Der Pianist

Thomas

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Der Pianist

Es war still im Raum. Ein paar Stuhlbeine kratzten noch über das Parkett, Handtaschen öffneten sich, Kehlen wurden gereinigt. Hier und da wurde geflüstert, nicht geredet und nur selten gelacht. Trotzdem war die Stimmung heiter, voller Erwartung. Die Kronleuchter strahlten auf die markanten Brillanten der Damen und Gesichter der Herren. Das Buffet war reichlich gewesen und von erlesenem Geschmack gekrönt. Die Gäste hatten danach satt und zufrieden ihre Kristallgläser leer getrunken oder sich eine Zigarre angesteckt, sich etwas unterhalten oder einfach nur zu gehört. Doch nun saßen sie leise auf ihren Plätzen in Erwartung des musikalischen Höhepunkts, für den sie aus aller Herren Länder angereist waren, mit unterschiedlichsten Gefühlen im Gepäck. Der Botschafter eines Inselstaates war noch voller Trauer über den Tod seiner Frau, der Ministerpräsident im Smoking war gut gelaunt von seinem Wahlsieg gestern Abend und seine junge Frau im knappen Cocktail Kleid gelangweilt von den Gesprächen am Tisch. Die dicke Oberbürgermeisterin irgend einer Kleinstadt schwärmte in Gedanken noch glücklich vom Buffet, ihre Begleiterin war unsicher wegen ihrer Sexualität und der Generalfeldmarschaal in Uniform strahlt Stolz aus, war aber geplagt von Rückenschmerzen kaum in der Lage ruhig auf seinem Stuhl zu sitzen. Nicht jeder Gast kann genannt werden, aber alle hatten ihre Sorgen und Emotionen mitgebracht.

Der Pianist betrat die kleine Bühne im Smoking. Er ging mit langen Schritten zum Klavier, setzte sich auf den Hocker und schaute eine Weile nur auf seine Noten. Dann hob er den Blick auf sein Publikum, stand noch ein mal auf, verbeugte sich kurz und verlegen. Man nickte ihm zu oder zwinkerte mit den Augen. Kein Applaus, dafür war die Spannung zu groß. Der Pianist setzte sich wieder, atmete ein und aus. Er richtete seinen Rücken noch einmal gerade auf, wie der General auf seinem Stuhl, bevor er die langen Finger seiner sauberen Hände über die Tasten schweben lies. Einen kurzen Moment verharrte er so, sammelte sich, während seine Finger die Tasten nur beinahe berührten. Im Publikum hustete jemand in seine Hand.

Endlich machte ein einzelner Ton leise den Anfang, hob die Stille hervor aus der er kam. Schüchtern folgten die anderen, deren Klang sich anschloss an den Ersten. Eine leichte Brise, eine Melodie ohne Begleitung. Die linke Hand des Pianisten schwebte noch über den Tasten. Zögerlich warteten einzelne Akkorde auf ihren Einsatz. Aus dem Hintergrund gesellten sie sich langsam mit ihren tiefen Tönen zu der Melodie. Mit nur wenigen Anschlägen sorgte die linke Hand dafür, dass die Musik eine Einheit wurde. So bereitete er sein Publikum vor, packte sie ein in die Atmosphäre der Musik, die langsam immer lauter wurde, bis es nichts anderes mehr gab. Der Pianist baute Improvisationen ein, um den Richtungswechsel seiner Musik an zu kündigen, er wollte noch niemand erschrecken. Wiederholungen nutzte er, um sein Publikum in Sicherheit zu wiegen. Er spielte mit den Klängen wurde immer freier und bewegte seine Hände schneller und schneller über die Tastatur. Der Pianist drehte den Wasserhahn auf und überschwemmte sein Publikum mit Tönen. Die Musik floss erst in kleinen Bächen über die Tastatur, wurde zu einem Fluss und letztendlich zu heftigem Seegang im ganzen Raum. Es begann mit einem einzelnen Ton, einem Wassertropfen, der am Glas einer Scheibe hinunter läuft, sich mit anderen verbindet, um immer schneller zu werden, zu einem Fluss auf der Straße und einer Naturkatastrophe im Tal. Viele kleine Schwingungen wurden immer wieder zu einer großen Welle zusammen geführt, ohne das man gewusst hätte, wann genau ein einzelner Ton sich mit einem anderen Klang verband zu einem Größeren, der wiederum andere in sich verschluckte. Hohe Töne sprudelten aus dem Flügel, schlugen auf, zersprangen und gaben ihren Klang frei, begleitet vom Donner der Akkorde. Alles wurde nass, durchtränkt von seiner Musik. Der Pianist riss sein Publikum von ihren Stühlen, warf sie in das kalte Wasser und lies sie hilflos treiben. Ihre Emotionen wurden durch alle Ecken ihrer Seele geschleuderte. Sie trieben mit seiner Musik auf einen Abgrund zu, versteckt hinter den Noten. Der angenehme Abend, die musikalische Reise wurde zu einer turbulenten Bootsfahrt auf den Wellen ihrer eigenen Gefühle. Die Musik hatte nur die Schleusen geöffnet. Der Pianist kannte die Sünden seines Publikums nicht. Seine Finger flossen nur blind über die Tastatur, dem Strom der Töne folgend, die alle nur dem ersten Tropfen gefolgt waren. Wenn sein Publikum, ergriffen von seiner Musik, diese Achterbahn von Gefühlen mit mehr oder weniger Tränen in den Augen überstand, stoppte er plötzlich, genau an der richtigen Stelle. Eine Pause, in der die Musik nach schwappte in den Seelen der Zuhörer. Alle hielten sie die Luft an.

Anschließend griff er sie noch einmal in einem Stakkato aus Rhythmus und wilden Klängen, schüttelte sie kräftig, improvisierte kreativ in die Höhen und Tiefen des Flügels hinein, hämmerte auf die Tasten und vergaß sich selbst. Zum letzten mal stürzte er sein Publikum in die Abgründe ihrer Seelen. Dem Botschafter liefen dicke Tränen über seine rosigen Wangen, der Ministerpräsident saß unsicher in seinem Stuhl, seine Frau neben ihm drückte seine Hand bis ihre Knöchel weiß wurden. Die Oberbürgermeisterin umarmte ihre Begleiterin, die darauf hin zusammen zuckte und das Gesicht des Generals war eingefroren in einer Maske des Entsetzens. Er sah die Toten seiner Kriege ertrinken in einem blutigen Ozean.

Bevor es zu spät war führte der Pianist sie durch leisere Klänge alle sanft nach oben zurück auf ihre Plätze. Erschöpft sanken die Gäste in ihre Stühle, während harmlose Anschläge ihnen wieder Hoffnung gaben. Mit fröhlicheren und einfachen Rhythmen gewann er ihr Herz zurück. Vorhersehbare Melodien brachten sie in bekanntes Territorium. Der Verstand übernahm wieder die Kontrolle. Man wippte mit dem Fuß im Takt oder sang die Melodie im Geiste mit. Die bekannten Schwingungen beruhigten ihre Seelen, die sich wieder schlossen. Die Tränen trockneten, der Herzschlag normalisierte sich und die Erinnerungen verblassten. Der Pianist hatte die Kontrolle über sein Instrument zurück erlangt. Am Ende hatte er sein Publikum wieder dahin geleitet, wo er es haben wollte. Sie sollten ihn schließlich lieben für seine Musik und nicht verstört allein gelassen werden. Dankbar spendeten sie Applaus.
 

Wipfel

Mitglied
wipfel

Thomas, da ist dir eine wunderschöne Beschreibung eines Klavierkonzertes gelungen. Ich kann mir das Stück durchaus als Teil einer Erzählung vorstellen. Grüße von Wipfel
 



 
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