Der Mann ohne Gesicht

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brain

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Der Mann ohne Gesicht (überarbeitet)

Dies ist kein Geständnis, sondern eine Schilderung dessen, was geschehen ist.
Ich lasse nichts weg, ich spekuliere nicht über den Sinn des Ganzen oder warum es gerade mir passiert ist, ich beantworte keine aufkommenden Fragen und liefere keine logischen Erklärungen.

Punkt 1:
Ich habe meine Frau Ursula und meinen Sohn Frederick NICHT ermordet!

Punkt 2:
Ich weiß, WER es getan hat!

Und wenn Sie jetzt denken, ein objektives Herunterrasseln simpler Fakten vor sich zu haben, das ganze Ding einfach von oben bis unten durchlesen zu können und dann im Bilde zu sein, wie bei einer Fernsehzeitung, dann irren Sie sich gewaltig. Die leichte Kost überlasse ich anderen, dafür geht in meinem Kopf zu viel vor sich.
Ich glaube und hoffe, dass es einen Moment der Entscheidung im Leben eines jeden von uns gibt, eine Situation, in der Weichen gestellt werden für den späteren Lebensweg. Diese Situation empfinde ich als Grenze, als Barriere, die nicht von Menschenhand gezogen wurde. Sie steckt ein gigantisches, unentdecktes Gebiet ab, das uns von den Dingen trennt, die in den verborgenen Winkeln der Welt hausen, in den Schatten der Schöpfung und in den tiefsten Abgründen unserer unsterblichen Seele. Und wann immer diese Grenze überschritten wird, beginnt der Abgrund in uns zurückzublicken und die Dinge aus den Winkeln kriechen hervor und nehmen unseren Platz ein.
Daran habe ich immer geglaubt und tue es auch jetzt noch, während ich auf die Gaskammer warte und alles, was mir noch zu tun bleibt, das Erzählen dieser Geschichte ist.
Also erwarten Sie bloß nicht von mir, dass ich mich beeile. Ich sitze in der TODESZELLE, alles klar?
Man zählt in der Nacht eine Milliarde Schäfchen, starrt die Decke an, betet und wartet auf den Tod.
Man putzt die Zellentoilette, frühstückt, erzählt schlüpfrige Witze (das ist das, was man draußen „Galgenhumor“ nennt) und wartet auf den Tod.
Man klebt Briefmarken auf Werbebriefe, tauscht Zigaretten gegen Gras, hofft auf Besucher, die niemals kommen, und wartet auf den Tod, und so weiter und so weiter.
Sie ahnen sicher, wo das hinführt.
Man wartet auf den Tod. Und das verändert einen auf eine Art und Weise, die man nicht in Worte fassen kann, egal, wie viele Buchstaben man aneinander reiht.
ICH WARTE AUF MEINEN TOD!!!
Und trotzdem sind diese Zeilen kein Drama aus erster Hand, kein Enthüllungs-Journalismus, keine Trauerrede und auch nicht die berühmten letzten Worte eines Verfluchten, sondern schlicht und einfach das, was sie sind: die Zeilen einer Geschichte. Meiner Geschichte.
Der Teufel steckt nun mal im Detail, sagt man nicht so?
Das nur zur Einleitung. Der Hauptteil dieser Geschichte ist der Grund, warum ich nicht schlafen kann und der Wachsmalstift, mit dem ich diese Worte niederschreibe, sehr stumpf und sehr klein ist; zu stumpf und zu klein, als dass ich ihn mir durch das Auge in mein Gehirn hätte stoßen können.
Hätte man mir für die Verschriftlichung dieser Geschichte einen handelsüblichen Kugelschreiber gegeben, würden diese Seiten leer sein, die Parzelle neben meiner Frau und meinem Sohn besetzt und die Stimme der Bestie, die in mein Haus kam und meine Familie schlachtete, wäre weit weg und hätte nichts mit mir zu tun.
Doch gerade kommt der Wärter die Tür herein und sagt mir, dass Hofgang angesagt ist. Ich muss aufhören zu schreiben, mache später weiter.

Ich spürte die ersten Zeichen seiner Ankunft im Herbst des Jahres 1987.
Zu Beginn war es nur ein mulmiges Gefühl, das mich beim Betreten unseres Hauses überkam.
Dann wurde aus dem Gefühl ein Frösteln trotz verschlossener Türen und Fenster, doch schon bald war ich davon überzeugt, dass sich etwas Entscheidendes verändert hatte, etwas in der Luft, das man wie einen zarten Geruch nicht richtig zu fassen bekam und das umso schneller schwand, je konzentrierter man versuchte es zu lokalisieren.
Die Gewissheit, dass sich irgendetwas unter der Kellertreppe eingenistet hatte und nur darauf wartete, dass ich dumm genug war, alleine in den Keller zu gehen, überkam mich jedes Mal, wenn ich durch den Flur ging. Mir wurde regelrecht schlecht, wenn ich auch nur daran dachte, Einmachgläser aus der Speisekammer holen zu müssen oder die schmutzige Wäsche in die Maschine zu packen.
Deshalb schickte ich meinen Sohn hinunter.
Damals machte ich meine Frau für meine Angst verantwortlich, schließlich schleppte sie dieses ganze Halloween-Zeug ins Haus. Schon Wochen, bevor das für den Herbst typische rost- und urinfarbene Laub die Einfahrten und Gehwege versperrte, standen überall im Haus diese bescheuerten amerikanischen Kürbisse aus Porzellan, Fledermäuse aus Window-Colour klebten an den Bad-Fliesen und an sämtlichen Fenstern, Spinnweben aus Kunststoff hingen von den Lampen und auf den Fensterbrettern flackerten schwarze Kerzen.
Und dann noch diese „Süßes-oder-Saures“-Kacke, für die sie Freddy zurechtputzte, bis er aussah wie eine Mischung aus Frodo, Ozzy Osbourne und Klaus-Maria Brandauer.
Und doch hatte ich in den Jahren zuvor, wenn Ursula das Haus und unseren Sohn für dieses fremdländische Kommerzfest herrichtete, nie dieses zehrende Gefühl gehabt, dieses Gefühl, das mir mit verstaubter Stimme zuraunte, dass ich besser die Nachttischlampe brennen lassen sollte, denn sonst würde etwas aus den Schatten treten, mich packen und mitnehmen in die Finsternis.
Ich will nicht sagen, dass ich ein ängstlicher Mensch bin, und genauso wenig kann ich von mir behaupten, besonders mutig zu sein, aber ich denke, dass es dazwischen noch eine Menge Grauzonen gibt, in denen man heimisch werden kann.
Mit vierundfünfzig Jahren weiß man natürlich, dass es das Monster unter dem Bett gar nicht gibt, dass die Zweige, die ans Fenster klopfen, nicht die Finger einer Teufelsweide sind und die leeren Flächen im Weizenfeld nicht von landenden Ufos, sondern von stürmischen Windböen stammen.
Aber wenn man nachts in seinem Bett liegt und nicht einschlafen kann, weil man neben dem Atmen seiner Frau und dem Knarren der Holzbohlen ein Geräusch hört, das wie ein leises, hämisches Kichern klingt, dann vergisst man, dass man all diese Dinge weiß und wird wieder zu einem kleinen Jungen, der verängstigt unter seine Bettdecke kriecht.
Und ich hörte dieses Kichern, dieses heisere, glucksende, boshafte Lachen, das eigentlich nie mehr als ein Flüstern war, ein nicht näher definierbares Nebengeräusch, das in der Stille der Nacht kaum Raum einnahm, und doch immer wieder den Weg in meine Ohren fand.
Meiner Frau erzählte ich natürlich nichts davon, denn ganz gleich, wie lieb und verständnisvoll Ursula mit meiner unrationalen und für mich völlig untypischen Angst umgegangen wäre, für mich hätte es sich immer wie eine Erniedrigung angefühlt, also schwieg ich.
Das Kichern schwieg nicht, in keiner Nacht des Herbstes, und mit dem Einzug des Winters, der sich mit seiner schneidenden, windigen Kälte und den beginnenden Schneeschauern über das Land legte und es heimsuchte wie ein ungebetener Gast, den man jahraus jahrein bewirten musste, ob man wollte oder nicht, wurde das Kichern immer mutiger.
Es wurde nicht lauter, doch es kam näher.
Der nächtliche Besucher kam von nun an immer pünktlich um drei Uhr morgens an mein Bett und ließ mich wissen, dass er da war, und doch blieb das Geräusch so vage und unbestimmbar, dass ich es nicht hätte auf einen bestimmten Punkt im Zimmer festnageln können, denn es wanderte mal hierhin, mal dorthin, war über mir, unter dem Bett, direkt neben mir, und schlich wieder durch den Raum. Zu keiner Zeit hätte ich mit Gewissheit sagen, geschweige denn beweisen können, dass ich mir das Kichern nicht einbildete, und so beließ ich es dabei, das dämonische Grinsen in meinem Kopf, also das visuelle, sich immer wieder verändernde Gegenstück zu dem kaum hörbaren und doch grässlich deutlichen Geräusch in der Dunkelheit des Zimmers, als Überarbeitung abzutun, obwohl ich es doch eigentlich besser wusste.
Tagsüber wusste ich wieder um meine erwachsene Reife, vertraute meinem gesunden Menschenverstand, nannte mich einen Idioten, tadelte mich selbst für meine kindische Furcht und zwang meine Füße auf der Erde zu bleiben, wo sie hingehörten.
Das Kichern wurde zu einem bösen Traum.
Doch ein Traum kann wiederkommen, besonders dann, wenn er einem das Fürchten lehrt, denn schon die Furcht vor diesem Traum bringt ihn zurück, behält ihn im Gedächtnis und beschwört ihn immer wieder aufs Neue.
Als Kind hatte ich schon einmal einen solchen Traum.
Ich lief durch einen Wald, in dem anstatt der Bäume meterhohe Finger aus dem Erdreich ragten. Diese Finger bogen sich mir entgegen, versuchten mich zu zerquetschen, wie einen Floh, doch ich schaffte es jedes Mal ganz knapp zwischen ihnen hindurch zu schlüpfen, bevor sich die Fingerspitzen in den steinigen Boden gruben.
Der Traum kehrte so oft wieder, dass ich deshalb zu einem Psychiater gehen musste. Dieser erzählte meinen Eltern irgendetwas von „Penisneid“ und „fehlgeleiteter Mutterliebe“, also kaufte mein Vater mir einen Stapel „Wichsvorlagen“, wie er sie nannte, und er und meine Mutter benahmen sich mir gegenüber noch distanzierter, als ohnehin schon. Der Traum blieb der Gleiche, aber meinen Eltern sagte ich, dass alles in Ordnung sei. Erst ein paar Jahre später verschwand er. Meinen Vater hörte ich mal sagen: „Jetzt hat er sich wohl einen von der Palme geschüttelt“, und damit war, wie er anmerkte „der Käs gegessen“. Und Jahrzehnte lang blieb dieser Traum in mir vergraben, wartete auf den richtigen Augenblick, um wieder von den Toten aufzuerstehen.
Und eines Tages, ich war bereits Mitte Dreißig, sah ich etwas im Fernsehen, eine Werbung für Handcreme oder etwas in der Art, und mit einem Mal war mir, als wäre meine Umgebung, die Couch, die Blümchentapete, die Minibar, das ganze Haus und sogar meine Familie, nur eine geschickte Täuschung, einzig und allein zu dem Zweck geschaffen um mich abzulenken, in trügerischer Sicherheit zu wiegen.
Denn in Wahrheit befand ich mich natürlich immer noch in diesem Fingerwald, der im Wind wogte, wie ein Weizenfeld aus Fleisch.
In Wahrheit war mein Leben der Traum gewesen und ich war endlich erwacht, inmitten der riesigen, in den dunklen Himmel ragenden Finger.
Ah, der Wärter ruft die Schlafenszeit aus. Das Licht wird in zehn Minuten ausgehen. Genug Zeit, um mich unter die Decke zu verkriechen und mir erfolglos einzureden, dass ich doch ein erwachsener Mann bin, der in der Dunkelheit nichts fürchten muss, außer der Furcht selbst.

Ich sah den Mann, der nun durch den Fingerwald meiner Alpträume streicht, wie ein Raubtier, das erste Mal im Winter des Jahres 1994.
Freddy, unser Sohn, hatte eine hübsche Freundin gefunden, eine Kunststudentin aus Marburg. Hin und wieder schlief er noch bei uns, meistens wenn er und Elena, seine Freundin, sich gestritten hatten und „Distanz brauchten“, wie sie es nannten.
Dabei musste ich immer an meine Eltern denken, und an diesen Psychiater. Ich erinnere mich noch genau, als wäre es gestern gewesen, dass ich sagte, die Jugend von heute sei Therapeut und Patient in einem, selbstreflektiert und innerlich krank, wie ein pochender Zahn. Mir fiel damals gar nicht auf, dass ich den gleichen zynischen Tonfall angenommen hatte, mit dem mein Vater von der Palme gesprochen hatte, aber so ist das nun einmal. Man kann nicht verleugnen wer man ist oder wo man herkommt, und man kann sich nicht vor den Dingen verstecken, denen man sich um jeden Preis entziehen will und die man in die Schatten drückt und in die Abgründe wirft, denn sie sind ein Teil der eigenen Persönlichkeit und finden immer einen Weg nach Hause, egal, wie lange es dauern mag.
Und am Abend vor Heilignacht offenbarte sich mir das kichernde Grauen, das mich all die Jahre wie ein in der Ferne herumschwirrender Bienenschwarm verfolgt hatte, so dass ich es wie den bösen Traum meiner Kindheit verdrängt und in mir vergraben hatte.
In Gedanken schon bei Lebkuchen und Glühwein schnarchte ich mich langsam aber beharrlich in die REM-Phase, als ich einen Geruch wahrnahm, der mir nur allzu bekannt war und mich bis ins Mark erschütterte.
Er erinnerte mich an den Tod meines Vaters.
Damals ließ meine Mutter die Ärztin herein und was diese sagte, als sie das Zimmer betrat, in dem mein Vater langsam und keuchend atmete, werde ich niemals vergessen.
„Hier riecht es nach Tod“, sagte sie, mit der Gewissheit einer Frau, die unzählige solcher Zimmer betreten hatte. Als ich meiner Mutter und ihr folgte, konnte ich es ebenfalls riechen. Es war ein Geruch, wie man ihn in Pflegeheimen riechen kann und der entfernt an faulende Blumen und Urin erinnerte.
Vielleicht wissen Sie ja, was ich meine, wenn Sie jemals am Krankenbett eines geliebten Menschen ausgeharrt haben und wussten, dass dieser Mensch sterben wird. Nicht weil der Arzt es Ihnen gesagt hat oder weil Sie es hätten sehen können, sondern weil sie es riechen.
Einen solchen Geruch, nur viel intensiver und stechender, verströmte die lachende Kreatur, die neben meinem Bett stand, und im selben Augenblick, als sich sein Odem auf mich legte, wie eine zweite Haut, kam die Erinnerung zurück.
Es war wie mit dem Traum vom Fingerwald, der, durch eine zufällige Assoziation wieder zum Leben erweckt, erneut in mir gewütet hatte, als wäre er niemals fort gewesen.
Die Furcht packte mich fester denn je, als ich vergeblich versuchte unter die Decke zu kriechen und die aufkeimende Panik auf etwas Banales zu schieben, doch dazu gab der Mann ohne Gesicht mir dieses Mal keine Gelegenheit.
Damals war er nur ein Schatten unter vielen gewesen, die das Zimmer des Nachts bevölkerten, wie ein lichtscheuer Mob, doch jetzt gab er die Scharade auf und trat aus den Schatten hervor, so dass ich ihn im Mondlicht, das durch das Fenster hereinfiel, deutlich sehen konnte.
Neben dem Bett, keine Armlänge entfernt, stand ein buckliges, haariges Ding mit hängenden Affenarmen und schwärender, goldbraunglänzender Haut, die sich über seinen verkrüppelten Körper spannte. Ein fleischiges, eiterndes Wesen, das entfernt an einen Wurm erinnerte, schlängelte sich wie eine Stola um seinen Hals, schmiegte sich um seine Hüften und wickelte ihn ein, wie ein (Finger?) kriechendes Kostüm.
Die Stelle, an der sein Gesicht hätte sein sollen, war eine einzige Pockennarbe, aus der das mir mittlerweile so bekannte und verhasste Kichern troff, wie schwarzes Blut aus einer entzündeten Wunde.
Irgendwie schaffte ich es, mich von seinem Anblick loszureißen und endlich unter die Decke zu kriechen, mich in sie zu wickeln, als sei sie gemacht aus dem heiligen Schweißtuch des vor fast zweitausend Jahren gekreuzigten Zimmermanns und könnte ihn, den Dämon in meinem Schlafzimmer, abwehren, wie ein Kreuz Vampire vertreibt. Vielleicht war es auch so und ich bin nur aus diesem Grund noch am Leben, vielleicht verschonte er mich deshalb, ließ mich unbeachtet, während er meine Frau und meinen Sohn in Stücke riss.
Aber eigentlich glaube ich das nicht, denn der seelische Tod, den ich seitdem sterbe, ist ein langsamer und schmerzvoller Tod. Die Gaskammer wird mir Erlösung zu Teil werden lassen, und ich warte, ich warte begierig darauf, sie endlich betreten zu dürfen.
Die Erinnerung an diesen dreiundzwanzigsten Dezember, der mein Schicksal besiegelte, lässt mich nicht los.
Es fühlt sich fast so an, als wäre ich wieder in meinem Wald und einer der gigantischen Finger drückt mich zu Boden, schiebt mich in die Erde und durch sie hindurch, bis ich die Fegefeuer sehe und eine Ahnung von der Hölle in mir habe.
Am Deutlichsten erinnere ich mich an die Schreie meines Sohnes im Nebenzimmer, als der Gesichtslose ihn sich holte, an meinen Versuch, mir die Ohren zuzuhalten, und an die Bewegung unter der Decke, an den Wurm, der meinen nackten Schenkel hinauf kroch und sich kratzend und borstig meinem Gesicht näherte, bis ich nichts mehr riechen konnte, als den organischen Gestank von Verfall und Verwesung, von Eiter, geronnenem Blut und Jahrhunderte altem Schweiß.
Schreiend richtete ich mich auf und schlug um mich, schreiend rannte ich aus dem Haus auf die Straße und übergab mich in den frisch gefallenen Schnee, und schreiend brachten mich die Polizisten fort, die von den Nachbarn gerufen worden waren und mich mit gerümpfter Nase auf den Rücksitz ihres Wagens warfen, angeekelt und peinlichst darauf bedacht, meine bloße Haut nicht mit ihren Händen zu berühren, ohne sich dessen bewusst zu sein.
Sie sagen, ich hätte mir den Leib mit einer Drahtbürste zerkratzt, doch ich weiß es besser. Sie sagen, ich sei übergeschnappt und hätte meine Frau und meinen Sohn mit einem Fleischerbeil in Stücke gehackt, doch ich weiß es besser. Sie sagen, ich sei krank, ich gehöre weggesperrt, doch sie können weder eine Drahtbürste, noch ein Fleischerbeil finden, noch können sie die Spuren auf dem Flurläufer erklären, die sich wie Salzsäure durch den Stoff ins Parkett gefressen haben und stinken, wie ein seit Ewigkeiten ungeöffnetes Grab. Und weil sie eine Menge behaupten, aber nichts davon beweisen können, fragen sie mich, was passiert ist, obwohl sie mich für unzurechnungsfähig erklärt haben.
Ich antworte auf keine ihrer Fragen. Wie gesagt, ich liefere keine logischen Erklärungen, aber das heißt nicht, dass ich mir keine Gedanken mache.
Ich stelle mir vor, wie der Teufel auf eine alte, rostige PYRAMID-Schreibmaschine einhackt, seine Ideen aus dem Frühling zusammenträgt und eine Geschichte schreibt, die genau den selben Titel hat, wie die Geschichte, die Sie gerade lesen. Ich stelle mir vor, wie sich daraufhin einer seiner zahlreichen Untertanen auf den Weg macht, wie er die Stadtgrenze von Gießen passiert und mich sucht, um meine Familie schnell und mich sehr, sehr langsam zu vernichten, bis in mir nur noch eine letzte Frage überlebt: „Wer war ich und wer bin ich jetzt, nachdem ich in den Abgrund in mir geblickt, mich selbst gesehen und nicht wieder erkannt habe?“
So vertreibe ich mir hier die Zeit, denke an die Dämonen in meinem Kopf, an die Monster unter meinem Bett und an die konturlose, phantomhafte Fratze des Grauens, der ich gegenüberstand, und ... ja ... und warte auf den Tod.
 

Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ein rechtes Geisterschiff, was Du hier mit viel Atmosphäre in den Wanten getakelt hast. Nur leider schlecht getrimmt, so dass es bugunter treibt.

Solltest entweder Ballastwasser in den eigentlichen Plot pumpen oder das Drumherum lenzen. Zum Beispiel die Selbsterklärungsbracke zu Beginn; sie klebt zäh am Leser und nimmt der Geschichte die Fahrt. Endlos scheint die Saragossasee, erst kurz vor Ende frischt der Wind auf, so gerade noch rechtzeitig, um den Kahn hoch am Wind durch das Massaker zu manövrieren. Nur fürchte ich, bis dahin sind die meisten Leser an Ereignismangel krepiert.

Ist über die Planke und unter gegangen
 

brain

Mitglied
Servus Stielzchen!

Jo, da is ne Menge Gelaber, wurde ja angekündigt: jeder erzählt seine Geschichte auf seine Weise, in seinem eigenen Tempo, mit seinen eigenen Worten und Metaphern, und glauben Sie mir...
...werden Sie möglicherweise enttäuscht!

Also, klar, kann halt nicht jeden ansprechen, bin aber trotzdem (schizophrener Weise) Deiner Meinung, dass es sehr viel Text ist, also das mit dem Stafan Raab is nich nötig, oder das Persönlichkeitsskelett etc., aber bei jedem Lesen schmöker ich mich in solche Sätze, find sie immer noch nich nötig, aber atmosphärisch. Dilemma, gell?
Ich bin zu nahe dran, zu subjektiv, um gezielt DIESEN Textteil zu löschen und DIESEN drinne zu lassen, die Selektion ist zu viel für mich, dafür hat die Geburt zu lange gedauert (vielleicht zuuuuuuuuu lange, aber schmerzfrei und leidenschaftlich).

Vorschläge? Also so was wie "Raab", so Nebengeplänkel, gell? Weg mit! Aber wo hört die Erzähle auf? Wo beginnt das Nebengeplänkel? Hier sind Lesermeinungen gefragt, und ... NO FEAR ... kein Kommentar bleibt unbeantwortet:)

Liebe Grüße

Brain
 

Zeder

Administrator
Teammitglied
Hallo brain,

ich kann es eigentlich nicht besser beschreiben als Rumpelsstilzchen: Du nimmst die Fahrt weg, bevor sie aufgenommen wurde.

Als Beispiel der Anfang:

Dies ist kein Geständnis, sondern eine Schilderung dessen, was geschehen ist.
(Also bitte Fakten! Keine Vermutungen über Gedanken der Leser/Zuschauer)

[strike]Ich weiß, dass Sie mir nicht glauben werden. Würde mir jemand die Geschichte erzählen, die ich hier niederschreibe (und ihr dann auch noch einen so reißerischen Titel geben, der mehr nach einer Gruselgeschichte als nach einem Tatsachenbericht klingt), ich würde ihn nicht ernst nehmen oder für verrückt erklären.
Doch es ist die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die reine Wahrheit.
Ich lasse nichts weg (es sei denn ich vergesse oder verdränge etwas, was jedoch im Endeffekt keinen Einfluss auf den Verlauf der Geschichte hat), ich spekuliere nicht über den Sinn des Ganzen oder warum es gerade mir passiert ist, ich beantworte keine aufkommenden Fragen und liefere keine logischen Erklärungen. [/strike]

Punkt 1:
Ich habe meine Frau Ursula und meinen Sohn Frederick NICHT ermordet!

Punkt 2:
Ich weiß, WER es getan hat!

Und wenn du jetzt glaubst, dass die folgenden Absätze gelesen werden irrst du dich - sie werden überflogen, um zu dem Kern der Geschichte zu kommen, der den Leser interessiert.
Und wenn Sie jetzt denken, ein objektives Herunterrasseln simpler Fakten vor sich zu haben, das ganze Ding einfach von oben bis unten durchlesen zu können und dann im Bilde zu sein, wie bei einer Fernsehzeitung, dann irren Sie sich gewaltig. Die leichte Kost überlasse ich anderen, dafür geht in meinem Kopf zu viel vor sich.
Ich denke über Gut und Böse nach, über die bloßen Worte und deren wahre Bedeutung, über mich, über Dinge, die aus dem Ruder laufen, und den ganzen anderen Mist, der irgendwie eine Rolle spielt im Leben, und immer wieder denke ich an meterhohe, sich biegende und nach mir tastende Finger.
Doch vor allem denke ich an das Schicksal, und daran, wie sehr mir der Gedanke missfällt, meine Zukunft nicht selbst in der Hand zu haben.
Ich glaube und hoffe, dass es einen Moment der Entscheidung im Leben eines jeden von uns gibt, eine Situation, in der Weichen gestellt werden für den späteren Lebensweg. Diese Situation empfinde ich als Grenze, als Barriere, die nicht von Menschenhand gezogen wurde. Sie steckt ein gigantisches, unentdecktes Gebiet ab, das uns von den Dingen trennt, die in den verborgenen Winkeln der Welt hausen, in den Schatten der Schöpfung und in den tiefsten Abgründen unserer unsterblichen Seele. Und wann immer diese Grenze überschritten wird, beginnt der Abgrund in uns zurückzublicken und die Dinge aus den Winkeln kriechen hervor und nehmen unseren Platz ein.
Mein Vorschlag: Versetze dich versuchsweise mal in einen Leser und gehe von seinem Lesewillen aus.
Diesen Willen kannst du als Schreiber beeinflussen, keine Frage.

Die Frage bei deinem Text ist: Ab wann hast du ihn beeinflusst?

Grüße von Zeder, die deinen Schreibstil an sich gut findet
 



 
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