Der Mann aus Lehm

Gertules

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Der Mann aus Lehm

Die Hölle, das sind wir selbst. – T.S. Eliot
Da war er wieder. Der Mann aus Lehm.

Saß in seinem steinernen Stuhl wie festgemauert und rührte sich nicht. Nur eine leichte Bewegung der eingefallenen Brust, eine gelegentliche Neigung oder Drehung des Kopfes verrieten, dass überhaupt Leben in ihm war. „In ihm ist noch Leh´m“ dachte K. und schnaubte abfällig. Der Mann aus Lehm verriet mit keiner Regung, dass er es gehört hatte.

Er wirkte gleichzeitig ausgebeult und ausgemergelt, wie eine Wasserflasche, die zu oft wieder aufgefüllt und zuletzt nur noch geleert worden war. Seine Augen, die klein und leicht zugekniffen in seinem Gesicht saßen, blickten meist geradeaus, zuckten nur selten einmal kurz im Raum umher.

Der Raum. Ihn „Zimmer“ zu nennen verbot sich K., denn er war völlig leer. Heruntergekommen dazu, nicht mehr als vier Wände, ratlos um ihn und den Mann versammelt. Sie waren feucht und bedrohlich baufällig, mit abgefallenem Putz und langen Rissen im entblößten Mauerwerk, doch das schien den Mann nicht zu stören. Er nahm es wohl nicht einmal wahr, hielt nur den Blick auf die Wand direkt vor ihm gerichtet.

K. hatte sich schon oft gefragt, was er dort sehen mochte. Er erhob sich, trat näher an den Mann heran und verspürte dabei eine seltsame Scheu, die er wohl nie ganz würde abschütteln können, obwohl der Mann aus Lehm ihm niemals etwas getan hatte. Da war er sich eigentlich ganz sicher. Etwa einen halben Meter zur Rechten des Steinsessels setzte er sich im Schneidersitz auf den Boden, den Blick in die selbe Richtung gewandt wie der Mann aus Lehm. So sahen sie beide eine Weile stumm vor sich hin. K. bildete sich gerne ein, dass der Mann aus Lehm sich seiner Anwesenheit bewusst war und sie, da er sie tolerierte, eventuell guthieß, sogar schätzte. Dadurch, dass sie die gleiche Sicht teilten, hatten sie etwas gemeinsam, und das war genug.

Mit geschlossenen Augen, ganz in diesem warmen Gefühl versunken, ließ K. einige Zeit verstreichen. Bald muss es schon hell werden, dachte er schließlich, und stellte überrascht fest, dass ihm vor dem Morgen graute. Er hatte das Gefühl, dass der Tagesanbruch dem Mann aus Lehm nichts Gutes verheißen konnte. Doch tatsächlich schien es um sie bereits ganz langsam, fast unmerklich heller geworden zu sein. Tastete sich da nicht schon der erste Sonnenstrahl durch die einzige, rechteckige Öffnung in der Wand, die, längst vernagelt inzwischen, einst ein Ausweg gewesen sein mochte? Langsam, unendlich langsam kroch er über den Boden.

K. ließ ihn nicht aus den Augen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er den Mann aus Lehm erreichen würde, der unbeirrt mitten im Zimmer saß. Wenn er von der Sonne getroffen wird, wird er austrocknen und verderben, fuhr es K. plötzlich durch den Kopf. Sollte, musste er ihn nicht warnen? Aber ein Mann aus Lehm musste doch wissen, was es bedeutete, ins Licht zu gehen. Es war doch genug Zeit, selbst jetzt noch, um dem Verhängnis auszuweichen. Ein Leichtes sogar, er musste nur aufstehen, sich nur bewegen. Doch er tat es nicht, und die Zeit verstrich.

Immer mehr der weißglühenden Finger tasteten sich durch den Raum und auf den steinernen Stuhl zu. K. zitterte leicht, er begann zu schwitzen. Der Wunsch, den Mann aus Lehm aufmerksam zu machen, ihn wachzurütteln, ihn wenn nötig aus dem Stuhl zu zerren, wurde allmählich unerträglich. Aber er wagte es nicht, auf ihn zuzugehen; festgemauert saßen sie beide da, nur einen halben Meter entfernt, unüberbrückbar, viel zu weit.

Der Mann aus Lehm musste jetzt bald, jetzt, jetzt aber wirklich aufstehen, die ersten Lichtkrallen schlugen sich schon in seine Schultern, trockneten, dörrten und versengten. Falls sie ihm Schmerzen bereiteten, zeigte er es nicht. Er saß weiterhin einfach nur da, saß und sah ins Nichts. Bald war er fast vollständig in Sonnenlicht eingeschlossen, seine Lehmhaut wurde stetig heller, spannte sich knarzend, bröselte und riss schon an einigen Stellen.

Nun ist es ohnehin zu spät, dachte K., der mittlerweile an die Wand zurückgewichen war. Jeder Versuch, den Mann aus Lehm zu bewegen, würde ihm wahrscheinlich noch mehr schaden als die Glut, die über seinen Körper wanderte. Wahrscheinlich würde er es auch gar nicht wollen, er hatte schließlich keinen Versuch unternommen, seinem Schicksal aus dem Weg zu gehen. So war es ihm denn also recht, oder was wohl wahrscheinlicher war, es war ihm gleichgültig.

Aber just in dem Moment, in dem er diesen Gedanken zu Ende gebrachte hatte, drehte der Mann aus Lehm langsam, sehr langsam den Kopf in seine Richtung und sah ihn schließlich direkt an. Sah ihn unverwandt an, wie er dort in seinem Stuhl saß, eher thronte, ganz von Licht umhüllt, sah ihn an wie ein kranker König, lautlos lichterloh brennend auf seinem einsamen Thron. Und in der Sekunde, als K. den Blick in seinen Augen sah, stieß er sich mit einem gequälten Schrei vom Boden ab und hechtete zu ihm hinüber. Er packte ihn bei den Schultern und wollte ihn mit einem verzweifelten Ruck von seinem steinernen Sessel reißen, weg von der Sonne, hin zu den Schatten, in die Dunkelheit, in Sicherheit.

Doch als seine Hände die Haut des Mannes aus Lehm berührten, zerbrach dessen Körper wie ein durchgekohltes Stück Holz, das, nun schon erkaltend, zuvor lange in der Glut gelegen hatte. Lehmbrocken polterten vom Steinsitz, rollten über den Boden und durch den Raum. In der darauffolgenden Stille hob K. langsam die Hände und öffnete sie. Feiner Staub rieselte daraus hervor, tanzte herum in den Sonnenstrahlen, die in den Raum fluteten, und legte sich endlich behutsam auf sein Gesicht.

Einen Moment alles regungslos.

Dann sackte K. über dem Sitz aus Stein zusammen und begann zu wimmern. Immer mehr Tränen strömten ihm über die Wangen und verschmierten den Staub, der einst der Mann aus Lehm gewesen war.

So verharrte er, während die Sonne wanderte.

Sie hatte den Raum schon eine Weile verlassen, als der inzwischen leergeweinte K. sich mit taubem Gesicht vom Stuhl erhob, in eine Ecke schlurfte und sich auf den Boden niedersinken ließ. Bleierne Erschöpfung ergriff von ihm Besitz.

Ein nächstes Mal, war sein letzter Gedanke, als er die rotgeweinten, müden Augen schloss, ein nächstes Mal wird es anders sein. Ein nächstes Mal will ich ihn retten. Dann sank er in Schlaf, der, anfangs unruhig, endlich aber tief und traumlos andauerte.

K. erwachte einige Stunden später. Um ihn herum war es stockfinster, und zunächst wusste er nicht, wo er da lag, hing noch halb in einem schlimmen Traum, den er gehabt zu haben glaubte. Doch allmählich durchdrangen seine Augen die Dunkelheit, und bald erkannte er, wo er sich befand. Er blickte zur Mitte des Zimmers. Im steinernen Stuhl saß eine dunkle, fast regungslose Silhouette.

Da war er wieder. Der Mann aus Lehm.
 
G

Gelöschtes Mitglied 8846

Gast
Hallo Gertules, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von Franka

Redakteur in diesem Forum
 
G

Gelöschtes Mitglied 17359

Gast
Hallo Gertules!

Eine merkwürdige, geheimnisvolle Geschichte, die auf mich klaustrophobisch und albtraumhaft wirkt. Steht hier ein Mensch seinem alter ego gegenüber, das er zu retten versucht, jeden Tag aufs Neue? Oder begegnet dem Protagonisten in dem Gefängnis, an das der Raum mich erinnert, ein anderer Mensch, der aber kaum noch menschliche Eigenschaften besitzt: der Mann aus Lehm?

Du schreibst in einer Bildsprache, die ebenso anschaulich wie rätselhaft ist. Dein Stil ist anspruchsvoll, dabei gut lesbar.

Mir hat deine Geschichte gefallen, obwohl ich eingestehen muss, dass ich sie nicht ganz verstehe.

Gruß, Hyazinthe
 

Homosapiens

Mitglied
Hallo Gertules, Dein Text fasziniert mich, weil er auf magische Weise versteht, so präzise und zugleich sachlich zu schildern, daß ich als Leser beginne, an meiner Realität zu zweifeln. Die Begebenheit wirkt überzeugend ohne besonderes Pathos und nimmt mich mit in eine symbolträchtige Welt, die ihre Berechtigung ebenso hat wie der Traum. Zeit und Logik werden gegenstandslos, allein das Erleben zählt. Erinnert mich von der Idee her fast an den Hamburger Nachkriegsdichter Hans Erich Nossack. Überzeugend, toller Eindruck! LG Homosapiens
 



 
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