Der Pedant

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Der Pedant

Herr Föll war spät dran. Der Prozeß begann um 9 Uhr, jetzt war es 10 Minuten nach neun, und er hastete den Flur des Gerichtsgebäudes entlang, auf der Suche nach der Zimmernummer 328. Wenn Herr Föll etwas nicht ausstehen konnte, dann waren dies Unkorrektheit und Unpünktlichkeit. Weder bei sich noch bei anderen. Wie er überhaupt ein sehr ordentlicher Mensch war.
Schuld für sein Zuspätkommen war die Straßenbahn, nicht etwa der Gasherd, den seine Frau wieder einmal nachlässig ausgeschaltet hatte. Immer drehte sie den Knopf nur ungefähr nach oben. Aber mit solchen Dingen durfte man nicht spaßen, wie er ihr des öfteren, ach was, wie er ihr zigmal versichert hat. Wenn der Knopf nicht hundertprozentig nach oben zeigt, könnte es sein, daß noch geringe Mengen Gases ausströmten und zu einer Katastrophe führten.
Als er ihr dies erklärt und sie wie gewöhnlich nur gelangweilt mit dem Kopf genickt hatte, war es 8 Uhr 25. Um 8 Uhr dreißig ging die Bahn. Föll benötigte niemals mehr als drei Minuten bis zur Haltestelle. Und so erreichte er sie auch pünktlich. Dort mußte er jedoch mit Schrecken erkennen, daß die Bahn gerade abgefahren war. Zwei Minuten zu früh! Föll war außer sich.
Einzig diesem Umstand war es zu verdanken, daß er nicht rechtzeitig im Gerichtsgebäude eintraf. Und dieser Flur wollte nicht enden. Zimmer 325… 326… 327… Zimmer 32… 329, wo nur befand sich das Zimmer 328? Noch einmal durchschritt er den langen Gang, vergeblich. Offenbar gab es diesen Raum nicht. Föll schaute vorsorglich auf den Aushang vor Zimmer 32 - zwischen 327 und 329 gelegen - und fand in der Tat den Namen Föll als Zeugen angeführt. Vielleicht handelte es sich um eine Namensverwandtschaft, dachte er. Auf der Vorladung stand unmißverständlich die Zimmernummer 328! Also setzte er sich vor die Tür auf eine Bank und wartete. Die Minuten verrannen, nichts geschah. Plötzlich öffnete sich die Tür von Zimmer 32, ein Gerichtsdiener erschien, sah Föll dort sitzen und fragte:
„Sind Sie Herr Föll?“
Föll nickte eifrig, zeigte die Vorladung, und der Mann bat ihn herein.
„Guten Tag!“ sagte Föll.
„Sie kommen spät“, war die Antwort des Richters Müller, der in schwarzer Robe hinter einem mächtigen Tisch thronte und mit stechenden Augen über den Rand seiner Brille auf Föll herabschaute.
Erneut kramte Föll seine Vorladung hervor und zeigte auf die Zimmernummer 328.
„Schuld war zunächst die Straßenbahn“, entfuhr es ihm mit dem Brustton der Überzeugung. „Außerdem gibt es in diesem Flur keine Zimmernummer 328, Herr Richter!“
„Dies hier ist zufällig Zimmer 328, Herr…Föll!“ korrigierte ihn der Mann in Schwarz nach kurzem Blättern in den Akten.
„Nein“, widersprach Föll. „Dies ist Zimmer 32! So steht es jedenfalls draußen!“
Der Gerichtsdiener flüsterte dem Richter etwas zu, woraufhin dieser anordnete, die fehlende 8 schnellstmöglich auszutauschen.
„Entschuldigen Sie “, mischte sich Föll ein. „Aber wie wollen Sie eine fehlende Acht austauschen?“
Der vorwurfsvolle Blick des Staatsdieners traf ihn mit voller Härte.
„Nehmen Sie Platz, Herr Zeuge“, sagte er mit beherrschter Stimme, auf den freien Stuhl vor dem Richtertisch deutend. Föll nahm Platz, die Augen starr auf den Richter geheftet.
„Ich meine ja nur“, griff er leise das Thema noch einmal auf, abschließend. „Austauschen können Sie doch nur etwas Vorhandenes, oder? Und nicht etwas, das ohnehin schon fehlt …“
Der Richter, beim Versuch ruhig zu bleiben, nickte nur abwesend und konzentrierte sich auf die Akte vor sich. So ein Klugscheißer hatte ihm gerade noch gefehlt.
„Ich bin der Ansicht, Herr Richter“, fuhr Föll unbeirrt fort, „daß man korrekt sein muß vor Gericht. Und nicht nur hier. Heute morgen zum Beispiel an der Haltestelle. Ich war pünktlich, aber…“
Der Richter hob die Hand, was Föll zum Verstummen brachte.
Gut, dachte Föll, dann eben nicht. Man wird schon sehen, wohin das führt.
Richter Müller ließ ein paar Blätter durch seine Finger gleiten und begann:
„Wie Sie wissen, Herr…Föll, handelt es sich um den Abend des 15. Juli dieses Jahres, als im Rahmen einer Schulfeier an - Ihrem Gymnasium - ein Bild entwendet wurde.“
„Es ist nicht mein Gymnasium“, berichtigte Föll nun seinerseits den Beamten.
„Nicht? Hier steht aber…“
„Ich bin nur der Hausmeister. Das Gymnasium gehört der Stadt.“
Der Augenaufschlag des Richters hätte den Zeugen beinahe getötet.
„Der Schüler, Gotthilf Mayer“, so der Richter, „wird beschuldigt, am Abend des 15. Juli besagtes Bild von der Wand genommen und vom Schulgelände getragen zu haben. Was wissen Sie darüber?“
„Wie schreibt sich der Junge?“ fragte Föll in äußerst sachlich gehaltenem Ton. „Wir haben nämlich einen Schüler namens Mayer und einer heißt Meyer. Beide tragen sie den Vornamen Gotthilf.“
Der Richter fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, atmete tief ein und erwiderte:
„A Y. Der in Frage Kommende schreibt sich mit A Y. Gotthilf Mayer.“
„Ach, der Mayer. Den habe ich nicht gesehen an jenem Abend.“
„Wie, Sie haben ihn nicht gesehen? Bei der Vernehmung sagten sie doch, Sie hätten!“
„Das war eine Verwechslung, Herr Richter. Ich meinte den Meyer. Sie aber sprechen von Mayer. Das ist etwas ganz anderes.“
Der Atem des Richters ging stoßweise, er versuchte ruhig zu bleiben, was ihm nur teilweise gelang.
„Wenn Sie ihren Kopf wenden, sehen Sie den Schüler Mayer dort auf der Anklagebank sitzen.“
Föll drehte den Kopf, erblickte Mayer und nickte ihm freundlich zu.
„Gotthilf Maaayer“, betonte der Staatsbeamte das A in besonderem Maße, „war also nicht zugegen an diesem Abend?“
„Das kann ich nicht sagen, Herr Richter.“
Langsam fing der Amtsrichter an, seine Geduld zu verlieren.
„Wieso nicht?“
„Ich habe ihn nicht gesehen an dem Abend.“
„Also war er gar nicht da?“
„Diese Frage zu beantworten, steht mir nicht zu“, entgegnete Föll und fügte in bester Advokatenmanier an: „Der Umstand, daß ich ihn nicht gesehen habe, folgert nicht zwangsweise, daß er nicht da war, Herr Richter.“
„Ich kann Sie vereidigen lassen“, sagte der Mann im schwarzen Talar warnend.
„Was soll ich denn beschwören?“
„Daß er nicht da war!“
„Daß er nicht da war?“ fragte Föll entgeistert.
„Ja. Sie haben doch gesehen, daß er nicht da war, oder?“
„Verzeihung, Herr Richter. Aber wie könnte ich etwas sehen, das nicht da ist? Geschweige noch darauf schwören etwas zu sehen, daß nicht da ist.“
Der Richter griff in seine Tasche, kramte ein Hustenbonbon hervor und steckte es sich in den Mund, sichtlich nach Fassung ringend.
„Ich könnte vielleicht beschwören…“ räumte Föll nachdenklich ein, „daß ich ihn nicht gesehen habe. Das vielleicht.“
Richter Müller hatte genug.
„Der Zeuge wird vereidigt“, sagte er bestimmt, und beinahe hätte man dabei ein hämisches Lächeln vermuten können. „Vielleicht vergehen Ihnen dann die Scherze.“
Jetzt ging Richter Müller zur Sache.
„Ich scherze niemals“, schob Föll nach.
Der Gerichtsdiener erhob sich, trat vor Föll und begann mit der Zeremonie, Föll schwor. Daraufhin der Richter:
„Ihr Name?“
„Sebastian Hubertus Föll.“
„Ihr Beruf?“
„Ich bin Hausmeister des Max-Planck-Gymnasiums.“
„Geboren?“
„In meinem Ausweis steht das Datum des 26. März.“
„Was soll das bedeuten?“ erregte sich der Richter. „In Ihrem Paß steht…“
„Ja“, erklärte Föll. „So steht es auch in meinem Paß. Stünde ich nicht unter Eid, hätte ich jetzt möglicherweise leichtfertig die Unwahrheit behauptet. Aber bei meiner Geburt war ich noch sehr jung. Zu jung, um das genaue Datum zu wissen. Daher berufe ich mich auf meinen Ausweis.“
Dem Mann auf dem Richterstuhl schien es im schwarzen Gewand warm zu werden.
„Welches Jahr?“ fragte er ungeduldig.
„1952.“ Föll machte eine bedeutsame Pause, bevor er sich etwas vornüber lehnte und weiter sprach. „Nach Christi!“
Die starren Augen des Richters fixierten den Zeugen, als wollten sie ihn durchbohren.
„Sie kennen also besagten Mayer?“ begann der Richter mit dem Verhör, und man erkannte deutlich, daß er sich nun das Heft nicht mehr aus der Hand nehmen lassen wollte.
„Natürlich. Er zieht den Vorhang.“
„Bitte?“
„Den Vorhang, Herr Richter. In der Aula des Gymnasiums, des städtischen Gymnasiums, haben wir eine Bühne mit einem Vorhang. Den zieht der Mayer.“
„Sie meinen, Herr…Föll, daß besagter Mayer hinter der Bühne steht und dafür sorgt, daß dieser Vorhang auf und wieder zu geht?“
„Jawohl!“
„Und an jenem Abend wurde der Vorhang bedient?“
„Ja.“
„Aber dann muß er doch da gewesen sein!“
„Wahrscheinlich. Zuweilen zieht auch der Meyer.“
„Herr Zeuge, halten Sie uns hier nicht zum Narren!“
„Das würde ich nie tun, Herr Richter. Aber was Sie brauchen sind Fakten, nicht Mutmaßungen, oder? Der Umstand, daß der Vorhang bewegt wurde, spricht in der Tat dafür, daß Mayer anwesend war.“
„Aber Sie haben ihn nicht gesehen.“
„Nein. Aber den Meyer. Es ist ein schöner dicker Vorhang mit altgriechischen Motiven ...“
„Danke“, unterbrach ihn der Richter, „so genau brauchen wir das gar nicht zu wissen.“
„Schreiben Sie auf“, richtete sich der Beamte an den Schreiber neben sich:
„Der Zeuge Föll hat den Beklagten nicht gesehen und weiß nichts über den Verbleib des Bildes. Ende! Schluß!“ Und zum Zeugen gewandt:
„Da Sie über das Bild nichts wissen, dürfen Sie wieder gehen.“
„Wer sagt das?“
„Was?“ fragte der Richter.
„Daß ich nichts über den Verbleib des Bildes weiß, Herr Richter.“
„Wollen Sie damit andeuten, Sie wüßten davon?“
„Natürlich. Der Meyer hat’s genommen!“
„Welcher?“
„Der mit dem E.“
„Das haben Sie gesehen?“ fragte Richter Müller lauernd.
„Ja!“
„Aber dann haben wir hier ja den Falschen angeklagt.“
„Es scheint so.“
Der Richter konnte sich kaum beruhigen.
„Sie haben also gesehen, Herr…Föll, wie der Meeeyer das Bild gestohlen hat?“
„Nein, Herr Richter.“
„Herr Zeuge, ich warne Sie! Eben haben Sie gesagt der Meyer hätte es gestohlen und nun…“
„Das habe ich nie behauptet, Herr Richter. Ich sagte: Genommen. Der Meyer hat’s genommen.“
Der Richter beugte sich ganz weit vor:
„Das ist Strafvereitelung, wissen Sie das?“
„Wieso? Das Bild steht im Keller der Schule.“
„Dann hat er’s dort versteckt!“
„Nein.“
„Herr Zeuge, ich warne Sie zum letzten Mal!“
„Nein, nein. Meyer hat’s auf mein Geheiß hin in den Keller gebracht, damit es während der Feier nicht gestohlen wird. Im Anschluß haben wir vergessen, es wieder aufzuhängen.“
Der Richter überdachte die Situation einen Moment, schloß leise die Akte und sagte zu Föll:
„Ich hoffe, Sie nehmen mir das jetzt nicht übel, Herr…Föll. Aber Sie sind schon ein Klugschei… ein… ein … Pfennigfuchser.“
„Ich versuche nur korrekt zu sein, Herr Richter.“
„Eines muß ich jedoch anerkennend zugeben,“ murmelte der Richter leise. „Für einen Hausmeister sind Sie erstaunlich … klug.“
„Dieses Kompliment, Herr Richter, würde ich gerne zurück geben, aber leider…“
Der Richter streckte ihm die Handflächen entgegen, als wollte er ein unerwartetes Geschenk zurückzuweisen.
Föll erhob sich ruhig und rückte den Stuhl zurecht, bevor er den Satz beendete: „…aber leider stehe ich unter Eid!“
 

ThomasQu

Mitglied
Hallo Francesco,

ich finde die Geschichte auch super.
Lediglich der eine Satz:
Wie er überhaupt ein sehr ordentlicher Mensch war
ist meines Erachtens überflüssig.

Viele Grüße,

Thomas
 

Sidgrani

Mitglied
Witzig und gut aufgebaut. Manchmal resigniere ich ja bei etwas längeren Texten und breche ab. Nicht bei deiner Geschichte, ich habe fast zu schnell gelesen, weil ich so neugierig war, wie es weitergeht.

Der Schluss mit der Pointe „…aber leider stehe ich unter Eid!“ ist Spitze!

LG Sidgrani
 
G

Gelöschtes Mitglied 16391

Gast
Heinz Rühmann..

..lässt grüßen.

Ich fand den Text nur mäßig unterhaltsam und im Kern eine Abwandlung von Altbekanntem. Ganz nett, aber irgendwie auch sehr langweilig.

Sorry!

Liebe Grüße,

CPMAn
 



 
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