Der Maler und das unvollkommene Modell

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Pattip

Mitglied
Der Maler und das unvollkommene Modell

Kaum hatte er das verabredete Zeichen gegeben, sprang sie ihm ungestüm auf den Schoß. Der dreibeinige Hocker zerbarst unter ihrer beider Gewicht, der Pinsel flog quer durch das verstaubte Dachatelier und hinterließ einen skurrilen Fleck an der Wand. Ein kurzer Schrei, dann wälzten sie sich lachend am Boden. Nackte Beine umschlangen seine Hüften unter dem bunt getupften Malerkittel. Barbusig an seine Nase gedrückt jauchzte sie: „Na endlich! Alle Gliedmaßen waren mir schon eingeschlafen und mir ist grausig kalt.“ Lange umarmte der Maler sein Modell, rieb und rubbelte ihre Haut mit seinen Händen warm. Dann nahm er den Kopf vom weichen Fleisch, küsste flüchtig den blumig riechenden Brustansatz. „Désolé, ma chérie, es hat wirklich lange gedauert bis ich zufrieden war. Doch nun lass uns sehen ob es sich auch gelohnt hat.“ Er erhob sich und half ihr auf. Seine Hände zitterten, während er eine wollene Decke um ihre Schultern legte. „Warte einen Moment, dreh dich noch nicht um.“
Ein letztes Mal wollte er allein den Anblick seines Werkes auskosten, in das er mehr Zeit investiert hatte, als in jedes zuvor. Auch mehr Kraft, spürte er. Ihm schwindelte. Ob es ihm gelungen war? Ob er diesmal die Leinwand optimal grundiert hatte, um die Farben genau mit der gewünschten Leuchtkraft erstrahlen zu lassen? Ob die Komposition jene präzise Ausgewogenheit des goldenen Schnitts besaß, diese schwebende Balance zwischen Spannung und Harmonie, die Blicke zu fesseln versteht? Ob die feinschichtig lasierten Konturen jene vibrierenden und dennoch klaren Linien und Winkel aufwiesen, die ihm so lange schon vor seinem inneren Auge vorgeschwebt hatten? Sein Herz pochte laut. Noch bevor er den Blick hob, mahnte er sich zu Sachlichkeit und kritischer Distanz. Dann betrachtete er die Leinwand. Sein Kiefer senkte sich abrupt, die Augenbrauen wölbten sich in hohem Bogen. Er war tief beeindruckt. Hier war es: das vollkommene Kunstwerk! Die erhoffte Glanzleistung, die seine Hände ganz nach der Sehnsucht seiner Seele geschaffen hatten! Heiß wie Magma pulsierte das Blut in seinen Adern.
„Kann ich mich endlich umdrehen?“ Maries Stimme erklang wie aus weiter Ferne und seine rau vor Glück. „Cherie, komm an meine Seite. Sieh dir das Bild an, das dich berühmt und mich reich machen wird.“ Maries Lächeln erhellte die Dachkammer. Sie strich eine brünette Haarlocke hinter das rechte Ohr, trat neben ihn und heftete ihren Blick auf die Staffelei. Gebannt beobachtete er ihre Reaktion, sah, wie ihr Mund ein sprachloses O formte, spürte ihre Nägel in seinen Handballen, glaubte Überraschung in der aufsteigenden Blässe ihrer Wangen zu verstehen; doch er sah sich getrogen. Maries Augen, verengt zu Schlitzen, schleuderten Pfeile, das liebliche Antlitz glich einer Masse entgleister Gesichtszüge. „Das soll ich sein? Für dieses Ungeheuer habe ich tagelang bei Eiseskälte Modell gestanden? Wie kannst du es wagen!“ wütete sie. „Du willst ein Maler sein? Ein Kasten mein Kopf, ein Trapez meine Nase, meine herrlichen Brüste nichts als spitze Dreiecke und meine schwungvollen Lippen ein Knäuel wilder Linien! Du bist kein Maler, du bist eine Bestie, ein Monstren darstellender Unhold! Niedrige Instinkte hausen in deinem Kopf. Du bist verwirrt, ein Irrer! “ Er traute seinen Ohren nicht, stand da wie gelähmt. Hilflos und unglücklich. Ausgelöscht war der brodelnde Vulkan in seinem Innern, Gletscherblut mäanderte durch seine Adern. Wieso nur erkannte sich seine Geliebte auf der Leinwand nicht? Warum empfand sie sich als Gräuel? Er fand keine Antwort und stolperte, weil Marie jetzt mit Fäusten gegen seinen Rücken hämmerte. Er wehrte ihre Schläge nicht ab, drehte sich nur langsam zu ihr um. Die Wolldecke war von ihren Schultern gefallen. Wogende Brüste tanzten einen wilden Reigen vor seinen Augen. Ein unkontrollierter Fausthieb traf seine Unterlippe. Etwas Feuchtes sprudelte heraus und rann über sein Kinn. Egal, sollte sie ihn nur prügeln: Heute hatte er die Vollendung erreicht.
Endlich erschlafften Maries Arme und ihr Körper sackte wimmernd zu Boden. Traurig fixierte er eine Zeit lang ihren zuckenden Scheitel; dann durchfuhr es ihn schaudernd: Diese Vollkommenheit des Kontrastes zwischen der hellen Zickzacklinie ihrer Kopfhaut gegenüber der Haarfarbe! Erneut durchströmte es brodelnd seine Adern, sein Blick glitt durch das mittlerweile von Dämmerlicht durchzogene Zimmer und blieb an der Staffelei haften, auf der sein Meisterwerk stand. Da war es. Die gleiche Vibration ihres Scheitels, gerade so, wie er ihn dargestellt hatte. Hin und her zwischen der am Boden kauernden Marie und der auf dem Bild, wanderten seine Augen, mehr und mehr Beweise für Gemeinsamkeiten findend. Die Perfektion war bestechend.
Doch was war das? Eine leichte Abweichung der Rundung ihrer Schulter brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Erneut kontrollierte er die Linie, maß mit langgestrecktem Arm, den Daumen in die Höhe gerichtet, Original und Abbild nach. Keine Frage: das Bild war präzise, die Unvollkommenheit lag am Modell! Schnell, jetzt musste er schnell handeln, es blieb wenig Zeit. Bald würden seine Malerkollegen eintreffen, denen er für den heutigen Abend versprochen hatte sein Werk vorzuführen. Er sah sich um, erblickte das Beil, das zum spalten der Holzscheite am Ofen stand. Marie lag immer noch wimmernd am Boden. Er würde sich Mühe geben. Schließlich waren nur wenige Veränderungen vorzunehmen. Und Marie würde sich endlich wiedererkennen. Er hob das Beil über den Kopf und begann.
 
G

Gelöschtes Mitglied 17359

Gast
Hallo Pattip!

Toll, wie du die fanatische Leidenschaft des Malers beschreibst, ebenso die Enttäuschung des Modells!
Aber war dieses grausige Ende wirklich nötig?

Gruß, Hyazinthe
 
S

steky

Gast
Hallo, Pattip!

Mich würde mal interessieren: Was willst Du mit dieser Geschichte denn sagen?


LG
Steky
 

Pattip

Mitglied
Hallo Hyazinthe und steky,

da ihr eine ähnlich formulierte Frage gestellt habt, Hyazinthe, warum das Ende so grausig sein musste, und steky, was ich überhaupt mit der Geschichte sagen will (Frage, die mich einigermaßen überrascht hat), möchte ich beide in einem einzigen Kommentar beantworten.

@Hyazinthe:
Freut mich, dass Du die Leidenschaft gespürt hast. Das Ende hat Mühe gekostet geschrieben zu werden und rein gefühlsmäßig distanziere ich mich vom "eiskalten Händchen" des Malers...Ich male selbst, und als mir mal technisch nicht gelingen wollte das wiederzugeben, was ich vor mir SAH, kam mir die lustige Idee das Original "anzupassen"...beim Original handelte es sich allerdings nicht um ein lebendes Objekt...:D

@ Steky:
Was ich u.a. sagen wollte, war:
1. Schönheit/Ästhetik liegt im Auge des Betrachters...(bezogen auf Surrealismus/ Kubismus)
2. Genie und Wahnsinn

Wer einen Witz (in diesem Fall eine Geschichte) erklären muss, hat die Pointe bereits versaut! So sorry. :p


Besten Dank für Eure Kommentare und liebe Grüße

Patricia
 



 
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