Der Papagei

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Vera-Lena

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Der Papagei

Vier Monate war es her, dass Tante Wanka die Reise ins Jenseits angetreten hatte. Einen Monat nach der Beerdigung wurden Tanja und ihre Cousine Patrizia zur Testamentseröffnung geladen.

Da saßen sie beide am 17. Februar 1962 vor dem riesigen Schreibtisch des Notars und hörten die Tante noch einmal mit der Stimme des Juristen sprechen:
„Ich vererbe meinen gesamten Besitz dem Tierheim „Katze & Co“. Meine Smaragdohrringe, die das einzige Wertstück darstellen, das meine Mutter aus Russland heraus schmuggeln konnte, soll meine Nichte Patrizia erhalten. Meinen Graupapagei, Connie, übergebe ich meiner Nichte Tanja, weil sie immer ein großes Vergnügen an ihm hatte. Ihr beiden Lieben, diese Worte werdet ihr erst nach meinem Tode vernehmen und so empfehle ich euch dem Segen Gottes, nun ich euch nicht mehr an mein Herz drücken kann.“

Tanja hatte die Worte auswendig behalten. Sie stand vor dem Spiegel und bürstete ihr Haar. Sollte sie eine Haarspange nehmen? Überhaupt, was sollte sie anziehen? Was war passender für den Romanistenball, das schwarze schlichte Kleid oder der rote Rock mit der Bluse, deren aufregenden Ausschnitt sie mit kleinen Pailletten besetzt hatte?

„Blöde Kuh“, kreischte der Papagei. Liebe Tante Wanka rief Tanja, wenn du wüsstest, was du mir angetan hast! Natürlich habe ich mich immer schlapp gelacht, wenn dein Connie so unverschämte Worte gerufen hat, denn da hatte ich ihn ja auch nicht andauernd um mich herum. Und weil ich mich immer so amüsiert habe, hast du ihm immer stärkere Ausdrücke beigebracht.
Aber jetzt finde ich das nicht mehr komisch, wenn ich mir, sobald ich mal zu Hause bin und für meine Prüfungen lernen möchte, stundenlang diese Wörter anhören muss, eines schlimmer als das andere. Für gewöhnlich ruft ein Papagei mal „Halt den Schnabel!“ und damit ist sein Repertoire erschöpft. Aber dein Liebling ist nun leider ein hochbegabtes Tier, man sollte ihn statt meiner ins Examen schicken. Da müste ich dann aber meine Fachrichtung ändern.

Sie seufzte. Beschimpfen durfte sie Connie nicht, denn was es danach zu hören gab, war beispiellos. Sie hätte ihn zu ihren Eltern ins Allgäu bringen können, dort war sowieso mehr Platz. Hier in ihrer kleinen Studentenbude in Berlin hatte sie manches hin- und herräumen müssen, um für den großen Käfig Platz zu schaffen. Aber sie wollte die Tante nicht enttäuschen. Tante Wanka war eine Frau mit einem sehr großen Herzen, an das sie einen nicht nur drückte, sondern sie trug dort eine Reihe von Menschen ständig mit sich herum, und eine ihrer häufigsten Satzanfänge war:“Tanjachen, meinst du nicht, man sollte der alten Frau , du weiß schon, die immer noch den Gemüseladen hat, etwas abkaufen, auch wenn es nicht mehr so frisch ist, man könnte es ja danach in der Zoohandlung ganz zufällig stehen lassen für die Karnickel dort.“
Und das war natürlich keine echte Frage, sondern die Frage lautete eigentlich, ob es Tanjachen auch nicht zu viel wäre, wenn sie jetzt gleich mitkäme und beim Tragen behilflich wäre.
So einer Frau konnte man es doch nicht abschlagen, ihren Graupapagei bei sich aufzunehmen!
Das wäre ja schon fast so, als hätte sie der Tante selbst die Tür vor der Nase zugeworfen.
„Böse, böse!“ kreischte der Papagei.

„Ach Connilein“ säuselte Tanja, „was machen wir denn jetzt? Wir machen das, was wir immer tun, wenn du gefälligst still zu sein hast. Wir nehmen dieses große Tuch und hängen es über deinen Käfig“. Sie griff nach dem leichten Seidentuch. „Connie, Connie“, flüsterte der Papagei. „Zu spät“, lachte Tanja. "Jetzt ist Ruhe".

Sie wandte sich wieder dem Spiegel zu. Ach, das Rot passte gut zu ihren blonden Haaren. Das schwarze Kleid war eher fürs Theater geeignet. Sie zog sich um und verließ erwartungsvoll ihre kleine Behausung.

Stunden später kehrte sie zurück mit Armand. Armand war Südfranzose. In den Vorlesungen hatte sie sich oft einen Platz gesucht, von dem aus sie ihn mit einem raschen Seitenblick anschauen konnte. Als er heute Abend auf sie zukam, glaubte sie, er wolle die Kommilitonin, mit der sie sich gerade unterhielt, ansprechen. Aber er streckte ihr seinen Arm entgegen, und seine offene Handfläche bat so eindeutig zum Tanzen, dass ihr für einen Augenblick der Atem wegblieb. Dann nickte sie. Er nahm ihre Hand und führte sie, bis er den kleinen Platz, den er sich nun erobert hatte , für geeignet hielt. Er wippte auf den Füßen hin und her, umschlang sie plötzlich und führte sie so sicher, dass sie aufatmend die Augen schloss.

„Ma chère petite“, flüsterte er. Ja, natürlich im Vergleich zu deutschen Männern war er klein. Deshalb hatte er sie aufgefordert, damit er nicht mit einer Frau tanzen musste, die größer war als er. Sie öffnete die Augen. Er lächelte ihr zu, und sie sah zu ihrer Überraschung eine aufrichtige Freude in seinem Blick. Wenn nur kein Tango kommt, dachte sie. Sie wollte sich nicht von jemandem beinahe auf das Parkett legen lassen, der ihr genauso fremd war, wie er ihr vertraut erschien. Aber dann kam ein Walzer. Der Boden schien mit zu tanzen. Sie suchte in diesem glückseligen Wirbel einen festen Punkt und blieb in seinen dunklen Augen hängen, die bisweilen in glühenden Fünkchen aufleuchteten. Eine seiner schwarzen Locken rutschte über die Augenbraue und gab ihm ein verwegenes Aussehen. Er lachte. Als der Tanz zuende war, sagte er mit seinem französischen Akzent, “so anmütig wie eine Ballerina.“
Aus einem deutschen Mund hätte sich das völlig übertrieben angehört. Sie blieben den ganzen Abend zusammen, und er bestand darauf, sie nach Hause zu bringen. Wie hatte sie es eigentlich hingektiegt, ihn mit zu sich nach oben zu lotsen?

Obgleich sie vom Tanzen verschwitzt gewesen waren, roch er immer noch so gut. Er legte seine Stirn gegen ihre, seine linke Hand glitt an ihrem Rücken unter ihre Bluse. Er machte einen kleinen Schritt rückwärts und zog sie mit sich.
„Scheißkerl“, kreischte es durch die Nacht.
Sie zuckten beide zusammen. Tanja schlug die Hände vor ihr Gesicht. Oh Gott!!! Es war alles aus. Er würde sie nie mehr beachten, niemals wieder, sie würde ihn in der Vorlesung immer nur noch von hinten sehen. Niemals mehr würde er ihr einen Blick schenken.
Armand hatte sich umgedreht. Durch ihre Finger hindurch sah Tanja, dass er gegen den Käfig gekommen sein musste, und das leichte Tuch war herabgeglitten.
„Einen großen Vogel aben Sie“, sagte er.
Sie nahm die Hände vom Gesicht. „Es ist nicht mein Vogel, das heißt , es ist doch mein Vogel.“
„Sehr präzise“, antwortete er.
Jetzt wurde er auch noch ironisch. Nein, da war nichts mehr zu retten, es war alles vorbei. Jetzt musste sie nur noch versuchen, die Beherrschung zu bewahren.
„Ich habe ihm diese Worte nicht beigebracht“, sagte sie kühl. "Er gehört eigentlich meiner Tante, aber ich habe ihn in meiner Obhut seit kurzem. Sie kann sich nicht mehr um ihn kümmern.“
„So, so.“
„Sie dürfen nichts Böses über meine Tante denken, sie war eine überaus liebenswerte Frau!“
„Isch abe keinen Zweifel, dass eine so überaus liebenswerte Studentin auch eine überaus liebenswerte Tante at“. Er lächelte. Tanja drohten die Beine weg zu knicken. Lieber Himmel, was machte dieser Mann alles mit ihr?

Connie saß auf der obersten Kletterstange und beäugte den Fremdling geradezu arrogant.
„Wie alt ist das Tier?“, erkundigte sich Armand.
„Hurensohn“, kreischte Connie.
„Zwanzig Jahre“, antwortete Tanja so höflich, wie es ihr möglich war. Langsam stieg die Wut in ihr hoch. Dieses Vieh!!!!!
„Und wie alt wird so ein Vogel?“
„Achtzig Jahre“; würgte Tanja hervor.
Armand lachte. „Aber dann aben Sie ja noch sechzig Jahre Zeit, seinen Wortschatz aufzustocken n’est-ce pas?“

Ja, das stimmte, wieso war sie noch nicht selbst darauf gekommen. Verdutzt schaute sie ihn an.
„Wollen wir es gleich versuchen?“ Armand legte seinen rechten Arm um sie. „Lieb-ling......Lieb-ling.....Lieb -ling“ sprach er dem Papagei vor, und bei jedem Wort zog er sie sacht ein wenig näher zu sich.

"Liebling", kreischte der Papagei. "Sehen Sie", sagte Armand
eindringlich, "er spricht mir aus dem erzen." In seinen Augen begann der Tanz der glühenden Fünkchen.
 

jimKaktus

Mitglied
Hi Vera-Lena,

Sehr passend. mir gefallen nur ein paar Kleinigkeiten nicht:

Liebe Tante Wanka rief Tanja, wenn du wüsstest, was du mir angetan ... Das wäre allerdings eine Fachrichtung der speziellen Art.
Ganz schön lang, was sie da so spontan ausruft (oder versteh ich das falsch?). Den letzten Absatz täte ich evtl. auch noch etwas prägnanter/pointierter/schlagender machen.

Gruß,
j
 

Vera-Lena

Mitglied
Hallo Jim Kaktus,

danke für Deine Hinweise! Den letzten Absatz habe ich umgeschrieben, auch die Stelle mit der speziellen Fachrichtung.
Der ganze Ausruf, der sich an die Tante Wanka richtet, ist als Selbstgespräch zu verstehen, und wenn jemand ganz allein wohnt und ein lebhaftes Naturell besitzt, dann wird er auch entsprechend ausdrucksvolle Monologe halten. Davon bin ich fest überzeugt.

Liebe Grüße von Vera-Lena
 



 
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