dieser Rabenvater, würde Sarah entführen, an das andere Ende der Welt, und er? Nichts, er konnte nichts tun.

Wieder schrie es in ihm, er stieß die Faust ins Kissen. Ohne Sarah? Wozu noch leben? Ein Lachen schüttelte ihn plötzlich, krampfhaft, schrill, der Atem blieb ihm weg, es warf ihn vom Bett herunter.

„Was lachst du wie ein Verrückter?“ Die Mutter trat in das Zimmer. „Da wird einem ja angst und bange! Ich wollte mit dir reden, Abdul.“

Sie bückte sich, hob den Brief auf und las ihn. „Du weißt also schon alles“, sagte sie.

Sein Keuchen erstarb, er warf sich aufs Bett.

Einen Moment verharrte sie unentschlossen. Minuten vergingen.

„Steh auf, Abdul“, sagte sie dann. „Komm, hilf mir in der Küche. Ich denke, es ist Zeit fürs Abendbrot.“
 



 
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