Der Nestbeschmutzer

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Maribu

Mitglied
Der Nestbeschmutzer

Ich beschäftigte mich bereits ein paar Tage damit; selbstverständlich neben der täglichen Arbeit, hatte einige Stichwörter notiert, gedanklich verarbeitet und zu Sätzen formuliert.
Auf einmal hatte ich Bedenken. - Was trieb mich überhaupt dazu, mich während der letzten Besprechung auf Abteilungsleiter-Ebene so festzulegen? War es eine spontane Reaktion oder war es mehr?

Mein Verhältnis zum neuen Geschäftsführer war zwar gespannt und oft genug spürte er, dass mir seine selbstherrlichen Entscheidungen nicht gefielen. Als eine Frage nach irgendwelchen Problemen an mich gerichtet wurde, erwiderte ich, dass ich nicht jetzt im kleinen Kreis darüber reden wollte.
Wenn er nichts dagegen hätte, würde ich anlässlich unseres traditionellen Umtrunks zum Jahreswechsel vor der gesamten Belegschaft etwas vorbringen.
Je länger ich darüber nachdachte, umso verrückter erschien mir der Gedanke. Früher wechselte ich die Firmen alle vier bis fünf Jahre. Den letzten "Absprung" hatte ich mit
neununddreißig Jahren gewagt und den desolaten Zustand im Personalwesen dieser Firma wieder in Ordnung gebracht.
Etwa ein Drittel unserer sechzigköpfigen Belegschaft waren Japaner. Sie arbeiteten überwiegend als Techniker, aber einige waren auch in Schlüsselpositionen im kaufmännischen Bereich tätig.
Sie blieben unter sich und hatten ein anderes Verhältnis zur Firma als die Deutschen. Sie waren es gewohnt, die angeordneten Arbeiten widerspruchslos auszuführen. Der ihnen zustehende Urlaub wurde meistens nicht voll in Anspruch genommen. Aber auch innerhalb des deutschen Personals bildeten sich Gruppen. Das Betriebsklima war nicht besonders gut. Die Beschwerden der Mitarbeiter über mangelnde Information häuften sich bei mir, da die Gründung eines Betriebsrates von der japanischen Geschäftsleitung verhindert wurde.
Die einzigen Höhepunkte waren für mich Personaleinstellungen.
Aber die Lage auf dem Arbeitsmarkt war nicht so rosig, so dass die Fluktuationsrate bei uns gering war. Wer die dreimonatige Probezeit überstand, der blieb für länger.
Ich war also unzufrieden! Konnte ich mir das überhaupt erlauben? Ich war sechsundvierzig Jahre alt, hatte eine leitende Position, eine Frau und zwei Kinder. Wenn ich die Stellenanzeigen durchblätterte, wurden zwar Mitarbeiter mit langjähriger Erfahrung gesucht, aber sie mussten jung und vor allen Dingen dynamisch sein. Was war das überhaupt: Dynamik?
Hatte ich nicht in den letzten Jahren "auf dem Weg nach oben"
schon so viel an Substanz verloren, dass ich jetzt Angst vor meiner eigenen Courage hatte?
Ich beschloss, den letzten Arbeitstag des Jahres an mich herankommen zu lassen, ohne, dass ich mich weiter damit beschäftigte. Wenn es sich ergeben würde, hätte ich schon den Mut, das Wort zu ergreifen. Einige Punkte hatte ich mir ja bereits eingeprägt, den Rest könnte ich improvisieren.
Ergab sich diese Gelegenheit nicht, würde ich mich nur bei einigen blamieren, den Mund zu voll genommen zu haben. Die anderen erwarteten ja nichts von mir!

Wie in den vergangenen Jahren trafen wir uns im Großraumbüro der Verkaufsabteilung. Die Chefsekretärin kümmerte sich wie immer um den Sekt, den sie auf die Gläser verteilte, die auf dem Mitteltresen standen.
Bevor unser Geschäftsführer den Lagebericht gab, wurde das obligate Gruppenfoto für die weltweite Zeitschrift unserer japanischen Muttergesellschaft aufgenommen. Selbstverständlich
- wie immer- nur strahlende Gesichter!
Dann Yuji Kawasaka in akzentfreiem Deutsch:
"Liebe Mitarbeiter! Ich will mich heute kurz fassen. Jeder denkt schon an Silvester und ans Feiern." Er zeigte ein gezwungenes Lächeln. "Im großen Ganzen bin ich mit dem abgelaufenen Jahr zufrieden. Wir konnten unseren Umsatz nochmals um acht Prozent steigern und den Marktanteil unserer Cameras in Europa verteidigen." Er machte eine kurze Pause.
"Trotzdem ist die Gewinnsituation nicht besser geworden. Unsere Konkurrenten versuchen sich gegenseitig durch "Schnäppchen-Angebote" zu unterbieten. Ich habe neben dem Dank für Ihre Mitarbeit eine Bitte: Wir müssen uns bemühen, die Kosten zu senken! Sonst können wir auf Dauer nicht bestehen! Ich möchte an Sie alle appellieren, im nächsten Jahr kostenbewusster zu arbeiten! - Wohlsein!" Er führte sein Glas zum Mund, und wir machten es ihm nach, bevor applaudiert wurde.
Dann begann sofort ein wildes Durcheinander-Gemurmel, Zigaretten wurden angezündet, es wurde gelacht, Sekt wurde nachgeschenkt. Ich hatte mich vorsorglich an eine Wand gelehnt, neben mir ein Aktenbord, auf das ich mein Glas abgestellt hatte, mich aber bereits damit abgefunden, dass ich wohl nicht zum Zuge kommen würde. Da trat unser Geschäftsführer erneut einen Schritt vor, klopfte mit einem Kugelschreiber gegen sein Glas und sagte grinsend: "Ich hätte es bald vergessen: Herr Kerckhoff hat noch etwas auf dem Herzen!" Die Blicke richteten sich jetzt auf mich und es gab kein Zurück! Ich atmete tief durch und begann:

"Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie sind sicherlich überrascht, dass jemand aus dem Mitarbeiterkreis das Wort ergreift. Sie kennen mich eigentlich nur als Personalleiter, der die Lohnsteuerkarten erhält und an den bei Arbeitsunfähigkeit die "gelbe Karte" geschickt wird."
Ich wollte witzig sein, spürte aber sofort, dass es nicht gelungen war und berichtigte: "Ich meine natürlich den Krankenschein! - Aber es sind auch schon Kollegen mit anderen Dingen zu mir gekommen. Es gibt Mitarbeiter, die über Informationsmangel und Kommunikations-Schwierigkeiten klagen, und ich bin der Meinung, dass man am letzten Arbeitstag dieses Jahres darüber sprechen sollte."
Ich spürte, dass meine Worte bisher keinen richtigen Schwung hatten, denn einige begannen bereits desinteressiert mit einer Unterhaltung. Ich wurde deshalb lauter:
"Wir sollten nicht immer nur zufrieden für die Zeitschrift
'Optical-News' in die Linse lächeln, als wenn alles in Ordnung
wäre, wir sollten ruhig einmal die Zähne zeigen und sagen ,wo uns der Schuh drückt! Es wird über schlechte Organisation gemeckert und hinter der vorgehaltenen Hand über die Firma geschimpft. Aber wer ist denn die Firma? Die Firma sind wir doch alle! Und wir können nur etwas ändern, wenn wir offen darüber reden! In den letzten Monaten ist es aber so, dass jeder nur vor sich hinwurstelt, mit Scheuklapppen vor den Augen, ohne über den Schreibtisch hinaus zu denken und immer nach dem Motto: 'Organisation ist, wenn es trotzdem klappt'! Es läuft vieles falsch, weil einer den anderen nicht informiert. Das vergiftet aber das Betriebsklima, von dem viele sagen, dass es schlecht sei. Ich möchte noch weitergehen: Wir haben überhaupt keins!"
Ich machte eine kurze Pause und musterte ihre überraschten, verwunderten oder leicht belustigten Gesichter. Interessiert waren sie jetzt alle! Selbst die kleine japanische Gruppe, die anfangs noch störend dazwischen geredet hatte, war still und blickte zu mir herüber.Das motivierte mich, und ich sagte beschwörend: "Und den Kollegen, die ursprünglich als leitende Angestellte eingestellt wurden, möchte ich zurufen: Ein bisschen mehr Mut! Lassen Sie sich nicht zu 'Ja-Sagern' degradieren! - Und der Geschäftsleitung möchte ich empfehlen - bevor endgültige Entscheidungen getroffen werden - den Rat der Leitenden einzuholen oder diese Positionen im nächsten Jahr mit einfachen Sachbearbeitern zu besetzen! Das wäre denn wenigstens ein erster Schritt, die Kosten zu senken!"
Ich nahm schnell mein Sektglas in die Hand und rief:
"Prost Neujahr!"
Einen Moment war es beängstigend still. Keine Hand rührte sich. Sie starrten mich an wie einen Kranken. Dann griff man zögernd zu den Sektgläsern, begann sich in Gruppen zu formieren und Deutsch und Japanisch ging schnattern ineinander über. Unser Geschäftsführer würdigte mich keines Blickes. Sein Gesicht zeigte wie immer asiatische Gelassenheit. Für ihn war ich nichts weiter als ein Nestbeschmutzer!
Nur einer löste sich aus der Menge, kam mir mit strahlendem Gesicht entgegen, prostete mir auf halbem Wege bereits begeistert zu. Es war Wiegand aus der Export-Abteilung und ich kannte auch den Grund: Es war sein letzter Arbeitstag, er hatte gekündigt. Obwohl mir vollkommen klar war, dass ich mich zwischen alle Stühle gesetzt hatte, mich selbst vom leitenden zum "leidenden" Angestellten degradiert hatte, empfand ich etwas wie ein Glücksgefühl. Ich spürte, dass ich lebte! Gleich im neuen Jahr werde ich ein Stellengesuch aufgeben: 'Leitender Angestellter, sechsundvierzig Jahre jung,
dynamisch, sucht ...'
 
Das ist ein Blick auf die Arbeitswelt, wie ich ihn hier gern öfter hätte: an den realen Betriebsverhältnissen orientiert, gut durchgestaltet, auf billige Effekte verzichtend, die nur dem Unterhaltungsbedürfnis eines Lesers dienen sollen. Der Text scheint zu sagen: So und nicht anders sind die Verhältnisse heute, beschäftige dich mal damit und denke darüber nach, wie du das findest ...

Im vorletzten Absatz fehlt ein Buchstabe - es müsste "schnatternd heißen.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

valcanale

Mitglied
Hallo Maribu,
der Text hat mich sehr angesprochen, direkt aus dem Leben gegriffen.
Ist ja vielleicht genau das, was Leser möchten, - nicht lange über Form und Darstellung nachdenken, einfach nur lesen und mitempfinden. Das machts dann auch aus.
Liebe Grüße
Valcanale
 

Maribu

Mitglied
Der Nestbeschmutzer

Ich beschäftigte mich bereits ein paar Tage damit; selbstverständlich neben der täglichen Arbeit, hatte einige Stichwörter notiert, gedanklich verarbeitet und zu Sätzen formuliert.
Auf einmal hatte ich Bedenken. - Was trieb mich überhaupt dazu, mich während der letzten Besprechung auf Abteilungsleiter-Ebene so festzulegen? War es eine spontane Reaktion oder war es mehr?

Mein Verhältnis zum neuen Geschäftsführer war zwar gespannt und oft genug spürte er, dass mir seine selbstherrlichen Entscheidungen nicht gefielen. Als eine Frage nach irgendwelchen Problemen an mich gerichtet wurde, erwiderte ich, dass ich nicht jetzt im kleinen Kreis darüber reden wollte.
Wenn er nichts dagegen hätte, würde ich anlässlich unseres traditionellen Umtrunks zum Jahreswechsel vor der gesamten Belegschaft etwas vorbringen.
Je länger ich darüber nachdachte, umso verrückter erschien mir der Gedanke. Früher wechselte ich die Firmen alle vier bis fünf Jahre. Den letzten "Absprung" hatte ich mit
neununddreißig Jahren gewagt und den desolaten Zustand im Personalwesen dieser Firma wieder in Ordnung gebracht.
Etwa ein Drittel unserer sechzigköpfigen Belegschaft waren Japaner. Sie arbeiteten überwiegend als Techniker, aber einige waren auch in Schlüsselpositionen im kaufmännischen Bereich tätig.
Sie blieben unter sich und hatten ein anderes Verhältnis zur Firma als die Deutschen. Sie waren es gewohnt, die angeordneten Arbeiten widerspruchslos auszuführen. Der ihnen zustehende Urlaub wurde meistens nicht voll in Anspruch genommen. Aber auch innerhalb des deutschen Personals bildeten sich Gruppen. Das Betriebsklima war nicht besonders gut. Die Beschwerden der Mitarbeiter über mangelnde Information häuften sich bei mir, da die Gründung eines Betriebsrates von der japanischen Geschäftsleitung verhindert wurde.
Die einzigen Höhepunkte waren für mich Personaleinstellungen.
Aber die Lage auf dem Arbeitsmarkt war nicht so rosig, so dass die Fluktuationsrate bei uns gering war. Wer die dreimonatige Probezeit überstand, der blieb für länger.
Ich war also unzufrieden! Konnte ich mir das überhaupt erlauben? Ich war sechsundvierzig Jahre alt, hatte eine leitende Position, eine Frau und zwei Kinder. Wenn ich die Stellenanzeigen durchblätterte, wurden zwar Mitarbeiter mit langjähriger Erfahrung gesucht, aber sie mussten jung und vor allen Dingen dynamisch sein. Was war das überhaupt: Dynamik?
Hatte ich nicht in den letzten Jahren "auf dem Weg nach oben"
schon so viel an Substanz verloren, dass ich jetzt Angst vor meiner eigenen Courage hatte?
Ich beschloss, den letzten Arbeitstag des Jahres an mich herankommen zu lassen, ohne, dass ich mich weiter damit beschäftigte. Wenn es sich ergeben würde, hätte ich schon den Mut, das Wort zu ergreifen. Einige Punkte hatte ich mir ja bereits eingeprägt, den Rest könnte ich improvisieren.
Ergab sich diese Gelegenheit nicht, würde ich mich nur bei einigen blamieren, den Mund zu voll genommen zu haben. Die anderen erwarteten ja nichts von mir!

Wie in den vergangenen Jahren trafen wir uns im Großraumbüro der Verkaufsabteilung. Die Chefsekretärin kümmerte sich wie immer um den Sekt, den sie auf die Gläser verteilte, die auf dem Mitteltresen standen.
Bevor unser Geschäftsführer den Lagebericht gab, wurde das obligate Gruppenfoto für die weltweite Zeitschrift unserer japanischen Muttergesellschaft aufgenommen. Selbstverständlich
- wie immer- nur strahlende Gesichter!
Dann Yuji Kawasaka in akzentfreiem Deutsch:
"Liebe Mitarbeiter! Ich will mich heute kurz fassen. Jeder denkt schon an Silvester und ans Feiern." Er zeigte ein gezwungenes Lächeln. "Im großen Ganzen bin ich mit dem abgelaufenen Jahr zufrieden. Wir konnten unseren Umsatz nochmals um acht Prozent steigern und den Marktanteil unserer Cameras in Europa verteidigen." Er machte eine kurze Pause.
"Trotzdem ist die Gewinnsituation nicht besser geworden. Unsere Konkurrenten versuchen sich gegenseitig durch "Schnäppchen-Angebote" zu unterbieten. Ich habe neben dem Dank für Ihre Mitarbeit eine Bitte: Wir müssen uns bemühen, die Kosten zu senken! Sonst können wir auf Dauer nicht bestehen! Ich möchte an Sie alle appellieren, im nächsten Jahr kostenbewusster zu arbeiten! - Wohlsein!" Er führte sein Glas zum Mund, und wir machten es ihm nach, bevor applaudiert wurde.
Dann begann sofort ein wildes Durcheinander-Gemurmel, Zigaretten wurden angezündet, es wurde gelacht, Sekt wurde nachgeschenkt. Ich hatte mich vorsorglich an eine Wand gelehnt, neben mir ein Aktenbord, auf das ich mein Glas abgestellt hatte, mich aber bereits damit abgefunden, dass ich wohl nicht zum Zuge kommen würde. Da trat unser Geschäftsführer erneut einen Schritt vor, klopfte mit einem Kugelschreiber gegen sein Glas und sagte grinsend: "Ich hätte es bald vergessen: Herr Kerckhoff hat noch etwas auf dem Herzen!" Die Blicke richteten sich jetzt auf mich und es gab kein Zurück! Ich atmete tief durch und begann:

"Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie sind sicherlich überrascht, dass jemand aus dem Mitarbeiterkreis das Wort ergreift. Sie kennen mich eigentlich nur als Personalleiter, der die Lohnsteuerkarten erhält und an den bei Arbeitsunfähigkeit die "gelbe Karte" geschickt wird."
Ich wollte witzig sein, spürte aber sofort, dass es nicht gelungen war und berichtigte: "Ich meine natürlich den Krankenschein! - Aber es sind auch schon Kollegen mit anderen Dingen zu mir gekommen. Es gibt Mitarbeiter, die über Informationsmangel und Kommunikations-Schwierigkeiten klagen, und ich bin der Meinung, dass man am letzten Arbeitstag dieses Jahres darüber sprechen sollte."
Ich spürte, dass meine Worte bisher keinen richtigen Schwung hatten, denn einige begannen bereits desinteressiert mit einer Unterhaltung. Ich wurde deshalb lauter:
"Wir sollten nicht immer nur zufrieden für die Zeitschrift
'Optical-News' in die Linse lächeln, als wenn alles in Ordnung
wäre, wir sollten ruhig einmal die Zähne zeigen und sagen ,wo uns der Schuh drückt! Es wird über schlechte Organisation gemeckert und hinter der vorgehaltenen Hand über die Firma geschimpft. Aber wer ist denn die Firma? Die Firma sind wir doch alle! Und wir können nur etwas ändern, wenn wir offen darüber reden! In den letzten Monaten ist es aber so, dass jeder nur vor sich hinwurstelt, mit Scheuklapppen vor den Augen, ohne über den Schreibtisch hinaus zu denken und immer nach dem Motto: 'Organisation ist, wenn es trotzdem klappt'! Es läuft vieles falsch, weil einer den anderen nicht informiert. Das vergiftet aber das Betriebsklima, von dem viele sagen, dass es schlecht sei. Ich möchte noch weitergehen: Wir haben überhaupt keins!"
Ich machte eine kurze Pause und musterte ihre überraschten, verwunderten oder leicht belustigten Gesichter. Interessiert waren sie jetzt alle! Selbst die kleine japanische Gruppe, die anfangs noch störend dazwischen geredet hatte, war still und blickte zu mir herüber.Das motivierte mich, und ich sagte beschwörend: "Und den Kollegen, die ursprünglich als leitende Angestellte eingestellt wurden, möchte ich zurufen: Ein bisschen mehr Mut! Lassen Sie sich nicht zu 'Ja-Sagern' degradieren! - Und der Geschäftsleitung möchte ich empfehlen - bevor endgültige Entscheidungen getroffen werden - den Rat der Leitenden einzuholen oder diese Positionen im nächsten Jahr mit einfachen Sachbearbeitern zu besetzen! Das wäre denn wenigstens ein erster Schritt, die Kosten zu senken!"
Ich nahm schnell mein Sektglas in die Hand und rief:
"Prost Neujahr!"
Einen Moment war es beängstigend still. Keine Hand rührte sich. Sie starrten mich an wie einen Kranken. Dann griff man zögernd zu den Sektgläsern, begann sich in Gruppen zu formieren und Deutsch und Japanisch ging schnatternd ineinander über. Unser Geschäftsführer würdigte mich keines Blickes. Sein Gesicht zeigte wie immer asiatische Gelassenheit. Für ihn war ich nichts weiter als ein Nestbeschmutzer!
Nur einer löste sich aus der Menge, kam mir mit strahlendem Gesicht entgegen, prostete mir auf halbem Wege bereits begeistert zu. Es war Wiegand aus der Export-Abteilung und ich kannte auch den Grund: Es war sein letzter Arbeitstag, er hatte gekündigt. Obwohl mir vollkommen klar war, dass ich mich zwischen alle Stühle gesetzt hatte, mich selbst vom leitenden zum "leidenden" Angestellten degradiert hatte, empfand ich etwas wie ein Glücksgefühl. Ich spürte, dass ich lebte! Gleich im neuen Jahr werde ich ein Stellengesuch aufgeben: 'Leitender Angestellter, sechsundvierzig Jahre jung,
dynamisch, sucht ...'
 

Maribu

Mitglied
Lieber Arno Abendschön,

es freut mich, dass dir dieser Text gefallen hat.
Danke für den Hinweis auf das fehlende "d"!

Ich wünsche frohe Weihnachten
und viel Schaffenskraft für 2015!
LG. Maribu
 

Wipfel

Mitglied
Und jetzt kommt es darauf an, wie der Geschäftsführer reagiert. Daumen hoch heißt: Neues Projekt Prozessoptimierung. Projektleiter = Protagonist. Daumen runter heißt: Karriereknick. "Hätten Sie vorher mit mir abstimmen sollen."

Ja, die Geschichte ist sauber geschrieben, ohne Firlefanz. Gern gelesen.

Grüße von wipfel
 



 
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