Der Moment des Fotographen

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Leachim G

Mitglied
Der Moment des Fotographen

Lautlos öffnet sich die Wohnungstür und ein alter Mann betritt den Vorraum. Sein weniges graues Haar trägt er mit Pomade an den Seiten seines Kopfes festgeklatscht. Obwohl man ihm sein Alter ansieht (es möglicherweise sogar höher schätzen würde) wirkt er rüstig und gepflegt. Einzig ein schwaches Zittern scheint seinen Körper schubweise in Bewegung zu bringen, auch seine langen Arme und feingliedrigen Hände, in denen er ein Paket hält, scheint es in seiner Gewalt zu haben. An einem ledernen Band, das der Mann um seine rechte Schulter trägt, hängt eine Kamera. Der Mann ist Fotograph.

Sachte schließt er die Tür hinter sich und begibt sich dann in Richtung Wohnzimmer und dort zum Sofa in der Mitte des Raumes. Seine Schuhe zieht sich der Fotograph nicht aus. Im Gegensatz zu ihm ist die Wohnung in keinem guten Zustand und das Wenige an Schmutz, das er Tag für Tag an den Sohlen seiner Schuhe mit nach Hause bringt, fällt hier kaum auf.
Beim Sofa angekommen, stellt er das Paket auf einen Tisch aus dunklem Holz, der, neben dem Sofa, als einziges Möbelstück in der Mitte des großen Wohnzimmers steht.
Wie auf scheinbar allem in der Wohnung des Fotographen liegt eine zarte Staubschicht auf beidem. Alleinstehend und ohne Haushaltshilfe ist ihm die Pflege seines Heimes in den letzten Jahren sichtbar über den Kopf gewachsen. Zwar liegt nichts sinnlos in den Räumen herum - er ist sehr ordentlich, unser Fotograph - doch ist der Verfall überall sichtbar, wird sichtbar gemacht durch das Licht, das zwischen den halb zugezogenen schweren Vorhängen in die Räume fällt und vom Staub in der Luft zu Lichtbahnen gemacht wird. Doch diese Düsternis und das Flirren des Staubes in der Luft beschäftigen ihn nicht.
Dankbar lässt sich der Fotograph auf das Sofa fallen und gleichzeitig entrinnt den Federn des Möbels und der Lunge des Fotographen ein leises Ächzen. Es war ein anstrengender Tag, anstrengend und nicht sehr ertragreich. Ist es tatsächlich so, fragt sich der Fotograph, dass mit den Jahren die lohnenden Motive weniger werden? Kann das sein? Nicht das erste Mal stellt er sich diese Frage, nein, schon mehrmals - und in den letzten Monaten immer häufiger - kam ihm dieser Gedanke. Und zu Recht erschreckt er ihn. Angenommen, es käme der Tag, an dem er seine Wohnung verließe und in eine Welt hinausträte, die ihm nichts mehr zu bieten hätte oder, noch erschreckender, der er trotz aller Anstrengungen nichts mehr entreißen könnte! Dieser Gedanke macht ihm Angst, und die Ungewissheit über die Antwort lässt ihm eine Gänsehaut sein knochiges Rückgrat hinauf sprießen.
Mit seiner Linken winkt er ab, gerade so, als wolle er diese Gedanken verscheuchen, wie lästige Insekten, die unangenehm nahe am Ohr summen und surren, verjagen.
So beugt er sich nach vorne und dreht das Paket, das er mitgebracht hat, derart, dass er die darauf angebrachten Aufkleber lesen kann. Das Paket ist aus rauem Karton, gelblich wie Nikotinfinger und wird von zwei dicken, kreuzförmig um das Paket gebunden Streifen braunen Paketbandes verschlossen. Der Fotograph stellt es leicht schräg und beginnt, mit einem seiner langen Fingernägel (oh doch, auch diese sind gepflegt) an einem der Klebestreifen herum zu nesteln.
Endlich trennt er ihn durch und widmet sich dem zweiten. Inzwischen hat sich ein warmes Lächeln auf seinem Gesicht ausgebreitet. Gut möglich, dass es nur deshalb so warm wirkt, weil sich das Licht nur schwach zwischen den Vorhängen und durch den staubigen Äther bis zu ihm durchkämpfen kann. Samtig umspielt es seine faltigen Wangen, die Krähenfüße neben seinen glitzernden Augen. Und doch ähnelt er in diesem Moment mehr einem Kind denn einem Greis.
Vorsichtig hebt er den Deckel hoch und setzt ihn sanft neben dem Paket auf dem Tisch ab. Nun faltet er noch dünnes Papier auf die Seite und hebt zwei Stücke Styropor aus dem Karton. Das Lächeln wird zu einem Grinsen, als er sie schließlich sieht: seine Kamera. Seine Favoritin. Die Kamera, die er immer noch an einer Lederschnur um seine Schulter hängen hat, ist nur eines seiner Ersatzgeräte. Selten nur und nie wirklich glücklich mit seiner Entscheidung, arbeitet er mit einer dieser (in seinen Augen) minderen Apparate. Warum nimmt er sie dann überhaupt in die Hand? Er weiß es selbst nicht, die Wahl und die Entscheidung liegt scheinbar nicht bei ihm und in den letzten Wochen gab es nicht einmal eine Alternative.
Die Favoritin musste er nämlich zur Reparatur einschicken, nachdem er sie hatte fallen lassen. Jener Moment war schrecklich für ihn gewesen. Nicht nur seine Lieblingskamera war möglicherweise zerstört, mehr noch war der Fotograph darüber erschrocken, dass seine Hände schuld an dem Missgeschick hatten. Ungläubig blickte er auf sie hinab. Sie zitterten. Gebt mir noch Zeit, flehte er sie an, es ist zu früh. Doch Hände hören einen nicht und so zitterten sie weiter.
Seit diesem Tag fällt dem Fotographen das Zittern häufiger auf, aber er verdrängt es aus seinen Gedanken. Seine Angst darüber darf ihn nicht lähmen und ihn bei seinem Geschäft behindern. Noch nicht.
Nach dem Missgeschick machte er sich mit der defekten Kamera auf den Weg in eines der Fachgeschäfte, die er über die Jahre als seinem Vertrauen halbwegs würdig kennengelernt hatte.
Der Verkäufer, ein junger, dicklicher Mann mit glänzenden Wurstfingern, hielt das Gehäuse mit den Dellen hoch, wendete es unter dem kalten Licht der Neonröhren hin und her und wollte wissen, ob unser Fotograph sich nicht vielleicht eine der neuen digitalen Spiegelreflexkameras ansehen möchte? Einige Modelle seien derzeit im Angebot und schon die kleinen, günstigeren Geräte wären qualitativ sehr ordentlich. Der Fotograph hatte nur ein Lächeln für den jungen Verkäufer übrig, sanft den Kopf geschüttelt und die Reparatur seiner Kamera verlangt.
Nach einem Schulterzucken (wie Sie meinen, bedeutete das) nahm der Verkäufer die Daten auf: Modell, Serien-Nummer, Adresse des Kunden und dessen Namen. Der Fotograph gab ihm die gewünschten Informationen. Wir aber erfahren nichts davon. Sämtliche Informationen über seine Kamera sind irrelevant und zu Adresse und Namen müssen wir nur soviel wissen: seine düster verhangene Wohnung ist sein Eigentum, vor Jahrzehnten geerbt und nur leidlich (wie wir bereits erfahren haben) kümmert er sich um ihre Reinlichkeit. Seinen Namen wiederum braucht niemand zu kennen, geht er doch seit Langem keiner Arbeit nach und auch Freunde hat er keine. Wäre er nicht ab und an zu gesellschaftlichen Kontakten wie diesem gezwungen und wäre das Finanzamt nicht jedes Jahr an seinem nicht unbedeutenden Vermögen interessiert, könnte man davon ausgehen, dass er gar nicht existierte. Die Kamera in der Hand und mit gemächlichem Gang würde er namenlos und von seiner Umwelt unbemerkt - auch unbehelligt - durch seine Tage spazieren.

Natürlich wird er, wie in jenem Fotofachgeschäft, bei allen möglichen Gelegenheiten mit dem Umstand konfrontiert, dass die analoge Fotographie am Ende ihres Lebenszyklus angekommen zu sein scheint. Wenige nur, alte Enthusiasten wie er selbst einer ist und möglicherweise auch noch einige Jüngere, denen ein Bild mehr bedeutet, als einen Knopf zu drücken, das Werk zu betrachten und mit einem weiteren Knopf aus dem Speicher der Kamera und aus dem Gedächtnis des Fotographen zu tilgen, scheinen an dieser Form der Fotographie festzuhalten.
Aber für unseren Fotographen ist das nichts. Das fertige Bild, das ist für ihn das Produkt eines schöpferischen Prozesses, deren erster Schritt die Nutzung seiner Sinne ist. Vielmehr die Gabe, sich von seinen Sinnen benutzen zu lassen! Denn diese eine Wahrheit hat der Fotograph für sich herausgefunden, sie zu irgendeinem Zeitpunkt - wann genau ist das passiert? - wie einen am Wegesrand liegenden Fünf-Euro-Schein entdeckt und aufgehoben: nicht er selbst, also sein körperliches Selbst, ist es, der seine Umgebung sondiert und in dieser beängstigenden Flut an großen und kleinen Möglichkeiten das Motiv heraussucht. Dazu wäre er, wäre niemand in der Lage.
Die Wahrheit ist vielmehr, dass er in jenem unwahrscheinlich geringen Zeitraum, den er an einem beliebigen Platz verbringen mag, niemals auch nur einen Bruchteil dessen erfassen könnte, was ihn umgibt und während er noch dabei ist, zu überlegen ob denn das Licht, ja, auch die Farben und ein Mindestmaß an Dynamik oder Poesie oder was auch immer sich in der vor ihm liegenden Szene verbergen mag, vorhanden ist, vollführen seine Hände einen Bogen aufwärts und drückt sich das kühle Gehäuse seiner Kamera schon an sein Jochbein, löst ein Finger ohne ein Anzeichen von Zweifel den Auslöser und konserviert ein Bild auf Film.
Von zwei Dingen, die einen Fotographen von einem Stümper unterscheiden, ist diese Wahrheit für unseren Fotographen der erste Punkt.
Der zweite ist folgender: der Fotograph wird dieses Bild entwickeln und wird es aufbewahren. Nicht, weil er ein sentimentaler Narr ist. Nein. Weil das Bild gut ist. Weil er seinen Sinnen gestattet hatte, sich einen Teil der Welt auszusuchen und ihr diesen in einem speziellen Moment zu entreißen. Erst hatten sich die Sinne die Gewalt über den Fotographen angeeignet, anschließend einen Abdruck der Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt. Beides ist auf dem Bild zu sehen, lässt man sich ganz und gar darauf ein sogar spüren! Warm vibriert es unter den Fingern, so ein Bild wenn es aus der Entwicklungsflüssigkeit gezogen wird. Da passiert etwas im Kopf. Wahrhaftig sind die Gefühle, die es auslöst wenn man es schafft, es nicht bloß anzugaffen, diesen vulgären und brutalen Akt begeht, der immer mehr zur Mode geworden ist (wie der Fotograph nicht selten bei sich denkt) sondern sich demütig etwas erzählen lässt.
Genau das tut unser Fotograph. Nur aus diesem einen Grund verlässt er Tag für Tag seine Wohnung und kehrt am Abend heim. Nur ein kleines, karges Abendessen gönnt er sich dann - tatsächlich ist er ein sehr hagerer Mann - bevor er sich anschickt, die beengende Dunkelkammer, die an sein Badezimmer angrenzt, zu betreten um sich überraschen zu lassen und dabei in diesem roten Licht wie ein Mittzwanziger, gleich darauf mehr wie neunzig wirkt. Ganz ein Spiegelbild dessen, worauf er gerade blickt. Meist ist er zufrieden.

Behutsam dreht der Fotograph das Gehäuse der Favoritin vor seinem Gesicht. Seine Finger liebkosen das Metall, die kühlen Flächen und sauber gearbeiteten Fugen. Endlich wieder diese Kamera in Händen zu halten beruhigt ihn.
Schließlich legt er sie vorsichtig in das Paket zurück und steht auf, um in die Dunkelkammer zu gehen - er möchte noch den Film der Ersatzkamera entwickeln.
Nutzen wir diese Gelegenheit und betrachten unseren Fotographen ein wenig näher. Dass er gepflegt wirkt, beinahe kahl und schlank ist, haben wir bereits erfahren. Bei näherem Hinsehen entdecken wir aber noch mehr: wie für viele allein stehende Männer scheint auch für ihn das Bügeln der Wäsche nicht notwendig zu sein. Arg zerknittert wachsen die karierten Hemdsärmel aus der abgetragenen Weste hervor, die beige Anzughose - früher zweifellos mit akkurater Bügelfalte versehen - hängt formlos an den dürren Beinen des Mannes herab. Auch sie ist an mehreren Stellen abgewetzt.
Ebenso wenig kann der Eindruck der Rüstigkeit einem genaueren Blick standhalten. Kraftlos scheint die Haut in Falten über seinem Körper zu liegen, sie ist blass und wirkt beinahe durchsichtig. Bedeckt von unzähligen Altersflecken verstärkt sie noch den Eindruck von Verfall, den seine leicht gebückte Gehweise mit den schlurfenden Schritten hervorruft, lässt den Fotographen zerbrechlich und vergänglich wirken. Schubweise durchfährt ihn das kaum sichtbare Zittern wie Schüttelfrost. Alter und Krankheit haben ihn in ihre Mitte genommen.
Davon unbeirrt hält er weiter auf die Dunkelkammer zu und geht an Wänden vorbei, die von der Decke bis zum Boden mit Fotographien behangen sind. Schwarz-weiße Bilder - manche in Rahmen, die meisten jedoch bloß doppelseitigem Klebeband an der Tapete befestigt - die zeigen, was das Auge des Fotographen über die Jahrzehnte geschaut hat.
Kein reißerisches oder dramatisches Motiv findet sich darunter. Es sind stille und intime Momentaufnahmen von Fremden, vom Fremden. Jahrzehntelang hat er beinahe täglich einen Spaziergang ins Unbekannte unternommen um sich später, daheim beim Entwickeln der Bilder, etwas davon zeigen lassen, was er zuvor nicht fähig war, zu sehen. Und noch heute überrascht es ihn regelmäßig, wie fremd und unbekannt ihm vorkommt, was die feuchten Blätter Papier ihm zeigen, wenn er sie zum Trocknen aufhängt.
Letztendlich bekommen die Bilder einen Platz an einer der Wände in der Wohnung oder - wie in den letzten Jahren häufiger - werden in einem der unzähligen Alben oder Ordner abgelegt, die den Gang zum Schlafzimmer säumen. Was ihnen aber allen gemeinsam ist: einmal abgelegt oder aufgehängt würdigt sie der Fotograph keines Blickes mehr. Darin sieht er keine Veranlassung, in dem kurzen Zeitraum zuvor hat er sich doch schon alles zeigen lassen, wofür das Bild steht.
Jetzt steht er in der Dunkelkammer und schließt die Tür hinter sich. Auch hier ist es staubig und er ist nicht glücklich darüber. Doch schafft er es nicht, den Staub draußen zu halten. Ist er doch überall! So lebt er eben mit den unausweichlichen Bildfehlern, die seine Fotographien des öfteren verunstalten, am Ende aber deren Aussage nicht schmälern können.
Mit einer flinken Bewegung entnimmt er seiner Ersatzkamera den Film und beginnt das Handwerk, das seine Sinne nicht beherrschen. Hier drin ist er der Künstler, der Handwerker, konzentriert und erfahren nimmt er sich der Schätze an, die er heute mit nach Hause gebracht hat. Meist geht es ihm nicht schnell genug. Die Zeit, die die Flüssigkeit benötigt, ihm die Bilder aus dem Film zu kondensieren wird ihm jedes Mal zur Ewigkeit. Der Geruch der Chemikalien und das Licht, das alles in einen dämonischen Schimmer hüllt, erwecken eine kindliche Vorfreude in ihm.
Sicher, er kann nicht viel mehr tun als warten. Aber er ist sich bewusst, dass ein kleiner Fehler seinerseits, eine Unachtsamkeit oder die Wahl eines falschen Zeitpunktes, das Ergebnis beeinträchtigen können. Und hier drin ist er auf sich allein gestellt, keine Sinne, die ihm helfend unter die Arme greifen und seine Hände lenken. An diesem Ort zählt nur sein Blick und sein Gefühl, hier ist er der Künstler.
Und ja, natürlich ist er ein Künstler. Hält er nicht am Ende des Tages ein Werk in Händen? Etwas, das er (wenn auch nur bildlich gesprochen) „geschaffen“ hat? Geschaffen oder zumindest dabei mitgeholfen, es in die Welt zu bringen? Durch nichts unterscheidet er sich dadurch vom Bildhauer, vom Maler. Gemeinsam ist ihnen doch auch, dass ihnen bewusst ist, dass nicht der Meissel, auch nicht der Pinsel (oder hier die Kamera) das Werkzeug ist, sondern sie selbst es sind, die zum Werkzeug und zum unwissentlichen (ja, das ist wichtig!) Komplizen ihrer Sinne gemacht werden!
Mag er noch so groß reden, der Künstler, der der Maler (und der Bildhauer und der Fotograph) für seine Aussenwelt auch ist, davon, was er denn gefühlt und gesehen hat, welche Motivation ihn angetrieben hat, den Pinsel mit nervösem Schwung auf die Leinwand zu fetzen - er selbst weiß es besser. Bevor der Prozess beendet ist, hat er keine Ahnung, was ihn erwarten wird. Nur von einer Sache ist er überzeug: er hat etwas anderem gedient. Wird ihm wieder und bis zum Ende dienen. Der Künstler ist nämlich ein glücklicher Diener. Deshalb hat er auch nur eine Sorge, und zwar, dass dieser endliche Körper, diese anfällige Hülle, mit deren Hilfe die Sinne ihr tägliches Wunder vollbringen, einmal aufhört, das Spiel mitzumachen. Und manchmal wird diese Sorge regelrecht zur Angst.
Zum Beispiel dann, wenn die Hände zu zittern beginnen.

Im Leben unseres Fotographen haben sich diese Ängste aber auf einem noch weit dramatischeren Weg einen Platz gesichert. Und zwar in der Form von Krebs. Genau das sei es nämlich, das seine Knochen zerfräße, teilte ihm sein Arzt lapidar bei einem dieser gesellschaftlichen Anlässe, bei dem seinem Namen eine dem Fotographen nicht nachvollziehbare Wichtigkeit innegewohnt hatte, mit. Der Fotograph flehte nicht, er wurde nicht von Angst gelähmt oder ließ sich in sonst einer Weise anmerken, dass er das, was ihm eben gesagt worden war, verstand. Einzig an die Zeit, die ihm noch bleiben und wie er sie nützen würde, dachte er.
An dieses Gespräch denkt er auch jetzt wieder, während er darauf wartet, dass der Film fertig entwickelt ist und er sie vergrößern kann. So ungeduldig er auch ist, er hat gelernt, mit der Zeit, die das Entwickeln benötigt, umzugehen und sie manchmal zu ignorieren und einfach nicht wahrzunehmen. Selten kommen ihm Gedanken über die Vergangenheit. Nur heute ist er nicht ganz bei der Sache, den ganzen Tag schon beschäftigen ihn unerledigte Dinge und unvollständig durchdachte Gedanken.

Fertig. Unser Fotograph hält die frischen Vergrößerungen vor sich und betrachtet sie stumm. Mal hält er sie in Armlänge vor sich hin, dann wieder sieht er sie aus wenigen Zentimetern Entfernung an. All die Details, an die er sich gar nicht erinnern kann - wie sollte das auch möglich sein, belehrt er sich - nimmt er in sich auf.
Hier strahlt das Licht der Mittagssonne, das auf das Haupt des Jungen fällt, der vor einem Heurigen herumlungert. Seit er sich das erste Mal die Mühe gemacht hat, bis in die Gegend von jenem Heurigen zu wandern, um wieder etwas Frisches und Unverbrauchtes vor die Linse zu bekommen, sieht er den Jungen öfters. Noch nie hat er ihn abgelichtet. Bisher war es nicht richtig. Heute war es dann soweit.
Forschend und beinahe gierig streicht sein Blick über die Fotos. Während das Zwielicht in der Dunkelkammer seine Falten in weiche tiefe Täler verwandelt und sein Alter unterstreicht, sticht der jugendliche, scharfe Glanz seiner Augen aus seinem Gesicht hervor.
Sie sehen einen Jungen, der gescheitert ist. Nicht, dass man auf den Grund dieses Scheiterns zeigen könnte, nein, es ist die Gesamtheit aller sichtbaren und unsichtbaren Details, die uns einen gebrochenen jungen Mann präsentiert. Daran besteht kein Zweifel. Müsste man es erklären, würde man vielleicht auf die Hände des Jungen verweisen. Wie sie unnatürlich verbraucht und alt aussehen, wie sie vor ihm herabbaumeln in einer grotesken und sichtlich unbequemen Haltung. Oder das derbe Gesicht, dessen Augen und Mund kein Leben beherbergen. Vielleicht ist der Junge krank oder nimmt Drogen. Doch darauf kommt es nicht an, nur darauf, dass der Junge ungewöhnlich ist und natürlich, so natürlich, dass man etwas von dem Leid und den Enttäuschungen, die er durchlebt haben muss, förmlich an und in sich selbst zu spüren vermeint.
Er ist zufrieden, unser Fotograph.

Sorgfältig hängt er die Bilder zum Trocknen auf und kehrt wieder ins Wohnzimmer und zum Sofa zurück. Er holt seine Favoritin aus dem Karton und schlurft ins Schlafzimmer.
Straßenlaternen werfen mildes Licht in den Raum. Es fällt auf das Bett und die darauf aufgeschichteten Kissen und Decken. Doch ist es noch nicht hell genug. Der Fotograph schüttelt mit seiner freien Hand einen der Vorhänge ein Stück weiter auf. So ist es besser, man kann nun beinahe den ganzen Raum sehen. Zusätzlich knipst er noch eine kleine Lampe, die auf einem Sekretär an der dem Fenster gegenüberliegenden Seite steht, ein.
Mit Bewegungen, die seine Hände seit unzähligen Jahren unzählige Male vollführt haben, befestigt er die Kamera auf einem Stativ, das er schon vor Tagen dort aufgestellt hat. Dann blickt er durch den Sucher und justiert das Stativ nach. Bei alledem ist er vorsichtig. Nicht wieder fallen lassen!, mahnt er sich. Drei Wochen musste er warten und er hatte die Zeit genutzt, das Notwendigste vorzubereiten. Wenige Kleinigkeiten sind noch zu erledigen und unser Fotograph macht sich geschäftig an die Arbeit. Ein plötzlicher Eifer scheint von ihm Besitz ergriffen zu haben und beschleunigt seine Bewegungen, macht sie geschmeidiger.
Die Wohnungstür ist nicht abgesperrt sondern angelehnt, dessen hat er sich gerade versichert. Es würde nur Probleme machen und deshalb hat er sie einen Spalt weit offen gelassen. Man muss es niemandem schwer machen, die Dinge waren doch ohnehin schon kompliziert genug, findet er.
Im Badezimmer flammt eine grelle Neonröhre auf. In ihrem bläulich-kalten Licht zieht sich der Fotograph die Hose aus, schlüpft in eine Windel und zieht die Hose wieder an. Bei der Windel handelt es sich um eine für Erwachsene, für Inkontinente. Zwar ist er nicht inkontinent und seit beinahe zwei Tagen hat er nichts mehr gegessen, seit heute Morgen auch nichts mehr getrunken - doch man kann nie wissen, nicht wahr? Unser Fotograph überantwortet sich zwar gern seinen Sinnen, nicht aber dem Zufall.
Gewissenhaft prüft er, ob alles so sitzt, wie er sich das vorstellt und macht zur Kontrolle ein paar Schritte. Passabel, nicht perfekt, aber passabel, findet er.
Er tritt an das Medizinschränkchen und öffnet die verspiegelte Tür. Ungewöhnlich leer ist es, bis auf ein paar Pflaster und Standard-Präparate, wie man sie in jedem Haushalt finden kann, befindet sich nur noch ein braunes Röhrchen darin. Genau danach greift er nun und schraubt den Deckel ab um sich anschließend den Inhalt in die Handkuhle zu leeren.
In zwei Etappen spült er die Tabletten mit ein paar Schlucken warmen Wassers aus dem Zahnputz-Becher hinunter. Der metallische Geschmack lässt seine Augen tränen. Das leere Fläschchen stellt er wieder in das Medizinschränkchen und schließt die Tür.
Für einen kurzen Moment blickt er in sein Spiegelbild. Dabei denkt er über nichts Bestimmtes nach, auch empfindet er nichts Besonderes. Mit nüchternem Blick mustert er einfach dieses Gesicht, das er ein Leben lang immer nur hinter einer Kamera versteckt hat.
Doch die Zeit drängt, der Fotograph löscht das Licht im Badezimmer und kehrt zurück ins Schlafzimmer.
Hölzern legt er sich auf sein Bett und zieht sich mühsam in eine angenehme Position, die Kamera ist dabei genau auf ihn gerichtet. Er streicht sich nicht die Falten auf seiner Weste und seiner Hose glatt. Nein, das wäre Betrug. Das ist nicht seine Art, den Sinnen in ihr Werk zu pfuschen.
Vorsichtig legt er den vorbereiteten Selbstauslöser neben seine Hüfte und hält die andere Hand, in der nun ein massiver Briefbeschwerer aus Kupfer liegt, darüber. Seine Hand zittert dabei nicht und einen Moment wundert der Fotograph sich darüber, wie natürlich ihm die Situation vorkommt und wie er - sollte es überhaupt passiert sein - jemals an seinem Vorhaben zweifeln konnte.
Doch dieser Gedanke überkommt ihn nur einen Augenblick. Schon kreist der nächste um den Briefbeschwerer. Lange wird es nicht dauern, denkt er und hört sein Herz dabei noch regelmäßig gegen seine Brust schlagen. Während er auf dieses Pochen horcht fragt er sich gleichzeitig, was wohl mit seinen Bildern passieren wird? Archiviert man sie? Oder werden sie versteigert, verkauft, vernichtet? Eigentlich kümmert es ihn nicht, er hat ja bereits ihre Geschichten gelesen.
Weit mehr interessiert ihn, was mit der Kamera in diesem Raum geschehen wird. Ob wohl jemand den Film entwickeln wird, fragt er sich. Und was wird derjenige sehen? Wird diese Person lächeln, sich vor Ekel abwenden? Nun, in welcher Art und auf gleich welchem Weg auch immer: sollte dieses eine, sein letztes Bild jemandem etwas erzählen dürfen, wäre allem Genüge getan.
Dann wäre er zufrieden.
 

Leachim G

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Der Moment des Fotographen

Lautlos öffnet sich die Wohnungstür und ein alter Mann betritt den Vorraum. Sein weniges graues Haar trägt er mit Pomade an den Seiten seines Kopfes festgeklatscht. Obwohl man ihm sein Alter ansieht (es möglicherweise sogar höher schätzen würde) wirkt er rüstig und gepflegt. Einzig ein schwaches Zittern scheint seinen Körper schubweise in Bewegung zu bringen, auch seine langen Arme und feingliedrigen Hände, in denen er ein Paket hält, scheint es in seiner Gewalt zu haben. An einem ledernen Band, das der Mann um seine rechte Schulter trägt, hängt eine Kamera. Der Mann ist Fotograph.

Sachte schließt er die Tür hinter sich und begibt sich dann in Richtung Wohnzimmer und dort zum Sofa in der Mitte des Raumes. Seine Schuhe zieht sich der Fotograph nicht aus. Im Gegensatz zu ihm ist die Wohnung in keinem guten Zustand und das Wenige an Schmutz, das er Tag für Tag an den Sohlen seiner Schuhe mit nach Hause bringt, fällt hier kaum auf.
Beim Sofa angekommen, stellt er das Paket auf einen Tisch aus dunklem Holz, der, neben dem Sofa, als einziges Möbelstück in der Mitte des großen Wohnzimmers steht.
Wie auf scheinbar allem in der Wohnung des Fotographen liegt eine zarte Staubschicht auf beidem. Alleinstehend und ohne Haushaltshilfe ist ihm die Pflege seines Heimes in den letzten Jahren sichtbar über den Kopf gewachsen. Zwar liegt nichts sinnlos in den Räumen herum - er ist sehr ordentlich, unser Fotograph - doch ist der Verfall überall sichtbar, wird sichtbar gemacht durch das Licht, das zwischen den halb zugezogenen schweren Vorhängen in die Räume fällt und vom Staub in der Luft zu Lichtbahnen gemacht wird. Doch diese Düsternis und das Flirren des Staubes in der Luft beschäftigen ihn nicht.
Dankbar lässt sich der Fotograph auf das Sofa fallen und gleichzeitig entrinnt den Federn des Möbels und der Lunge des Fotographen ein leises Ächzen. Es war ein anstrengender Tag, anstrengend und nicht sehr ertragreich. Ist es tatsächlich so, fragt sich der Fotograph, dass mit den Jahren die lohnenden Motive weniger werden? Kann das sein? Nicht das erste Mal stellt er sich diese Frage, nein, schon mehrmals - und in den letzten Monaten immer häufiger - kam ihm dieser Gedanke. Und zu Recht erschreckt er ihn. Angenommen, es käme der Tag, an dem er seine Wohnung verließe und in eine Welt hinausträte, die ihm nichts mehr zu bieten hätte oder, noch erschreckender, der er trotz aller Anstrengungen nichts mehr entreißen könnte! Dieser Gedanke macht ihm Angst, und die Ungewissheit über die Antwort lässt ihm eine Gänsehaut sein knochiges Rückgrat hinauf sprießen.
Mit seiner Linken winkt er ab, gerade so, als wolle er diese Gedanken verscheuchen, wie lästige Insekten, die unangenehm nahe am Ohr summen und surren, verjagen.
So beugt er sich nach vorne und dreht das Paket, das er mitgebracht hat, derart, dass er die darauf angebrachten Aufkleber lesen kann. Das Paket ist aus rauem Karton, gelblich wie Nikotinfinger und wird von zwei dicken, kreuzförmig um das Paket gebunden Streifen braunen Paketbandes verschlossen. Der Fotograph stellt es leicht schräg und beginnt, mit einem seiner langen Fingernägel (oh doch, auch diese sind gepflegt) an einem der Klebestreifen herum zu nesteln.
Endlich trennt er ihn durch und widmet sich dem zweiten. Inzwischen hat sich ein warmes Lächeln auf seinem Gesicht ausgebreitet. Gut möglich, dass es nur deshalb so warm wirkt, weil sich das Licht nur schwach zwischen den Vorhängen und durch den staubigen Äther bis zu ihm durchkämpfen kann. Samtig umspielt es seine faltigen Wangen, die Krähenfüße neben seinen glitzernden Augen. Und doch ähnelt er in diesem Moment mehr einem Kind denn einem Greis.
Vorsichtig hebt er den Deckel hoch und setzt ihn sanft neben dem Paket auf dem Tisch ab. Nun faltet er noch dünnes Papier auf die Seite und hebt zwei Stücke Styropor aus dem Karton. Das Lächeln wird zu einem Grinsen, als er sie schließlich sieht: seine Kamera. Seine Favoritin. Die Kamera, die er immer noch an einer Lederschnur um seine Schulter hängen hat, ist nur eines seiner Ersatzgeräte. Selten nur und nie wirklich glücklich mit seiner Entscheidung, arbeitet er mit einer dieser (in seinen Augen) minderen Apparate. Warum nimmt er sie dann überhaupt in die Hand? Er weiß es selbst nicht, die Wahl und die Entscheidung liegt scheinbar nicht bei ihm und in den letzten Wochen gab es nicht einmal eine Alternative.
Die Favoritin musste er nämlich zur Reparatur einschicken, nachdem er sie hatte fallen lassen. Jener Moment war schrecklich für ihn gewesen. Nicht nur seine Lieblingskamera war möglicherweise zerstört, mehr noch war der Fotograph darüber erschrocken, dass seine Hände schuld an dem Missgeschick hatten. Ungläubig blickte er auf sie hinab. Sie zitterten. Gebt mir noch Zeit, flehte er sie an, es ist zu früh. Doch Hände hören einen nicht und so zitterten sie weiter.
Seit diesem Tag fällt dem Fotographen das Zittern häufiger auf, aber er verdrängt es aus seinen Gedanken. Seine Angst darüber darf ihn nicht lähmen und ihn bei seinem Geschäft behindern. Noch nicht.
Nach dem Missgeschick machte er sich mit der defekten Kamera auf den Weg in eines der Fachgeschäfte, die er über die Jahre als seinem Vertrauen halbwegs würdig kennengelernt hatte.
Der Verkäufer, ein junger, dicklicher Mann mit glänzenden Wurstfingern, hielt das Gehäuse mit den Dellen hoch, wendete es unter dem kalten Licht der Neonröhren hin und her und wollte wissen, ob unser Fotograph sich nicht vielleicht eine der neuen digitalen Spiegelreflexkameras ansehen möchte? Einige Modelle seien derzeit im Angebot und schon die kleinen, günstigeren Geräte wären qualitativ sehr ordentlich. Der Fotograph hatte nur ein Lächeln für den jungen Verkäufer übrig, sanft den Kopf geschüttelt und die Reparatur seiner Kamera verlangt.
Nach einem Schulterzucken (wie Sie meinen, bedeutete das) nahm der Verkäufer die Daten auf: Modell, Serien-Nummer, Adresse des Kunden und dessen Namen. Der Fotograph gab ihm die gewünschten Informationen. Wir aber erfahren nichts davon. Sämtliche Informationen über seine Kamera sind irrelevant und zu Adresse und Namen müssen wir nur soviel wissen: seine düster verhangene Wohnung ist sein Eigentum, vor Jahrzehnten geerbt und nur leidlich (wie wir bereits erfahren haben) kümmert er sich um ihre Reinlichkeit. Seinen Namen wiederum braucht niemand zu kennen, geht er doch seit Langem keiner Arbeit nach und auch Freunde hat er keine. Wäre er nicht ab und an zu gesellschaftlichen Kontakten wie diesem gezwungen und wäre das Finanzamt nicht jedes Jahr an seinem nicht unbedeutenden Vermögen interessiert, könnte man davon ausgehen, dass er gar nicht existierte. Die Kamera in der Hand und mit gemächlichem Gang würde er namenlos und von seiner Umwelt unbemerkt - auch unbehelligt - durch seine Tage spazieren.

Natürlich wird er, wie in jenem Fotofachgeschäft, bei allen möglichen Gelegenheiten mit dem Umstand konfrontiert, dass die analoge Fotographie am Ende ihres Lebenszyklus angekommen zu sein scheint. Wenige nur, alte Enthusiasten wie er selbst einer ist und möglicherweise auch noch einige Jüngere, denen ein Bild mehr bedeutet, als einen Knopf zu drücken, das Werk zu betrachten und mit einem weiteren Knopf aus dem Speicher der Kamera und aus dem Gedächtnis des Fotographen zu tilgen, scheinen an dieser Form der Fotographie festzuhalten.
Aber für unseren Fotographen ist das nichts. Das fertige Bild, das ist für ihn das Produkt eines schöpferischen Prozesses, deren erster Schritt die Nutzung seiner Sinne ist. Vielmehr die Gabe, sich von seinen Sinnen benutzen zu lassen! Denn diese eine Wahrheit hat der Fotograph für sich herausgefunden, sie zu irgendeinem Zeitpunkt - wann genau ist das passiert? - wie einen am Wegesrand liegenden Fünf-Euro-Schein entdeckt und aufgehoben: nicht er selbst, also sein körperliches Selbst, ist es, der seine Umgebung sondiert und in dieser beängstigenden Flut an großen und kleinen Möglichkeiten das Motiv heraussucht. Dazu wäre er, wäre niemand in der Lage.
Die Wahrheit ist vielmehr, dass er in jenem unwahrscheinlich geringen Zeitraum, den er an einem beliebigen Platz verbringen mag, niemals auch nur einen Bruchteil dessen erfassen könnte, was ihn umgibt und während er noch dabei ist, zu überlegen ob denn das Licht, ja, auch die Farben und ein Mindestmaß an Dynamik oder Poesie oder was auch immer sich in der vor ihm liegenden Szene verbergen mag, vorhanden ist, vollführen seine Hände einen Bogen aufwärts und drückt sich das kühle Gehäuse seiner Kamera schon an sein Jochbein, löst ein Finger ohne ein Anzeichen von Zweifel den Auslöser und konserviert ein Bild auf Film.
Von zwei Dingen, die einen Fotographen von einem Stümper unterscheiden, ist diese Wahrheit für unseren Fotographen der erste Punkt.
Der zweite ist folgender: der Fotograph wird dieses Bild entwickeln und wird es aufbewahren. Nicht, weil er ein sentimentaler Narr ist. Nein. Weil das Bild gut ist. Weil er seinen Sinnen gestattet hatte, sich einen Teil der Welt auszusuchen und ihr diesen in einem speziellen Moment zu entreißen. Erst hatten sich die Sinne die Gewalt über den Fotographen angeeignet, anschließend einen Abdruck der Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt. Beides ist auf dem Bild zu sehen, lässt man sich ganz und gar darauf ein sogar spüren! Warm vibriert es unter den Fingern, so ein Bild wenn es aus der Entwicklungsflüssigkeit gezogen wird. Da passiert etwas im Kopf. Wahrhaftig sind die Gefühle, die es auslöst wenn man es schafft, es nicht bloß anzugaffen, diesen vulgären und brutalen Akt begeht, der immer mehr zur Mode geworden ist (wie der Fotograph nicht selten bei sich denkt) sondern sich demütig etwas erzählen lässt.
Genau das tut unser Fotograph. Nur aus diesem einen Grund verlässt er Tag für Tag seine Wohnung und kehrt am Abend heim. Nur ein kleines, karges Abendessen gönnt er sich dann - tatsächlich ist er ein sehr hagerer Mann - bevor er sich anschickt, die beengende Dunkelkammer, die an sein Badezimmer angrenzt, zu betreten um sich überraschen zu lassen und dabei in diesem roten Licht wie ein Mittzwanziger, gleich darauf mehr wie neunzig wirkt. Ganz ein Spiegelbild dessen, worauf er gerade blickt. Meist ist er zufrieden.

Behutsam dreht der Fotograph das Gehäuse der Favoritin vor seinem Gesicht. Seine Finger liebkosen das Metall, die kühlen Flächen und sauber gearbeiteten Fugen. Endlich wieder diese Kamera in Händen zu halten beruhigt ihn.
Schließlich legt er sie vorsichtig in das Paket zurück und steht auf, um in die Dunkelkammer zu gehen - er möchte noch den Film der Ersatzkamera entwickeln.
Nutzen wir diese Gelegenheit und betrachten unseren Fotographen ein wenig näher. Dass er gepflegt wirkt, beinahe kahl und schlank ist, haben wir bereits erfahren. Bei näherem Hinsehen entdecken wir aber noch mehr: wie für viele allein stehende Männer scheint auch für ihn das Bügeln der Wäsche nicht notwendig zu sein. Arg zerknittert wachsen die karierten Hemdsärmel aus der abgetragenen Weste hervor, die beige Anzughose - früher zweifellos mit akkurater Bügelfalte versehen - hängt formlos an den dürren Beinen des Mannes herab. Auch sie ist an mehreren Stellen abgewetzt.
Ebenso wenig kann der Eindruck der Rüstigkeit einem genaueren Blick standhalten. Kraftlos scheint die Haut in Falten über seinem Körper zu liegen, sie ist blass und wirkt beinahe durchsichtig. Bedeckt von unzähligen Altersflecken verstärkt sie noch den Eindruck von Verfall, den seine leicht gebückte Gehweise mit den schlurfenden Schritten hervorruft, lässt den Fotographen zerbrechlich und vergänglich wirken. Schubweise durchfährt ihn das kaum sichtbare Zittern wie Schüttelfrost. Alter und Krankheit haben ihn in ihre Mitte genommen.
Davon unbeirrt hält er weiter auf die Dunkelkammer zu und geht an Wänden vorbei, die von der Decke bis zum Boden mit Fotographien behangen sind. Schwarz-weiße Bilder - manche in Rahmen, die meisten jedoch bloß doppelseitigem Klebeband an der Tapete befestigt - die zeigen, was das Auge des Fotographen über die Jahrzehnte geschaut hat.
Kein reißerisches oder dramatisches Motiv findet sich darunter. Es sind stille und intime Momentaufnahmen von Fremden, vom Fremden. Jahrzehntelang hat er beinahe täglich einen Spaziergang ins Unbekannte unternommen um sich später, daheim beim Entwickeln der Bilder, etwas davon zeigen lassen, was er zuvor nicht fähig war, zu sehen. Und noch heute überrascht es ihn regelmäßig, wie fremd und unbekannt ihm vorkommt, was die feuchten Blätter Papier ihm zeigen, wenn er sie zum Trocknen aufhängt.
Letztendlich bekommen die Bilder einen Platz an einer der Wände in der Wohnung oder - wie in den letzten Jahren häufiger - werden in einem der unzähligen Alben oder Ordner abgelegt, die den Gang zum Schlafzimmer säumen. Was ihnen aber allen gemeinsam ist: einmal abgelegt oder aufgehängt würdigt sie der Fotograph keines Blickes mehr. Darin sieht er keine Veranlassung, in dem kurzen Zeitraum zuvor hat er sich doch schon alles zeigen lassen, wofür das Bild steht.
Jetzt steht er in der Dunkelkammer und schließt die Tür hinter sich. Auch hier ist es staubig und er ist nicht glücklich darüber. Doch schafft er es nicht, den Staub draußen zu halten. Ist er doch überall! So lebt er eben mit den unausweichlichen Bildfehlern, die seine Fotographien des öfteren verunstalten, am Ende aber deren Aussage nicht schmälern können.
Mit einer flinken Bewegung entnimmt er seiner Ersatzkamera den Film und beginnt das Handwerk, das seine Sinne nicht beherrschen. Hier drin ist er der Künstler, der Handwerker, konzentriert und erfahren nimmt er sich der Schätze an, die er heute mit nach Hause gebracht hat. Meist geht es ihm nicht schnell genug. Die Zeit, die die Flüssigkeit benötigt, ihm die Bilder aus dem Film zu kondensieren wird ihm jedes Mal zur Ewigkeit. Der Geruch der Chemikalien und das Licht, das alles in einen dämonischen Schimmer hüllt, erwecken eine kindliche Vorfreude in ihm.
Sicher, er kann nicht viel mehr tun als warten. Aber er ist sich bewusst, dass ein kleiner Fehler seinerseits, eine Unachtsamkeit oder die Wahl eines falschen Zeitpunktes, das Ergebnis beeinträchtigen können. Und hier drin ist er auf sich allein gestellt, keine Sinne, die ihm helfend unter die Arme greifen und seine Hände lenken. An diesem Ort zählt nur sein Blick und sein Gefühl, hier ist er der Künstler.
Und ja, natürlich ist er ein Künstler. Hält er nicht am Ende des Tages ein Werk in Händen? Etwas, das er (wenn auch nur bildlich gesprochen) „geschaffen“ hat? Geschaffen oder zumindest dabei mitgeholfen, es in die Welt zu bringen? Durch nichts unterscheidet er sich dadurch vom Bildhauer, vom Maler. Gemeinsam ist ihnen doch auch, dass ihnen bewusst ist, dass nicht der Meissel, auch nicht der Pinsel (oder hier die Kamera) das Werkzeug ist, sondern sie selbst es sind, die zum Werkzeug und zum unwissentlichen (ja, das ist wichtig!) Komplizen ihrer Sinne gemacht werden!
Mag er noch so groß reden, der Künstler, der der Maler (und der Bildhauer und der Fotograph) für seine Aussenwelt auch ist, davon, was er denn gefühlt und gesehen hat, welche Motivation ihn angetrieben hat, den Pinsel mit nervösem Schwung auf die Leinwand zu fetzen - er selbst weiß es besser. Bevor der Prozess beendet ist, hat er keine Ahnung, was ihn erwarten wird. Nur von einer Sache ist er überzeug: er hat etwas anderem gedient. Wird ihm wieder und bis zum Ende dienen. Der Künstler ist nämlich ein glücklicher Diener. Deshalb hat er auch nur eine Sorge, und zwar, dass dieser endliche Körper, diese anfällige Hülle, mit deren Hilfe die Sinne ihr tägliches Wunder vollbringen, einmal aufhört, das Spiel mitzumachen. Und manchmal wird diese Sorge regelrecht zur Angst.
Zum Beispiel dann, wenn die Hände zu zittern beginnen.

Im Leben unseres Fotographen haben sich diese Ängste aber auf einem noch weit dramatischeren Weg einen Platz gesichert. Und zwar in der Form von Krebs. Genau das sei es nämlich, das seine Knochen zerfräße, teilte ihm sein Arzt lapidar bei einem dieser gesellschaftlichen Anlässe, bei dem seinem Namen eine dem Fotographen nicht nachvollziehbare Wichtigkeit innegewohnt hatte, mit. Der Fotograph flehte nicht, er wurde nicht von Angst gelähmt oder ließ sich in sonst einer Weise anmerken, dass er das, was ihm eben gesagt worden war, verstand. Einzig an die Zeit, die ihm noch bleiben und wie er sie nützen würde, dachte er.
An dieses Gespräch denkt er auch jetzt wieder, während er darauf wartet, dass der Film fertig entwickelt ist und er sie vergrößern kann. So ungeduldig er auch ist, er hat gelernt, mit der Zeit, die das Entwickeln benötigt, umzugehen und sie manchmal zu ignorieren und einfach nicht wahrzunehmen. Selten kommen ihm Gedanken über die Vergangenheit. Nur heute ist er nicht ganz bei der Sache, den ganzen Tag schon beschäftigen ihn unerledigte Dinge und unvollständig durchdachte Gedanken.

Fertig. Unser Fotograph hält die frischen Vergrößerungen vor sich und betrachtet sie stumm. Mal hält er sie in Armlänge vor sich hin, dann wieder sieht er sie aus wenigen Zentimetern Entfernung an. All die Details, an die er sich gar nicht erinnern kann - wie sollte das auch möglich sein, belehrt er sich - nimmt er in sich auf.
Hier strahlt das Licht der Mittagssonne, das auf das Haupt des Jungen fällt, der vor einem Heurigen herumlungert. Seit er sich das erste Mal die Mühe gemacht hat, bis in die Gegend von jenem Heurigen zu wandern, um wieder etwas Frisches und Unverbrauchtes vor die Linse zu bekommen, sieht er den Jungen öfters. Noch nie hat er ihn abgelichtet. Bisher war es nicht richtig. Heute war es dann soweit.
Forschend und beinahe gierig streicht sein Blick über die Fotos. Während das Zwielicht in der Dunkelkammer seine Falten in weiche tiefe Täler verwandelt und sein Alter unterstreicht, sticht der jugendliche, scharfe Glanz seiner Augen aus seinem Gesicht hervor.
Sie sehen einen Jungen, der gescheitert ist. Nicht, dass man auf den Grund dieses Scheiterns zeigen könnte, nein, es ist die Gesamtheit aller sichtbaren und unsichtbaren Details, die uns einen gebrochenen jungen Mann präsentiert. Daran besteht kein Zweifel. Müsste man es erklären, würde man vielleicht auf die Hände des Jungen verweisen. Wie sie unnatürlich verbraucht und alt aussehen, wie sie vor ihm herabbaumeln in einer grotesken und sichtlich unbequemen Haltung. Oder das derbe Gesicht, dessen Augen und Mund kein Leben beherbergen. Vielleicht ist der Junge krank oder nimmt Drogen. Doch darauf kommt es nicht an, nur darauf, dass der Junge ungewöhnlich ist und natürlich, so natürlich, dass man etwas von dem Leid und den Enttäuschungen, die er durchlebt haben muss, förmlich an und in sich selbst zu spüren vermeint.
Er ist zufrieden, unser Fotograph.

Sorgfältig hängt er die Bilder zum Trocknen auf und kehrt wieder ins Wohnzimmer und zum Sofa zurück. Er holt seine Favoritin aus dem Karton und schlurft ins Schlafzimmer.
Straßenlaternen werfen mildes Licht in den Raum. Es fällt auf das Bett und die darauf aufgeschichteten Kissen und Decken. Doch ist es noch nicht hell genug. Der Fotograph schüttelt mit seiner freien Hand einen der Vorhänge ein Stück weiter auf. So ist es besser, man kann nun beinahe den ganzen Raum sehen. Zusätzlich knipst er noch eine kleine Lampe, die auf einem Sekretär an der dem Fenster gegenüberliegenden Seite steht, ein.
Mit Bewegungen, die seine Hände seit unzähligen Jahren unzählige Male vollführt haben, befestigt er die Kamera auf einem Stativ, das er schon vor Tagen dort aufgestellt hat. Dann blickt er durch den Sucher und justiert das Stativ nach. Bei alledem ist er vorsichtig. Nicht wieder fallen lassen!, mahnt er sich. Drei Wochen musste er warten und er hatte die Zeit genutzt, das Notwendigste vorzubereiten. Wenige Kleinigkeiten sind noch zu erledigen und unser Fotograph macht sich geschäftig an die Arbeit. Ein plötzlicher Eifer scheint von ihm Besitz ergriffen zu haben und beschleunigt seine Bewegungen, macht sie geschmeidiger.
Die Wohnungstür ist nicht abgesperrt sondern angelehnt, dessen hat er sich gerade versichert. Es würde nur Probleme machen und deshalb hat er sie einen Spalt weit offen gelassen. Man muss es niemandem schwer machen, die Dinge waren doch ohnehin schon kompliziert genug, findet er.
Im Badezimmer flammt eine grelle Neonröhre auf. In ihrem bläulich-kalten Licht zieht sich der Fotograph die Hose aus, schlüpft in eine Windel und zieht die Hose wieder an. Bei der Windel handelt es sich um eine für Erwachsene, für Inkontinente. Zwar ist er nicht inkontinent und seit beinahe zwei Tagen hat er nichts mehr gegessen, seit heute Morgen auch nichts mehr getrunken - doch man kann nie wissen, nicht wahr? Unser Fotograph überantwortet sich zwar gern seinen Sinnen, nicht aber dem Zufall.
Gewissenhaft prüft er, ob alles so sitzt, wie er sich das vorstellt und macht zur Kontrolle ein paar Schritte. Passabel, nicht perfekt, aber passabel, findet er.
Er tritt an das Medizinschränkchen und öffnet die verspiegelte Tür. Ungewöhnlich leer ist es, bis auf ein paar Pflaster und Standard-Präparate, wie man sie in jedem Haushalt finden kann, befindet sich nur noch ein braunes Röhrchen darin. Genau danach greift er nun und schraubt den Deckel ab um sich anschließend den Inhalt in die Handkuhle zu leeren.
In zwei Etappen spült er die Tabletten mit ein paar Schlucken warmen Wassers aus dem Zahnputz-Becher hinunter. Der metallische Geschmack lässt seine Augen tränen. Das leere Fläschchen stellt er wieder in das Medizinschränkchen und schließt die Tür.
Für einen kurzen Moment blickt er in sein Spiegelbild. Dabei denkt er über nichts Bestimmtes nach, auch empfindet er nichts Besonderes. Mit nüchternem Blick mustert er einfach dieses Gesicht, das er ein Leben lang immer nur hinter einer Kamera versteckt hat.
Doch die Zeit drängt, der Fotograph löscht das Licht im Badezimmer und kehrt zurück ins Schlafzimmer.
Hölzern legt er sich auf sein Bett und zieht sich mühsam in eine angenehme Position, die Kamera ist dabei genau auf ihn gerichtet. Er streicht sich nicht die Falten auf seiner Weste und seiner Hose glatt. Nein, das wäre Betrug. Das ist nicht seine Art, den Sinnen in ihr Werk zu pfuschen.
Vorsichtig legt er den vorbereiteten Selbstauslöser neben seine Hüfte und hält die andere Hand, in der nun ein massiver Briefbeschwerer aus Kupfer liegt, darüber. Seine Hand zittert dabei nicht und einen Moment wundert der Fotograph sich darüber, wie natürlich ihm die Situation vorkommt und wie er - sollte es überhaupt passiert sein - jemals an seinem Vorhaben zweifeln konnte.
Doch dieser Gedanke überkommt ihn nur einen Augenblick. Schon kreist der nächste um den Briefbeschwerer. Lange wird es nicht dauern, denkt er und hört sein Herz dabei noch regelmäßig gegen seine Brust schlagen. Während er auf dieses Pochen horcht fragt er sich gleichzeitig, was wohl mit seinen Bildern passieren wird? Archiviert man sie? Oder werden sie versteigert, verkauft, vernichtet? Eigentlich kümmert es ihn nicht, er hat ja bereits ihre Geschichten gelesen.
Weit mehr interessiert ihn, was mit der Kamera in diesem Raum geschehen wird. Ob wohl jemand den Film entwickeln wird, fragt er sich. Und was wird derjenige sehen? Wird diese Person lächeln, sich vor Ekel abwenden? Nun, in welcher Art und auf gleich welchem Weg auch immer: sollte dieses eine, sein letztes Bild jemandem etwas erzählen dürfen, wäre allem Genüge getan.
Dann wäre er zufrieden.
 

Leachim G

Mitglied
Der Moment des Fotographen

Lautlos öffnet sich die Wohnungstür und ein alter Mann betritt den Vorraum. Sein weniges graues Haar trägt er mit Pomade an den Seiten seines Kopfes festgeklatscht. Obwohl man ihm sein Alter ansieht (es möglicherweise sogar höher schätzen würde) wirkt er rüstig und gepflegt. Einzig ein schwaches Zittern scheint seinen Körper schubweise in Bewegung zu bringen, auch seine langen Arme und feingliedrigen Hände, in denen er ein Paket hält, scheint es in seiner Gewalt zu haben. An einem ledernen Band, das der Mann um seine rechte Schulter trägt, hängt eine Kamera. Der Mann ist Fotograph.

Sachte schließt er die Tür hinter sich und begibt sich dann in Richtung Wohnzimmer und dort zum Sofa in der Mitte des Raumes. Seine Schuhe zieht sich der Fotograph nicht aus. Im Gegensatz zu ihm ist die Wohnung in keinem guten Zustand und das Wenige an Schmutz, das er Tag für Tag an den Sohlen seiner Schuhe mit nach Hause bringt, fällt hier kaum auf.
Beim Sofa angekommen, stellt er das Paket auf einen Tisch aus dunklem Holz, der, neben dem Sofa, als einziges Möbelstück in der Mitte des großen Wohnzimmers steht.
Wie auf scheinbar allem in der Wohnung des Fotographen liegt eine zarte Staubschicht auf beidem. Alleinstehend und ohne Haushaltshilfe ist ihm die Pflege seines Heimes in den letzten Jahren sichtbar über den Kopf gewachsen. Zwar liegt nichts sinnlos in den Räumen herum - er ist sehr ordentlich, unser Fotograph - doch ist der Verfall überall sichtbar, wird sichtbar gemacht durch das Licht, das zwischen den halb zugezogenen schweren Vorhängen in die Räume fällt und vom Staub in der Luft zu Lichtbahnen gemacht wird. Doch diese Düsternis und das Flirren des Staubes in der Luft beschäftigen ihn nicht.
Dankbar lässt sich der Fotograph auf das Sofa fallen und gleichzeitig entrinnt den Federn des Möbels und der Lunge des Fotographen ein leises Ächzen. Es war ein anstrengender Tag, anstrengend und nicht sehr ertragreich. Ist es tatsächlich so, fragt sich der Fotograph, dass mit den Jahren die lohnenden Motive weniger werden? Kann das sein? Nicht das erste Mal stellt er sich diese Frage, nein, schon mehrmals - und in den letzten Monaten immer häufiger - kam ihm dieser Gedanke. Und zu Recht erschreckt er ihn. Angenommen, es käme der Tag, an dem er seine Wohnung verließe und in eine Welt hinausträte, die ihm nichts mehr zu bieten hätte oder, noch erschreckender, der er trotz aller Anstrengungen nichts mehr entreißen könnte! Dieser Gedanke macht ihm Angst, und die Ungewissheit über die Antwort lässt ihm eine Gänsehaut sein knochiges Rückgrat hinauf sprießen.
Mit seiner Linken winkt er ab, gerade so, als wolle er diese Gedanken verscheuchen, wie lästige Insekten, die unangenehm nahe am Ohr summen und surren, verjagen.
So beugt er sich nach vorne und dreht das Paket, das er mitgebracht hat, derart, dass er die darauf angebrachten Aufkleber lesen kann. Das Paket ist aus rauem Karton, gelblich wie Nikotinfinger und wird von zwei dicken, kreuzförmig um das Paket gebunden Streifen braunen Paketbandes verschlossen. Der Fotograph stellt es leicht schräg und beginnt, mit einem seiner langen Fingernägel (oh doch, auch diese sind gepflegt) an einem der Klebestreifen herum zu nesteln.
Endlich trennt er ihn durch und widmet sich dem zweiten. Inzwischen hat sich ein warmes Lächeln auf seinem Gesicht ausgebreitet. Gut möglich, dass es nur deshalb so warm wirkt, weil sich das Licht nur schwach zwischen den Vorhängen und durch den staubigen Äther bis zu ihm durchkämpfen kann. Samtig umspielt es seine faltigen Wangen, die Krähenfüße neben seinen glitzernden Augen. Und doch ähnelt er in diesem Moment mehr einem Kind denn einem Greis.
Vorsichtig hebt er den Deckel hoch und setzt ihn sanft neben dem Paket auf dem Tisch ab. Nun faltet er noch dünnes Papier auf die Seite und hebt zwei Stücke Styropor aus dem Karton. Das Lächeln wird zu einem Grinsen, als er sie schließlich sieht: seine Kamera. Seine Favoritin. Die Kamera, die er immer noch an einer Lederschnur um seine Schulter hängen hat, ist nur eines seiner Ersatzgeräte. Selten nur und nie wirklich glücklich mit seiner Entscheidung, arbeitet er mit einer dieser (in seinen Augen) minderen Apparate. Warum nimmt er sie dann überhaupt in die Hand? Er weiß es selbst nicht, die Wahl und die Entscheidung liegt scheinbar nicht bei ihm und in den letzten Wochen gab es nicht einmal eine Alternative.
Die Favoritin musste er nämlich zur Reparatur einschicken, nachdem er sie hatte fallen lassen. Jener Moment war schrecklich für ihn gewesen. Nicht nur seine Lieblingskamera war möglicherweise zerstört, mehr noch war der Fotograph darüber erschrocken, dass seine Hände schuld an dem Missgeschick hatten. Ungläubig blickte er auf sie hinab. Sie zitterten. Gebt mir noch Zeit, flehte er sie an, es ist zu früh. Doch Hände hören einen nicht und so zitterten sie weiter.
Seit diesem Tag fällt dem Fotographen das Zittern häufiger auf, aber er verdrängt es aus seinen Gedanken. Seine Angst darüber darf ihn nicht lähmen und ihn bei seinem Geschäft behindern. Noch nicht.
Nach dem Missgeschick machte er sich mit der defekten Kamera auf den Weg in eines der Fachgeschäfte, die er über die Jahre als seinem Vertrauen halbwegs würdig kennengelernt hatte.
Der Verkäufer, ein junger, dicklicher Mann mit glänzenden Wurstfingern, hielt das Gehäuse mit den Dellen hoch, wendete es unter dem kalten Licht der Neonröhren hin und her und wollte wissen, ob unser Fotograph sich nicht vielleicht eine der neuen digitalen Spiegelreflexkameras ansehen möchte? Einige Modelle seien derzeit im Angebot und schon die kleinen, günstigeren Geräte wären qualitativ sehr ordentlich. Der Fotograph hatte nur ein Lächeln für den jungen Verkäufer übrig, sanft den Kopf geschüttelt und die Reparatur seiner Kamera verlangt.
Nach einem Schulterzucken (wie Sie meinen, bedeutete das) nahm der Verkäufer die Daten auf: Modell, Serien-Nummer, Adresse des Kunden und dessen Namen. Der Fotograph gab ihm die gewünschten Informationen. Wir aber erfahren nichts davon. Sämtliche Informationen über seine Kamera sind irrelevant und zu Adresse und Namen müssen wir nur soviel wissen: seine düster verhangene Wohnung ist sein Eigentum, vor Jahrzehnten geerbt und nur leidlich (wie wir bereits erfahren haben) kümmert er sich um ihre Reinlichkeit. Seinen Namen wiederum braucht niemand zu kennen, geht er doch seit Langem keiner Arbeit nach und auch Freunde hat er keine. Wäre er nicht ab und an zu gesellschaftlichen Kontakten wie diesem gezwungen und wäre das Finanzamt nicht jedes Jahr an seinem nicht unbedeutenden Vermögen interessiert, könnte man davon ausgehen, dass er gar nicht existierte. Die Kamera in der Hand und mit gemächlichem Gang würde er namenlos und von seiner Umwelt unbemerkt - auch unbehelligt - durch seine Tage spazieren.

Natürlich wird er, wie in jenem Fotofachgeschäft, bei allen möglichen Gelegenheiten mit dem Umstand konfrontiert, dass die analoge Fotographie am Ende ihres Lebenszyklus angekommen zu sein scheint. Wenige nur, alte Enthusiasten wie er selbst einer ist und möglicherweise auch noch einige Jüngere, denen ein Bild mehr bedeutet, als einen Knopf zu drücken, das Werk zu betrachten und mit einem weiteren Knopf aus dem Speicher der Kamera und aus dem Gedächtnis des Fotographen zu tilgen, scheinen an dieser Form der Fotographie festzuhalten.
Aber für unseren Fotographen ist das nichts. Das fertige Bild, das ist für ihn das Produkt eines schöpferischen Prozesses, deren erster Schritt die Nutzung seiner Sinne ist. Vielmehr die Gabe, sich von seinen Sinnen benutzen zu lassen! Denn diese eine Wahrheit hat der Fotograph für sich herausgefunden, sie zu irgendeinem Zeitpunkt - wann genau ist das passiert? - wie einen am Wegesrand liegenden Fünf-Euro-Schein entdeckt und aufgehoben: nicht er selbst, also sein körperliches Selbst, ist es, der seine Umgebung sondiert und in dieser beängstigenden Flut an großen und kleinen Möglichkeiten das Motiv heraussucht. Dazu wäre er, wäre niemand in der Lage.
Die Wahrheit ist vielmehr, dass er in jenem unwahrscheinlich geringen Zeitraum, den er an einem beliebigen Platz verbringen mag, niemals auch nur einen Bruchteil dessen erfassen könnte, was ihn umgibt und während er noch dabei ist, zu überlegen ob denn das Licht, ja, auch die Farben und ein Mindestmaß an Dynamik oder Poesie oder was auch immer sich in der vor ihm liegenden Szene verbergen mag, vorhanden ist, vollführen seine Hände einen Bogen aufwärts und drückt sich das kühle Gehäuse seiner Kamera schon an sein Jochbein, löst ein Finger ohne ein Anzeichen von Zweifel den Auslöser und konserviert ein Bild auf Film.
Von zwei Dingen, die einen Fotographen von einem Stümper unterscheiden, ist diese Wahrheit für unseren Fotographen der erste Punkt.
Der zweite ist folgender: der Fotograph wird dieses Bild entwickeln und wird es aufbewahren. Nicht, weil er ein sentimentaler Narr ist. Nein. Weil das Bild gut ist. Weil er seinen Sinnen gestattet hatte, sich einen Teil der Welt auszusuchen und ihr diesen in einem speziellen Moment zu entreißen. Erst hatten sich die Sinne die Gewalt über den Fotographen angeeignet, anschließend einen Abdruck der Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt. Beides ist auf dem Bild zu sehen, lässt man sich ganz und gar darauf ein sogar spüren! Warm vibriert es unter den Fingern, so ein Bild wenn es aus der Entwicklungsflüssigkeit gezogen wird. Da passiert etwas im Kopf. Wahrhaftig sind die Gefühle, die es auslöst wenn man es schafft, es nicht bloß anzugaffen, diesen vulgären und brutalen Akt begeht, der immer mehr zur Mode geworden ist (wie der Fotograph nicht selten bei sich denkt) sondern sich demütig etwas erzählen lässt.
Genau das tut unser Fotograph. Nur aus diesem einen Grund verlässt er Tag für Tag seine Wohnung und kehrt am Abend heim. Nur ein kleines, karges Abendessen gönnt er sich dann - tatsächlich ist er ein sehr hagerer Mann - bevor er sich anschickt, die beengende Dunkelkammer, die an sein Badezimmer angrenzt, zu betreten um sich überraschen zu lassen und dabei in diesem roten Licht wie ein Mittzwanziger, gleich darauf mehr wie neunzig wirkt. Ganz ein Spiegelbild dessen, worauf er gerade blickt. Meist ist er zufrieden.

Behutsam dreht der Fotograph das Gehäuse der Favoritin vor seinem Gesicht. Seine Finger liebkosen das Metall, die kühlen Flächen und sauber gearbeiteten Fugen. Endlich wieder diese Kamera in Händen zu halten beruhigt ihn.
Schließlich legt er sie vorsichtig in das Paket zurück und steht auf, um in die Dunkelkammer zu gehen - er möchte noch den Film der Ersatzkamera entwickeln.
Nutzen wir diese Gelegenheit und betrachten unseren Fotographen ein wenig näher. Dass er gepflegt wirkt, beinahe kahl und schlank ist, haben wir bereits erfahren. Bei näherem Hinsehen entdecken wir aber noch mehr: wie für viele allein stehende Männer scheint auch für ihn das Bügeln der Wäsche nicht notwendig zu sein. Arg zerknittert wachsen die karierten Hemdsärmel aus der abgetragenen Weste hervor, die beige Anzughose - früher zweifellos mit akkurater Bügelfalte versehen - hängt formlos an den dürren Beinen des Mannes herab. Auch sie ist an mehreren Stellen abgewetzt.
Ebenso wenig kann der Eindruck der Rüstigkeit einem genaueren Blick standhalten. Kraftlos scheint die Haut in Falten über seinem Körper zu liegen, sie ist blass und wirkt beinahe durchsichtig. Bedeckt von unzähligen Altersflecken verstärkt sie noch den Eindruck von Verfall, den seine leicht gebückte Gehweise mit den schlurfenden Schritten hervorruft, lässt den Fotographen zerbrechlich und vergänglich wirken. Schubweise durchfährt ihn das kaum sichtbare Zittern wie Schüttelfrost. Alter und Krankheit haben ihn in ihre Mitte genommen.
Davon unbeirrt hält er weiter auf die Dunkelkammer zu und geht an Wänden vorbei, die von der Decke bis zum Boden mit Fotographien behangen sind. Schwarz-weiße Bilder - manche in Rahmen, die meisten jedoch bloß doppelseitigem Klebeband an der Tapete befestigt - die zeigen, was das Auge des Fotographen über die Jahrzehnte geschaut hat.
Kein reißerisches oder dramatisches Motiv findet sich darunter. Es sind stille und intime Momentaufnahmen von Fremden, vom Fremden. Jahrzehntelang hat er beinahe täglich einen Spaziergang ins Unbekannte unternommen um sich später, daheim beim Entwickeln der Bilder, etwas davon zeigen lassen, was er zuvor nicht fähig war, zu sehen. Und noch heute überrascht es ihn regelmäßig, wie fremd und unbekannt ihm vorkommt, was die feuchten Blätter Papier ihm zeigen, wenn er sie zum Trocknen aufhängt.
Letztendlich bekommen die Bilder einen Platz an einer der Wände in der Wohnung oder - wie in den letzten Jahren häufiger - werden in einem der unzähligen Alben oder Ordner abgelegt, die den Gang zum Schlafzimmer säumen. Was ihnen aber allen gemeinsam ist: einmal abgelegt oder aufgehängt würdigt sie der Fotograph keines Blickes mehr. Darin sieht er keine Veranlassung, in dem kurzen Zeitraum zuvor hat er sich doch schon alles zeigen lassen, wofür das Bild steht.
Jetzt steht er in der Dunkelkammer und schließt die Tür hinter sich. Auch hier ist es staubig und er ist nicht glücklich darüber. Doch schafft er es nicht, den Staub draußen zu halten. Ist er doch überall! So lebt er eben mit den unausweichlichen Bildfehlern, die seine Fotographien des öfteren verunstalten, am Ende aber deren Aussage nicht schmälern können.
Mit einer flinken Bewegung entnimmt er seiner Ersatzkamera den Film und beginnt das Handwerk, das seine Sinne nicht beherrschen. Hier drin ist er der Künstler, der Handwerker, konzentriert und erfahren nimmt er sich der Schätze an, die er heute mit nach Hause gebracht hat. Meist geht es ihm nicht schnell genug. Die Zeit, die die Flüssigkeit benötigt, ihm die Bilder aus dem Film zu kondensieren wird ihm jedes Mal zur Ewigkeit. Der Geruch der Chemikalien und das Licht, das alles in einen dämonischen Schimmer hüllt, erwecken eine kindliche Vorfreude in ihm.
Sicher, er kann nicht viel mehr tun als warten. Aber er ist sich bewusst, dass ein kleiner Fehler seinerseits, eine Unachtsamkeit oder die Wahl eines falschen Zeitpunktes, das Ergebnis beeinträchtigen können. Und hier drin ist er auf sich allein gestellt, keine Sinne, die ihm helfend unter die Arme greifen und seine Hände lenken. An diesem Ort zählt nur sein Blick und sein Gefühl, hier ist er der Künstler.
Und ja, natürlich ist er ein Künstler. Hält er nicht am Ende des Tages ein Werk in Händen? Etwas, das er (wenn auch nur bildlich gesprochen) „geschaffen“ hat? Geschaffen oder zumindest dabei mitgeholfen, es in die Welt zu bringen? Durch nichts unterscheidet er sich dadurch vom Bildhauer, vom Maler. Gemeinsam ist ihnen doch auch, dass ihnen bewusst ist, dass nicht der Meissel, auch nicht der Pinsel (oder hier die Kamera) das Werkzeug ist, sondern sie selbst es sind, die zum Werkzeug und zum unwissentlichen (ja, das ist wichtig!) Komplizen ihrer Sinne gemacht werden!
Mag er noch so groß reden, der Künstler, der der Maler (und der Bildhauer und der Fotograph) für seine Aussenwelt auch ist, davon, was er denn gefühlt und gesehen hat, welche Motivation ihn angetrieben hat, den Pinsel mit nervösem Schwung auf die Leinwand zu fetzen - er selbst weiß es besser. Bevor der Prozess beendet ist, hat er keine Ahnung, was ihn erwarten wird. Nur von einer Sache ist er überzeug: er hat etwas anderem gedient. Wird ihm wieder und bis zum Ende dienen. Der Künstler ist nämlich ein glücklicher Diener. Deshalb hat er auch nur eine Sorge, und zwar, dass dieser endliche Körper, diese anfällige Hülle, mit deren Hilfe die Sinne ihr tägliches Wunder vollbringen, einmal aufhört, das Spiel mitzumachen. Und manchmal wird diese Sorge regelrecht zur Angst.
Zum Beispiel dann, wenn die Hände zu zittern beginnen.

Im Leben unseres Fotographen haben sich diese Ängste aber auf einem noch weit dramatischeren Weg einen Platz gesichert. Und zwar in der Form von Krebs. Genau das sei es nämlich, das seine Knochen zerfräße, teilte ihm sein Arzt lapidar bei einem dieser gesellschaftlichen Anlässe, bei dem seinem Namen eine dem Fotographen nicht nachvollziehbare Wichtigkeit innegewohnt hatte, mit. Der Fotograph flehte nicht, er wurde nicht von Angst gelähmt oder ließ sich in sonst einer Weise anmerken, dass er das, was ihm eben gesagt worden war, verstand. Einzig an die Zeit, die ihm noch bleiben und wie er sie nützen würde, dachte er.
An dieses Gespräch denkt er auch jetzt wieder, während er darauf wartet, dass der Film fertig entwickelt ist und er sie vergrößern kann. So ungeduldig er auch ist, er hat gelernt, mit der Zeit, die das Entwickeln benötigt, umzugehen und sie manchmal zu ignorieren und einfach nicht wahrzunehmen. Selten kommen ihm Gedanken über die Vergangenheit. Nur heute ist er nicht ganz bei der Sache, den ganzen Tag schon beschäftigen ihn unerledigte Dinge und unvollständig durchdachte Gedanken.

Fertig. Unser Fotograph hält die frischen Vergrößerungen vor sich und betrachtet sie stumm. Mal hält er sie in Armlänge vor sich hin, dann wieder sieht er sie aus wenigen Zentimetern Entfernung an. All die Details, an die er sich gar nicht erinnern kann - wie sollte das auch möglich sein, belehrt er sich - nimmt er in sich auf.
Hier strahlt das Licht der Mittagssonne, das auf das Haupt des Jungen fällt, der vor einem Heurigen herumlungert. Seit er sich das erste Mal die Mühe gemacht hat, bis in die Gegend von jenem Heurigen zu wandern, um wieder etwas Frisches und Unverbrauchtes vor die Linse zu bekommen, sieht er den Jungen öfters. Noch nie hat er ihn abgelichtet. Bisher war es nicht richtig. Heute war es dann soweit.
Forschend und beinahe gierig streicht sein Blick über die Fotos. Während das Zwielicht in der Dunkelkammer seine Falten in weiche tiefe Täler verwandelt und sein Alter unterstreicht, sticht der jugendliche, scharfe Glanz seiner Augen aus seinem Gesicht hervor.
Sie sehen einen Jungen, der gescheitert ist. Nicht, dass man auf den Grund dieses Scheiterns zeigen könnte, nein, es ist die Gesamtheit aller sichtbaren und unsichtbaren Details, die uns einen gebrochenen jungen Mann präsentiert. Daran besteht kein Zweifel. Müsste man es erklären, würde man vielleicht auf die Hände des Jungen verweisen. Wie sie unnatürlich verbraucht und alt aussehen, wie sie vor ihm herabbaumeln in einer grotesken und sichtlich unbequemen Haltung. Oder das derbe Gesicht, dessen Augen und Mund kein Leben beherbergen. Vielleicht ist der Junge krank oder nimmt Drogen. Doch darauf kommt es nicht an, nur darauf, dass der Junge ungewöhnlich ist und natürlich, so natürlich, dass man etwas von dem Leid und den Enttäuschungen, die er durchlebt haben muss, förmlich an und in sich selbst zu spüren vermeint.
Er ist zufrieden, unser Fotograph.

Sorgfältig hängt er die Bilder zum Trocknen auf und kehrt wieder ins Wohnzimmer und zum Sofa zurück. Er holt seine Favoritin aus dem Karton und schlurft ins Schlafzimmer.
Straßenlaternen werfen mildes Licht in den Raum. Es fällt auf das Bett und die darauf aufgeschichteten Kissen und Decken. Doch ist es noch nicht hell genug. Der Fotograph schüttelt mit seiner freien Hand einen der Vorhänge ein Stück weiter auf. So ist es besser, man kann nun beinahe den ganzen Raum sehen. Zusätzlich knipst er noch eine kleine Lampe, die auf einem Sekretär an der dem Fenster gegenüberliegenden Seite steht, ein.
Mit Bewegungen, die seine Hände seit unzähligen Jahren unzählige Male vollführt haben, befestigt er die Kamera auf einem Stativ, das er schon vor Tagen dort aufgestellt hat. Dann blickt er durch den Sucher und justiert das Stativ nach. Bei alledem ist er vorsichtig. Nicht wieder fallen lassen!, mahnt er sich. Drei Wochen musste er warten und er hatte die Zeit genutzt, das Notwendigste vorzubereiten. Wenige Kleinigkeiten sind noch zu erledigen und unser Fotograph macht sich geschäftig an die Arbeit. Ein plötzlicher Eifer scheint von ihm Besitz ergriffen zu haben und beschleunigt seine Bewegungen, macht sie geschmeidiger.
Die Wohnungstür ist nicht abgesperrt sondern angelehnt, dessen hat er sich gerade versichert. Es würde nur Probleme machen und deshalb hat er sie einen Spalt weit offen gelassen. Man muss es niemandem schwer machen, die Dinge waren doch ohnehin schon kompliziert genug, findet er.
Im Badezimmer flammt eine grelle Neonröhre auf. In ihrem bläulich-kalten Licht zieht sich der Fotograph die Hose aus, schlüpft in eine Windel und zieht die Hose wieder an. Bei der Windel handelt es sich um eine für Erwachsene, für Inkontinente. Zwar ist er nicht inkontinent und seit beinahe zwei Tagen hat er nichts mehr gegessen, seit heute Morgen auch nichts mehr getrunken - doch man kann nie wissen, nicht wahr? Unser Fotograph überantwortet sich zwar gern seinen Sinnen, nicht aber dem Zufall.
Gewissenhaft prüft er, ob alles so sitzt, wie er sich das vorstellt und macht zur Kontrolle ein paar Schritte. Passabel, nicht perfekt, aber passabel, findet er.
Er tritt an das Medizinschränkchen und öffnet die verspiegelte Tür. Ungewöhnlich leer ist es, bis auf ein paar Pflaster und Standard-Präparate, wie man sie in jedem Haushalt finden kann, befindet sich nur noch ein braunes Röhrchen darin. Genau danach greift er nun und schraubt den Deckel ab um sich anschließend den Inhalt in die Handkuhle zu leeren.
In zwei Etappen spült er die Tabletten mit ein paar Schlucken warmen Wassers aus dem Zahnputz-Becher hinunter. Der metallische Geschmack lässt seine Augen tränen. Das leere Fläschchen stellt er wieder in das Medizinschränkchen und schließt die Tür.
Für einen kurzen Moment blickt er in sein Spiegelbild. Dabei denkt er über nichts Bestimmtes nach, auch empfindet er nichts Besonderes. Mit nüchternem Blick mustert er einfach dieses Gesicht, das er ein Leben lang immer nur hinter einer Kamera versteckt hat.
Doch die Zeit drängt, der Fotograph löscht das Licht im Badezimmer und kehrt zurück ins Schlafzimmer.
Hölzern legt er sich auf sein Bett und zieht sich mühsam in eine angenehme Position, die Kamera ist dabei genau auf ihn gerichtet. Er streicht sich nicht die Falten auf seiner Weste und seiner Hose glatt. Nein, das wäre Betrug. Das ist nicht seine Art, den Sinnen in ihr Werk zu pfuschen.
Vorsichtig legt er den vorbereiteten Selbstauslöser neben seine Hüfte und hält die andere Hand, in der nun ein massiver Briefbeschwerer aus Kupfer liegt, darüber. Seine Hand zittert dabei nicht und einen Moment wundert der Fotograph sich darüber, wie natürlich ihm die Situation vorkommt und wie er - sollte es überhaupt passiert sein - jemals an seinem Vorhaben zweifeln konnte.
Doch dieser Gedanke überkommt ihn nur einen Augenblick. Schon kreist der nächste um den Briefbeschwerer. Lange wird es nicht dauern, denkt er und hört sein Herz dabei noch regelmäßig gegen seine Brust schlagen. Während er auf dieses Pochen horcht fragt er sich gleichzeitig, was wohl mit seinen Bildern passieren wird? Archiviert man sie? Oder werden sie versteigert, verkauft, vernichtet? Eigentlich kümmert es ihn nicht, er hat ja bereits ihre Geschichten gelesen.
Weit mehr interessiert ihn, was mit der Kamera in diesem Raum geschehen wird. Ob wohl jemand den Film entwickeln wird, fragt er sich. Und was wird derjenige sehen? Wird diese Person lächeln, sich vor Ekel abwenden? Nun, in welcher Art und auf gleich welchem Weg auch immer: sollte dieses eine, sein letztes Bild jemandem etwas erzählen dürfen, wäre allem Genüge getan.
Dann wäre er zufrieden.
 



 
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