Der Mantel

Carol-Eliza

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Der Mantel

Herbert W. lässt seinen Mantel zugeknöpft, obwohl es sehr warm ist in der Buchhandlung.
Das Hemd, das er darunter trägt, hat ausgefranste Ärmel. Von den vielen Wäschen, oft mit kaltem Wasser und Seife, ist sein Muster verblasst und der Stoff ist mürbe geworden.
Aber sein Mantel – der ist nachtblau und aus Kaschmirwolle, leicht und schmiegsam, wie etwas, an das er sich lieber nicht mehr erinnern will.

Weil er so schnell liest, kommt niemand auf die Idee, dass er die Bücher nicht nur durchblättert, um sich vielleicht für einen Kauf zu entscheiden. Er liest sie richtig.
Die Stadt hat viele Buchhandlungen und so fällt es nicht auf, dass ein älterer Herr manchmal mehrere Stunden damit verbringt, offenbar in den Ausgaben zu schmökern.
Der Mantel verleiht ihm das Aussehen eines gut situierten Vorruheständlers und wären nicht die rissigen Hände und die abgetretenen Schuhe, würde auch bei näherer Bekanntschaft diese Illusion aufrechterhalten bleiben.
Immer wenn er früh das Heim verlassen hat, bei dem Euphemismus erschaudert er, steht vor ihm wie ein mehrköpfiger Drache die Zeit. Der immer wieder ein Kopf wächst, wenn er ihm mühselig ein paar Stunden abgeschlagen hat.
Bis zum Mittagessen in der Tafel bleiben ihm noch Stunden. Als er dort das erste Mal nach Essen anstand, hatte ihn der Essen ausgebende Mitarbeiter argwöhnisch gemustert. Es war Winter und er trug den Mantel.
Jetzt kennt man ihn – und den Mantel und man nimmt so wenig Notiz von ihm, wie er von den anderen, die hastig ihr Essen in sich hineinschaufeln.
Die Stunden bei den Büchern sind ihm die liebsten. Durch die geschriebenen Wörter schlüpft er wie Alice im Wunderland in eine Welt, die für ihn realer ist, als seine gelebte.
Oft ist er der letzte Kunde und die Verkäuferin schickt ihm noch ein müdes Lächeln hinterher, bevor sie die Ladentür verschließt.

Aber er kennt ja auch noch Lilly.
Bei Lilly, der Inhaberin einer kleinen Wäscherei, lässt er im Frühjahr den Mantel reinigen. Hier kann er ihn auch über den Sommer deponieren. Dafür erledigt er für sie Botengänge und fegt die Straße.
Fast hätte er vor einigen Jahren bei ihr eine Arbeitsstelle erhalten. Es war Winter und sie suchte einen Fahrer für die Wäscherei. Er hatte sich vorgestellt und ihr gutmütiges Gesicht war freundlich bis zu der Frage nach seiner Adresse.
Danach hatte ihr Blick etwas Lauerndes und sie ließ ihn im Laden nicht aus den Augen.
Niemand kann wahrscheinlich aus seiner Haut, die Angst dann nicht mehr hineinzupassen, ist zu groß.
Aber immerhin konnte er seitdem seinen Mantel kostenlos reinigen lassen. Und im Sommer ist sie die Hüterin seines Mantels und ein bisschen ist sie auch seine Familie.
Er hat gestern und heute den Weltensammler gelesen und ein bisschen ist er ja, wie Trojanows Oberst, auch einer. Die Verkäuferin hatte ihn fast eingeschlossen, vielleicht war er auch eingenickt. Auf jeden Fall würde er morgen die Geschichte zu Ende lesen.

Der Abend ist mild für einen Märztag und er geht durch den Park, der in den Knospen der Bäume schon den Frühling bereithält.
In der Unterkunft ist in den wenigsten Nächten ein ungestörter Schlaf möglich. Die Mischung aus Heimatlosigkeit, Alkohol und Depression verhilft den meisten Mitschläfern nur zu einem unruhigen Ausblenden des Tages
Heute will und kann er dort nicht hin.
Die Füße sind geschwollen vom Tag. Er zieht die Schuhe aus, legt sie unter den Kopf und deckt sich erst mit dem Mantel und dann gegen die Feuchtigkeit mit einer großen Zeitung zu.
Die hat er aus dem Papierkorb gefischt.
Wie so oft vor dem Einschlafen, ziehen die Bilder seiner Vergangenheit an ihm vorüber. Er weiß, wenn er sie jetzt gewähren lässt, suchen sie nicht seinen Schlaf auf.

Den Mantel hatte er mit seiner Frau gekauft, bei einem guten Herrenausstatter, der existiert gar nicht mehr. Sie hatten diesmal nicht auf Sonderangebote geachtet. Seine kleine Tischlerei hatte Aufträge genug und sie hatte gemeint, er müsse das Geschäft repräsentieren.
Er trug ihn dann auch im Gericht, als die Insolvenz besiegelt wurde.
Zum Scheidungstermin, dem Schlusspunkt seiner Ehe, die dem Niedergang des Geschäftes nicht standgehalten hatte, trug er ihn nicht. Da war es Sommer.
An die folgenden Jahreszeiten kann er sich nicht richtig erinnern, irgendwie hatte er da über alles die Kontrolle verloren.

Er deckt noch eine Lage Zeitung über sich und fällt sofort in den Schlaf.

Seiner Müdigkeit war es zuzuschreiben, dass er erst erwachte, als ihn der erste Schlag von der Bank schleuderte.
Es war stockfinster und er erkannte zunächst nur drei glühende Punkte, die zu Zigaretten gehörten. Bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, traf ihn der nächste Schlag.
Von da ab war er nur noch Schmerz.
Etwas Warmes lief ihm in die Augen und an den Beinen herab und als sich ein Alkohol ausdünstendes Gesicht über ihn hängte, verlor er das Bewusstsein.
Das Letzte, was er wahrnahm, war Brandgeruch.

Eine junge Frau fand ihn, als sie am frühen Morgen durch den Park zur Arbeit ging.
Der noch glimmende Mantel ließ sie nachsehen, sonst hätte man ihn im Halbdunkel des grauen Morgens erst viel später gefunden.
Im Krankenhaus stellt man eine schwere Gehirnerschütterung, Prellungen, Brüche und einen Milzriss fest, Verletzungen, die eindeutig von Tritten mit schweren Stiefeln stammten.
Nach einer Woche hatte sich sein Zustand soweit stabilisiert, dass er von der Intensivstation auf die Männerstation verlegt werden sollte.

Medizinisch unverständlich war allerdings, dass er am Abend tot im Bett aufgefunden wurde.
 



 
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