Der Obdachlose

Michael Orth

Mitglied
Eine erfundene Biografie (April 2018)

Den Menschen, den ich hier Kurt nenne, gibt es. Seine Namen und seine Geschichte habe ich erfunden.

Kurt fiel mir oft auf, weil er lauthals ›In der Ruhe liegt die Kraft‹ brüllend an unserem kürzlich eröffneten Kaffeegeschäft am Kölner Heumarkt vorbei stapfte. Dabei schwenkte er eine Bierflasche in der rechten Hand, in der Linken hielt er eine Plastiktüte, der man ansah, dass sie schwer war. Ich vermutete weitere, volle Bierflaschen. Aus der Ladentür sah ich ihm nach. Man konnte ihm ein bewegtes Leben und den langen Aufenthalt im Freien ansehen.

Er war zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt, hatte graues, etwas schütteres Haar, das zwar kurz war, sich aber in Locken um sein Haupt kringelte. Sein Gesicht war markant. Zwei tiefe Furchen zogen sich von den Nasenflügeln zum Mund, trotzdem wirkte er auf mich nicht grob, sondern eher nachdenklich. Er war Choleriker, aber nie aggressiv, wenn er getrunken hatte, und ruhig und friedlich, fast phlegmatisch, wenn er nüchtern war. Dann sah man ihn auf einer Bank sitzen, den Passanten zusehen, ab und zu machte er eine ironische Bemerkung. Wenn er jemanden rennen sah, kam unweigerlich sein Spruch: ›In der Ruhe liegt die Kraft‹.

Jetzt allerdings dachte er nicht nach, sondern überquerte den schmalen Weg, der unseren Laden von dem großen Platz trennte. Dort standen zwei Bänke, auf denen sich schon einige seiner Saufkumpane breitgemacht hatten und, wie mir schien, sehnsüchtig auf die vollen Flaschen warteten. Während er großzügig Flaschen verteilte, sah er kurz zu mir herüber. Ich musste lächeln, denn ich fand ihn nicht unsympathisch. Ich hatte auch noch nie gehört, wie jemand lauthals über die Kraft, die in der Ruhe liegt, schwadronierte. Er lachte, als er mich sah, und winkte mit der Bierflasche. Das gefiel mir, denn einige aus der Gruppe der Obdachlosen waren nicht gut auf mich und meinen Laden zu sprechen. Das lag daran, dass sie in den Monaten, in denen der Laden leer gestanden hatte, ihren Platz auf einem kleinen Absatz vor meinem Schaufenster gefunden hatten. Was ich natürlich nicht dulden konnte. Eines Morgens fand ich sogar einen riesigen, mit Kreide auf den Bürgersteig geschriebenen Spruch: ›Böhser Onkel‹. Es kam auch mal ein dicker Ast angeflogen, schon deshalb war ich Kurt dankbar, denn er hatte deeskalierend auf die anderen eingewirkt.

Kurt finanzierte seinen Alkohol, indem er Leergut sammelte, und wenn er mehr Geld eingenommen hatte, als er brauchte, kam er zu uns in den Laden, um sich einen Becher Kaffee zu kaufen, wozu ich ihn meist, aber nicht immer, einlud, denn ich wollte ihn nicht kränken. So kamen wir ins Gespräch, und im Laufe der Jahre erfuhr ich einiges aus seiner Biografie. Er schlief meist auf der Straße, in Ladenpassagen oder leer stehenden Häusern. Ich sagte:
»Das sieht man dir nicht an, wie machst du das?«
»Ganz einfach«, antwortete er, »morgens gehe ich in ein Wohnheim der Caritas, da kann ich duschen und meine Wäsche waschen.«
»Und warum schläfst du nicht da?«
»Du, da wirste beklaut, es ist laut und ich fühle mich wie im Knast.«

Kurt war ein Nachkriegskind, geboren 1948 in Köln, das damals noch weitgehend zerstört war. Den Zweiten Weltkrieg hatte seine Mutter alleine überstehen müssen. Ihr Mann, sein Vater, war kurz nach der Hochzeit eingezogen worden. Er war zunächst in Frankreich, später in Russland, und dort nach dem Ende des Krieges nur knapp der Erschießung durch die russische Armee entgangen. Buchstäblich in letzter Minute war es ihm gelungen, die SS-Runen von seiner Uniform zu entfernen. Sie hätten seinen sicheren Tod bedeutet. Von der SS-Vergangenheit seines Vaters wusste Kurt als Kind nicht. Er erfuhr es erst nach dem Tod des Vaters durch einen Onkel, einen Bruder seiner Mutter.
»Das war ein Riesenschock für mich, das kannste mir glauben«, erzählte er.
»Mein Alter war ja kein Engel, aber dass er bei der SS war, hätte ich nie gedacht. Das waren doch die größten Schweine in der Nazizeit. Wer weiß, wie viele unschuldige Menschen er auf seinem Gewissen hatte.«

Kurts Vater war schweigsam, verschlossen und oft aggressiv seiner Frau und seinem Sohn gegenüber. Kurt war sich sicher, dass er unter seiner Schuld litt und diese durch sein gewaltsames Wesen kompensierte. Er ließ keine Gefühle zu und auch seine Mutter verschwieg ihr Leiden, sie wusste zudem von der Kriegsvergangenheit ihres Mannes. So wuchs Kurt als eines der vielen Nachkriegskinder auf, die weder beachtet noch gefördert wurden. Er schaffte mit Mühe den Volksschulabschluss und wurde von seinem Vater als Schlosserlehrling bei einem Bekannten der Eltern untergebracht. Kurt erzählte:
»Das war eine tolle Lehre. Ich durfte Tag und Nacht arbeiten, war nur Hilfskraft, lernte nichts, durfte fast nie in die Berufsschule, und wenn ich Fehler machte, erfuhr das sofort mein Alter. Dann gab es Schläge. Klar, dass ich die Prüfung nicht schaffte. Meinem Vater war es egal, ich brachte Geld nach Hause, er war arbeitslos und lebte von der Wohlfahrt.«
»Und deine Mutter?«, fragte ich.
»Nix Mutter,« meinte er, »die hatte doch noch mehr Schiss vor meinem Vater als ich. Die hatte damit zu tun, mit dem wenigen Geld auszukommen, zu kochen, zu putzen und unter meinem Vater zu liegen, wenn der Lust hatte. So war das bei uns.«

Später übernahm Kurt verschiedene Hilfsjobs, in denen er sich aber nie lange halten konnte, er hatte oft Streit mit Kollegen. Beim Tanzen lernte er eine Frau kennen, zuerst kam ein Kind, dann heirateten sie. Kurt hatte nicht gelernt zu lieben, es gab häufig Streit, er begann zu trinken. Nach nur zwei Jahren verließ ihn seine Frau mit ihrem Kind, sie bekam das alleinige Sorgerecht. Unter der Trennung litt Kurt ›wie ein Hund‹, sagte er. Jetzt, als er sich über sein Versagen als Vater und Ehemann klar wurde, versank er in tiefe Depression. Er wandte sich an eine Beratungsstelle, man verschaffte ihm einen Platz in einer psychiatrischen Klinik. Dort verbrachte er einige Monate, bekam Medikamente und wurde von einem Sozialarbeiter unterstützt.
»Geheilt hat mich aber die Freiheit auf der Straße, die Kumpels und deren Kameradschaft, die ihr Wohlstandsbürger gar nicht mehr kennt«, behauptete er.

In Kneipen lernte Kurt schräge Typen kennen, die sich mit Einbrüchen und Diebstahl durchs Leben schlugen.
»Die suchten nur einen Doofen, der für sie die Drecksarbeit machte«, berichtete er mir.
»Und natürlich wurde ich prompt erwischt, zu sechs Monaten verdonnert, und war zum ersten Mal im Knast. Ich hatte ja keinen festen Wohnsitz. Die Erfahrung wünsche ich dir nicht. Keine gute Gesellschaft.«
»Oh Mann«, sagte ich, »und dann?«
»Keine Wohnung, nur Sozialhilfe, aber ich brauche zum Glück nur Bier, keinen Schnaps, das kriege ich mit dem Leergut hin. Auf Knast habe ich keinen Bock mehr. Und den jungen Kerlen da drüben versuche ich klar zu machen, dass sie sich einen Job suchen sollen und nicht auf die Kriminellen hereinfallen. Aber so ist das in diesem Land, wenn du erst mal unten bist, dann bleibste auch unten.«
»Hast du keine Träume mehr?«, fragte ich ihn.
»Ich hab ausgeträumt.«
»Ja ja«, sagte ich, in der Ruhe liegt die Kraft.«
Er lachte. Dann meinte er:
»Ich will dir mal was sagen: Die Typen, die hier mit ihren dunklen Anzügen und dem Laptop rumrennen, haben mehr Sorgen als ich. Die haben Angst um ihren Job, Stress von morgens bis abends, brauchen drei Fernseher und zwei Autos für Frau und Kinder, kriegen irgendwann den ersten Herzinfarkt, und wenn sie in der Kiste liegen, haben sie auch nicht mehr als ich. Denk mal drüber nach.«

Als ich mit meinem Laden umzog, verlor ich ihn aus den Augen. Aber an seinen Spruch denke ich noch oft.
 
G

Gelöschtes Mitglied 16391

Gast
Hallo Michael,

dann legen wir mal los:

Den Menschen, den ich hier Kurt nenne, gibt es. Seine Namen und seine Geschichte habe ich erfunden.
Seine[red]n[/red] Namen.

Mir erschließt sich der Sinn dieses Satzes nicht. Es gibt also irgendwo einen Obdachlosen, der aber mit deiner Geschichte rein gar nichts zu tun hat und auch anders heißt. Warum erwähnst du ihn dann?

Jetzt allerdings dachte er nicht nach, sondern überquerte den schmalen Weg, der unseren Laden von dem großen Platz trennte.
Dieses 'Jetzt' als zeitliche Einordnung verwirrt mich. Es erweckt den Eindruck, als stiege man nun in die eigentliche Handlung ein. Aber es folgt nichts dergleichen.

Es kam auch mal ein dicker Ast angeflogen, schon deshalb war ich Kurt dankbar, denn er hatte deeskalierend auf die anderen eingewirkt.
Ebenfalls nicht eindeutig. 'Es kam auch mal' klingt für mich nach 'Gelgentlich kam ein Ast geflogen', was Wiederholung andeutet. Du willst aber wohl eher sagen : "Eines Tages kam ein Ast geflogen". Und wie bitte kann/ konnte Kurt in so einer Situation deeskalierend eingreifen? Hat er sich vor den Ast geworfen?

Kurt war ein Nachkriegskind, geboren 1948 in Köln, das damals noch weitgehend zerstört war.
Hier folgt eine Biographie die mit kurzen Dialogsequenzen gespickt sind, aber es wird nicht klar, wann diese Dialoge staattfinden/ stattgefunden haben. Auch wird nicht klar, warum Kurt sich gegenüber dem Ladenbesitzer öffnet. Die Biographie von Kurt find ich zwar spannend, aber es wird zuviel erzählt, nichts gezeigt.

Dann endet die Geschichte mit der Aufgabe des Ladens. Tja, und nun?

Nichts für ungut, liebe Grüße,

CPMan
 



 
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