MarleneGeselle
Mitglied
Der Neujahrsbaum
Winzige Händchen klammerten sich an Uromas Raumanzug fest, der kleine Kopf hatte es sich auf der Schulter bequem gemacht. Neugierige Augen beobachteten alles durch die hochgeschobene Sichtscheibe des winzigen Helmes.
"Mariposa, Schätzchen, guck nur, was der Onkel Frederick macht. Schau, gleich pflanzt er deinen Bambus." Uroma Charlotte drückte das erst vier Tage alte Baby liebevoll an sich, wies mit der Linken auf den jungen Mann.
Frederick Danword, wie alle anderen auch im Raumanzug, griff brav zur Schaufel. Die Mitglieder des Clans hatten sich in der noch nicht fertig gestellten Versuchskuppel der Mondkolonie versammelt, um am Neujahrstag die jungen Bäume zu pflanzen, die man vom Agraramt gekauft und festlich geschmückt über Weihnachten in der Wohnung aufgestellt hatte. Hinterher, wenn der lunaren Tradition Genüge getan war, wollte man einen Ausflug auf die Mondoberfläche machen.
Der junge Mann hob ein kleines Loch aus und pflanzte die Bambusschösslinge ein. Werkzeug und Verpackung reichte er an den Androiden weiter, der alles auf dem mitgeführten Transportkarren verstaute. Der Astro-Agrartechnologe erteilte dem stählernen Diener den Befehl, mit dem Pflanzen der restlichen Bäume fortzufahren. Es war 'seine' Kuppel, hier war er der Herr über Bäume, Flüsse und die Androiden.
Mit der Eleganz eines spanischen Granden verneigte er sich zum Abschluss der kleinen Zeremonie vor Mariposa. "Befehl ausgeführt, Fräulein Danword. Ihr Bambus steht, wächst und gedeiht."
Die Umstehenden lachten schallend.
"Was wollt ihr eigentlich? Gelernt ist schließlich gelernt. Nach drei Jahren Studium kann man ja wohl davon ausgehen, dass ich mit der Schaufel umgehen kann."
"Ich rede von deinem schauspielerischen Talent. Mit Druckanzug und Schaufel hast du ausgesehen wie der Mondmann. Wir hätten das Ganze aufnehmen und ans Fernsehen verkaufen sollen."
"Untersteht euch! Solche Spitznamen wird man erst mit hundert wieder los."
Louisa Danword, die stolze Mama, griff zum Gießschlauch. Stellvertretend für ihre kleine Tochter goss sie die Bambusschösslinge an und steckte die kleine Tafel mit Mariposas Namen in die Erde.
"Endstation Schleuse, alles aussteigen." Frederick stoppte den Schienenwagen, ließ alle aussteigen. Wie schon am Morgen verabredet, benutzten die älteren Familienmitglieder die Hauptschleuse, um sich draußen ein wenig umzuschauen. Die jüngeren hatten andere Pläne, wollten noch einmal zurück in die Kuppel.
Timmy war schon Monate nicht mehr hier gewesen, Louisa war heute zum ersten Mal in der Versuchskuppel, ließen sich alles erklären: die Solarzellen-Schattierungs-Paneele; das noch unerprobte Wasserkreislaufsystem für den kleinen Fluss, an dessen Ufer sie vor einer halben Stunde erst ihre Neujahrsbäume gepflanzt hatten.
"Wenn die Sache wirklich klappt, wenn wir es wirklich schaffen, die neue Kuppel zu hundert Prozent autark zu betreiben", seufzte Frederick, "dann haben wir es geschafft."
Louisa und Timmy verstanden ihren Bruder. Frederick, als jüngstes der Danword-Kinder bereits auf dem Mond geboren, litt wie viele darunter, dass die Luna-Europa-Kolonie immer noch von der Erde abhängig war.
Als echtes Mondkalb wünschte er sich nichts sehnlicher, als seine Heimat völlig unabhängig von der Erde zu machen, in jeder Hinsicht unabhängig. Keine überteuerten Lebensmittelimporte von der Erde; keine Halbfertigwaren zweifelhafter Qualität, für die sich die Erdschnecken mit seltenen Bodenschätzen bezahlen ließen; eine eigene Regierung statt der zentralen Kolonialverwaltung, die in den insgesamt sechs Mondkolonien und ihren Bewohnern nur Ressourcen sah, die es billigstmöglich auszubeuten galt.
"Wann bekommt ihr sichere Ergebnisse?" Timmy, als Architekt und Stadtplaner auch am Projekt beteiligt, teilte die Leidenschaft seines Bruders. Sobald die Kuppel bepflanzt war, wenn sichergestellt war, dass das System völlig autark arbeitete, konnten die ersten Siedler in die Speichenräder einziehen, wie man die Gebäude wegen des Grundrisses nannte.
Ein anderer Aspekt kam noch hinzu: Die Regeln, die für ein geschlossenes System galten, galten auch für andere entsprechende Systeme. Konnte eine Kuppel autark arbeiten, konnte es bald der komplette Mond, sammelte man genug Wissen, mit den immer gravierender werdenden Problemen auf Erden fertig zu werden. Umweltverschmutzung, Raubbau und Bevölkerungsexplosion entwickelten sich langsam aber sicher zu biblischen Plagen.
"In drei Wochen sind wir mit dem Pflanzen fertig, in einem halben Erdjahr wissen wir über den Wachstumszyklus Bescheid. Ihr wisst ja, die Pflanzen wachsen bei uns anders als auf der Erde. Und wir haben sieben neue Sorten dabei. Der alte Jacobsen meint, dass wir zwei volle Erdjahre abwarten müssen, um auf der sicheren Seite zu sein. Auf die Daten sind wir angewiesen, sonst haben wir später, wenn es mal richtig losgeht mit dem Umbau der alten Kuppeln, nur grobe Schätzwerte."
Timmy stupste seinen Bruder in die Seite, deutete auf die Schwester. Louisa tat so, als bemerke sie nichts, hielt die schlafende Mariposa im Arm, schaukelte sie ein wenig.
"Frei wie der Vogel im Wind.
Unter den Kuppeln der göttlichen Mondin.
Dem Himmel nahe.
Die irdischen Fesseln abgestreift."
Die jungen Männer grinsten.
"Wie du hörst, geliebte Schwester, freuen wir uns jetzt schon drauf, für eine Weile dem Auge des Gesetzes im Allgemeinen, unserer strengen Mama - und nicht zuletzt deiner spitzen Zunge - zu entwischen", ergänzte Frederick vergnügt.
"Ein bisschen was Rauchen, ein nettes Wässerchen brennen, eine schöne kleine Wochenendrauferei", vervollständigte Timmy den Wunschzettel seines Bruders. "Was sagst du dazu, Louisa?"
"Was ich dazu sage, Frederick?" Die junge Frau schüttete sich aus vor Lachen. "Dass du offensichtlich noch nicht auf dem neuesten Stand bist, kleiner Bruder."
"Wieso sind wir nicht auf dem neuesten Stand? Was wissen wir nicht, was wir wissen sollten? Raus damit."
"Soll das heißen, dass du ebenfalls in die neue Kuppel ziehst?"
Auch Timmy, der Zweitgeborene, verstand nicht, was seine Schwester meinte. Die neue Kuppel bekam zwar ein schönes großes Verwaltungsgebäude. Aber dieser Bau sollte in frühestens zwei Jahren genutzt werden. Warum hatten es das Ermittlungsamt und die anderen Behörden so eilig? Die Kriminalität auf dem Mond war, im Vergleich zur Erde, lächerlich gering, der Amtsschimmel gezähmt.
"Zusammen mit den ersten Siedlern", bestätigte Louisa. "Die Entscheidung ist über Weihnachten gefallen. Mein Chef kam gestern nicht nur zum Gratulieren, er bot mir auch die Stelle an, lieber Kerl. Das Ermittlungsamt ist vom ersten Tag an dabei. Sogar ein Miniknast wird eingerichtet. Jetzt können wir eventuelle Fehler korrigieren, später kaum noch. Wenn wir uns weigern, Erdenknackis in Pension zu nehmen, können wir unsere Kriminellen auch nicht mehr zur Erde schicken."
"Am Rande der Einsamkeit.
Die Welten und Monde zu Brüdern.
Der Arm des Gesetzes."
"Ihr beiden tut mir fast Leid", kommentierte Louisa lachend das Klagegedicht. "Aber wirklich nur fast."
Die kahle Ebene bildete einen scharfen Kontrast zu dem riesigen Krater Copernicus und auch zu den Kuppeln der Luna-Europa-Kolonie. Die Versuchskuppel war schwächer erleuchtet als ihre Nachbarn, entsprechend gut von ihnen zu unterscheiden.
"Schaut nach gar nichts Besonderem aus", kommentierte Timmy das Bild. "Schade, dass wir gerade Terminator-Phase haben. Zwischen hell und dunkel kommt der schönste Bau nicht zur Geltung."
"Wir können ja in vierzehn Tagen zur vollen Sonne wiederkommen", tröstete Louisa den jungen Mann. "Dann machen wir auch neue Bilder für Oma. Eure Kuppel - das wird ein Fest für sie."
Aus dem Mikro des winzigen Raumanzugs drangen nörgelnde Laute. Mariposa war wieder wach.
"Hunger oder volle Windel?"
"Klingt nach voller Windel. Nur ein paar Minuten noch; wir sollten wieder nach Hause. Futter braucht die Kleine auch bald."
"Guck mal, Mariposa", Timmy ließ sich das Baby geben, hielt die Kleine ein Stück hoch, um ihr bessere Sicht verschaffen. "Luna-Europa, da sind wir zu Hause. Und da oben - wies mit der Linken zur Erdkugel hin - da wohnt Uroma Charlotte. Da fliegst du bald mit deiner Mama hin. Kannst da überall rumkrabbeln und das Erdenleben unsicher machen. Kannst die Uroma auf Trab halten. Und deine Mama lacht sich was Neues an."
"Musste das sein, Timmy!", schnauzte Frederick seinen Bruder an. "Erzählt Louisa, dass er zum Raumhafen will, um Oma und mich abzuholen. Macht sich statt dessen mit dem nächsten Shuttle dünne. Der Penner hatte es bisher nicht einmal nötig, sich nach dem Kind zu erkundigen. Von dem neuen Job in Amsterdam haben wir alle erst erfahren, als wir bei Jorges Mutter anriefen. Die arme Frau fiel aus allen Wolken, weil sie meinte, dass die drei über Weihnachten nach Holland ziehen. Hat sich richtig für ihren Sprössling geschämt."
"He, lass gut sein", versuchte Louisa, den aufkommenden Streit zu beenden. "Wenn Jorge nicht bei uns bleiben will, dann soll er doch gehen. Hat das Kolonialleben einfach nicht mehr ausgehalten. Je früher, je besser! Mariposa gewöhnt sich erst gar nicht an ihn - und ich bin frei, kann tun und lassen, was ich will.
Und jetzt Schluss der Debatte! Heute ist Neujahr, da wird sich was gewünscht."
Timmy drehte sich um, schaute über den Copernicuskrater hinweg, der sich am Horizont erhob, in den Sternenhimmel. So machten sie es jedes Jahr, seit sie sich erinnern konnten.
"Dass Jenna mit in die Kuppel zieht."
"Dass alles besser wird im neuen Jahr", mehr sagte Louisa nicht.
"Dass wir die Schleusen nicht wieder aufmachen müssen", machte Frederick den Abschluss.
Schweigend machten sie sich auf den Rückweg, hüpften mit langen, hohen Känguruschritten zur Nebenschleuse, wo der Schienenwagen auf sie wartete.
Ein letzter Blick noch über den Copernicuskrater zu den Gestirnen.
Winzige Händchen klammerten sich an Uromas Raumanzug fest, der kleine Kopf hatte es sich auf der Schulter bequem gemacht. Neugierige Augen beobachteten alles durch die hochgeschobene Sichtscheibe des winzigen Helmes.
"Mariposa, Schätzchen, guck nur, was der Onkel Frederick macht. Schau, gleich pflanzt er deinen Bambus." Uroma Charlotte drückte das erst vier Tage alte Baby liebevoll an sich, wies mit der Linken auf den jungen Mann.
Frederick Danword, wie alle anderen auch im Raumanzug, griff brav zur Schaufel. Die Mitglieder des Clans hatten sich in der noch nicht fertig gestellten Versuchskuppel der Mondkolonie versammelt, um am Neujahrstag die jungen Bäume zu pflanzen, die man vom Agraramt gekauft und festlich geschmückt über Weihnachten in der Wohnung aufgestellt hatte. Hinterher, wenn der lunaren Tradition Genüge getan war, wollte man einen Ausflug auf die Mondoberfläche machen.
Der junge Mann hob ein kleines Loch aus und pflanzte die Bambusschösslinge ein. Werkzeug und Verpackung reichte er an den Androiden weiter, der alles auf dem mitgeführten Transportkarren verstaute. Der Astro-Agrartechnologe erteilte dem stählernen Diener den Befehl, mit dem Pflanzen der restlichen Bäume fortzufahren. Es war 'seine' Kuppel, hier war er der Herr über Bäume, Flüsse und die Androiden.
Mit der Eleganz eines spanischen Granden verneigte er sich zum Abschluss der kleinen Zeremonie vor Mariposa. "Befehl ausgeführt, Fräulein Danword. Ihr Bambus steht, wächst und gedeiht."
Die Umstehenden lachten schallend.
"Was wollt ihr eigentlich? Gelernt ist schließlich gelernt. Nach drei Jahren Studium kann man ja wohl davon ausgehen, dass ich mit der Schaufel umgehen kann."
"Ich rede von deinem schauspielerischen Talent. Mit Druckanzug und Schaufel hast du ausgesehen wie der Mondmann. Wir hätten das Ganze aufnehmen und ans Fernsehen verkaufen sollen."
"Untersteht euch! Solche Spitznamen wird man erst mit hundert wieder los."
Louisa Danword, die stolze Mama, griff zum Gießschlauch. Stellvertretend für ihre kleine Tochter goss sie die Bambusschösslinge an und steckte die kleine Tafel mit Mariposas Namen in die Erde.
"Endstation Schleuse, alles aussteigen." Frederick stoppte den Schienenwagen, ließ alle aussteigen. Wie schon am Morgen verabredet, benutzten die älteren Familienmitglieder die Hauptschleuse, um sich draußen ein wenig umzuschauen. Die jüngeren hatten andere Pläne, wollten noch einmal zurück in die Kuppel.
Timmy war schon Monate nicht mehr hier gewesen, Louisa war heute zum ersten Mal in der Versuchskuppel, ließen sich alles erklären: die Solarzellen-Schattierungs-Paneele; das noch unerprobte Wasserkreislaufsystem für den kleinen Fluss, an dessen Ufer sie vor einer halben Stunde erst ihre Neujahrsbäume gepflanzt hatten.
"Wenn die Sache wirklich klappt, wenn wir es wirklich schaffen, die neue Kuppel zu hundert Prozent autark zu betreiben", seufzte Frederick, "dann haben wir es geschafft."
Louisa und Timmy verstanden ihren Bruder. Frederick, als jüngstes der Danword-Kinder bereits auf dem Mond geboren, litt wie viele darunter, dass die Luna-Europa-Kolonie immer noch von der Erde abhängig war.
Als echtes Mondkalb wünschte er sich nichts sehnlicher, als seine Heimat völlig unabhängig von der Erde zu machen, in jeder Hinsicht unabhängig. Keine überteuerten Lebensmittelimporte von der Erde; keine Halbfertigwaren zweifelhafter Qualität, für die sich die Erdschnecken mit seltenen Bodenschätzen bezahlen ließen; eine eigene Regierung statt der zentralen Kolonialverwaltung, die in den insgesamt sechs Mondkolonien und ihren Bewohnern nur Ressourcen sah, die es billigstmöglich auszubeuten galt.
"Wann bekommt ihr sichere Ergebnisse?" Timmy, als Architekt und Stadtplaner auch am Projekt beteiligt, teilte die Leidenschaft seines Bruders. Sobald die Kuppel bepflanzt war, wenn sichergestellt war, dass das System völlig autark arbeitete, konnten die ersten Siedler in die Speichenräder einziehen, wie man die Gebäude wegen des Grundrisses nannte.
Ein anderer Aspekt kam noch hinzu: Die Regeln, die für ein geschlossenes System galten, galten auch für andere entsprechende Systeme. Konnte eine Kuppel autark arbeiten, konnte es bald der komplette Mond, sammelte man genug Wissen, mit den immer gravierender werdenden Problemen auf Erden fertig zu werden. Umweltverschmutzung, Raubbau und Bevölkerungsexplosion entwickelten sich langsam aber sicher zu biblischen Plagen.
"In drei Wochen sind wir mit dem Pflanzen fertig, in einem halben Erdjahr wissen wir über den Wachstumszyklus Bescheid. Ihr wisst ja, die Pflanzen wachsen bei uns anders als auf der Erde. Und wir haben sieben neue Sorten dabei. Der alte Jacobsen meint, dass wir zwei volle Erdjahre abwarten müssen, um auf der sicheren Seite zu sein. Auf die Daten sind wir angewiesen, sonst haben wir später, wenn es mal richtig losgeht mit dem Umbau der alten Kuppeln, nur grobe Schätzwerte."
Timmy stupste seinen Bruder in die Seite, deutete auf die Schwester. Louisa tat so, als bemerke sie nichts, hielt die schlafende Mariposa im Arm, schaukelte sie ein wenig.
"Frei wie der Vogel im Wind.
Unter den Kuppeln der göttlichen Mondin.
Dem Himmel nahe.
Die irdischen Fesseln abgestreift."
Die jungen Männer grinsten.
"Wie du hörst, geliebte Schwester, freuen wir uns jetzt schon drauf, für eine Weile dem Auge des Gesetzes im Allgemeinen, unserer strengen Mama - und nicht zuletzt deiner spitzen Zunge - zu entwischen", ergänzte Frederick vergnügt.
"Ein bisschen was Rauchen, ein nettes Wässerchen brennen, eine schöne kleine Wochenendrauferei", vervollständigte Timmy den Wunschzettel seines Bruders. "Was sagst du dazu, Louisa?"
"Was ich dazu sage, Frederick?" Die junge Frau schüttete sich aus vor Lachen. "Dass du offensichtlich noch nicht auf dem neuesten Stand bist, kleiner Bruder."
"Wieso sind wir nicht auf dem neuesten Stand? Was wissen wir nicht, was wir wissen sollten? Raus damit."
"Soll das heißen, dass du ebenfalls in die neue Kuppel ziehst?"
Auch Timmy, der Zweitgeborene, verstand nicht, was seine Schwester meinte. Die neue Kuppel bekam zwar ein schönes großes Verwaltungsgebäude. Aber dieser Bau sollte in frühestens zwei Jahren genutzt werden. Warum hatten es das Ermittlungsamt und die anderen Behörden so eilig? Die Kriminalität auf dem Mond war, im Vergleich zur Erde, lächerlich gering, der Amtsschimmel gezähmt.
"Zusammen mit den ersten Siedlern", bestätigte Louisa. "Die Entscheidung ist über Weihnachten gefallen. Mein Chef kam gestern nicht nur zum Gratulieren, er bot mir auch die Stelle an, lieber Kerl. Das Ermittlungsamt ist vom ersten Tag an dabei. Sogar ein Miniknast wird eingerichtet. Jetzt können wir eventuelle Fehler korrigieren, später kaum noch. Wenn wir uns weigern, Erdenknackis in Pension zu nehmen, können wir unsere Kriminellen auch nicht mehr zur Erde schicken."
"Am Rande der Einsamkeit.
Die Welten und Monde zu Brüdern.
Der Arm des Gesetzes."
"Ihr beiden tut mir fast Leid", kommentierte Louisa lachend das Klagegedicht. "Aber wirklich nur fast."
Die kahle Ebene bildete einen scharfen Kontrast zu dem riesigen Krater Copernicus und auch zu den Kuppeln der Luna-Europa-Kolonie. Die Versuchskuppel war schwächer erleuchtet als ihre Nachbarn, entsprechend gut von ihnen zu unterscheiden.
"Schaut nach gar nichts Besonderem aus", kommentierte Timmy das Bild. "Schade, dass wir gerade Terminator-Phase haben. Zwischen hell und dunkel kommt der schönste Bau nicht zur Geltung."
"Wir können ja in vierzehn Tagen zur vollen Sonne wiederkommen", tröstete Louisa den jungen Mann. "Dann machen wir auch neue Bilder für Oma. Eure Kuppel - das wird ein Fest für sie."
Aus dem Mikro des winzigen Raumanzugs drangen nörgelnde Laute. Mariposa war wieder wach.
"Hunger oder volle Windel?"
"Klingt nach voller Windel. Nur ein paar Minuten noch; wir sollten wieder nach Hause. Futter braucht die Kleine auch bald."
"Guck mal, Mariposa", Timmy ließ sich das Baby geben, hielt die Kleine ein Stück hoch, um ihr bessere Sicht verschaffen. "Luna-Europa, da sind wir zu Hause. Und da oben - wies mit der Linken zur Erdkugel hin - da wohnt Uroma Charlotte. Da fliegst du bald mit deiner Mama hin. Kannst da überall rumkrabbeln und das Erdenleben unsicher machen. Kannst die Uroma auf Trab halten. Und deine Mama lacht sich was Neues an."
"Musste das sein, Timmy!", schnauzte Frederick seinen Bruder an. "Erzählt Louisa, dass er zum Raumhafen will, um Oma und mich abzuholen. Macht sich statt dessen mit dem nächsten Shuttle dünne. Der Penner hatte es bisher nicht einmal nötig, sich nach dem Kind zu erkundigen. Von dem neuen Job in Amsterdam haben wir alle erst erfahren, als wir bei Jorges Mutter anriefen. Die arme Frau fiel aus allen Wolken, weil sie meinte, dass die drei über Weihnachten nach Holland ziehen. Hat sich richtig für ihren Sprössling geschämt."
"He, lass gut sein", versuchte Louisa, den aufkommenden Streit zu beenden. "Wenn Jorge nicht bei uns bleiben will, dann soll er doch gehen. Hat das Kolonialleben einfach nicht mehr ausgehalten. Je früher, je besser! Mariposa gewöhnt sich erst gar nicht an ihn - und ich bin frei, kann tun und lassen, was ich will.
Und jetzt Schluss der Debatte! Heute ist Neujahr, da wird sich was gewünscht."
Timmy drehte sich um, schaute über den Copernicuskrater hinweg, der sich am Horizont erhob, in den Sternenhimmel. So machten sie es jedes Jahr, seit sie sich erinnern konnten.
"Dass Jenna mit in die Kuppel zieht."
"Dass alles besser wird im neuen Jahr", mehr sagte Louisa nicht.
"Dass wir die Schleusen nicht wieder aufmachen müssen", machte Frederick den Abschluss.
Schweigend machten sie sich auf den Rückweg, hüpften mit langen, hohen Känguruschritten zur Nebenschleuse, wo der Schienenwagen auf sie wartete.
Ein letzter Blick noch über den Copernicuskrater zu den Gestirnen.