Der Preis des Brotes

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Der Preis des Brotes



Riga, im Herbst 2004 nach Lettlands EU-Beitritt.

Novemberabend im fernen Lettland. Ich stehe auf der Brücke über die Daugava. Unter mir treiben Eisschollen auf dem Fluss. Es hat aufgehört zu schneien. Und gegenüber leuchtet die Märchenkulisse der Altstadt von Riga im Schnee.

Von links nach rechts reihen sich die markanten beleuchteten Türme der alten Hansestadt auf: der Schlossturm, dann die St. Jakobi-Kathedrale, der mächtige Domturm und der verspielte schlanke Turm der St. Petrikirche ganz rechts. Vielleicht nicht immer so, aber über lange Zeiträume bot sich dieser Anblick den ankommenden Schiffsleuten, die aus der Ostsee die Daugava hinauffuhren.

Es ist erst neun und zu früh, schlafen zu gehen. Die klare Luft lädt noch zu einem Bummel in den engen Gassen ein. Ich lasse die Brücke hinter mir und überquere den Boulevard vom 11. November, der am Ufer entlang führt.

Grau und starr glotzt mich jetzt der unpassend moderne Koloss des Lettischen Okkupationsmuseums an, vor dem ich gelandet bin. Er stakt wie ein fremder Finger aus den geschichtsträchtigen Häusern hervor, die sich untereinander schützend aneinander schmiegen und auf ihre Weise der Vergangenheit gedenken. In kommunistischer Zeit ursprünglich zur Erinnerung an die lettischen Roten Schützen erbaut, beherbergt es heute Dokumente von den Tragödien der vergangenen totalitären Besatzungen und des Widerstands.

Um diese späte Stunde ist es natürlich geschlossen, aber draußen an den Eingangswänden kann man bei fahlem Licht von irgendwo her die Schaukästen studieren: eine Sonderausstellung thematisiert Propagandaplakate der beiden sich abwechselnden Besatzungsmächte Nazi-Deutschland und UdSSR gegen den jeweils abzuwehrenden Feind. Das Beispiel, das sie draußen ausstellen, war zur Ermutigung sowjetischer Partisanen und zur Demoralisierung von Sympathisanten des Deutschen Reiches gedacht:

Im klassischen Plakatstil wird vor flammendem Gefechtshintergrund ein Wehrmachtssoldat mit SS-Runen auf dem Stahlhelm dargestellt, der unter dem finsteren Rand seines Helmes scheel zu Seite schielt. Mit einer Hand führt er ein großes Stück Brot in seinen Mund, während seine Augen verschlagen auf eine lettische Mutter blicken, die weinend ihre hungrigen Kinder an sich drückt. Die Botschaft ist klar: das Brot der Letten, die hungern müssen, wird von den herzlosen Besatzern verschlungen. Deshalb ….

Andere Beispielplakate sind vor dem Eingang des Museums nicht zu sehen. Morgens in einem Cafe´ habe schmecken können, wie köstlich heute das dunkle lettische Brot mundet. Alles andere ist Vergangenheit. Lettland ist in der EU.

Ich verlasse diesen düsteren Ort und schlendere am Schwarzhäupterhaus vorbei, dem schönsten Gebäude der Stadt – wiederhergestellt nach den Zerstörungen des Krieges und der Vernachlässigung durch die Sowjets. Gegenüber diesem sanft angestrahlten Kleinod in rot und weiß das hell erleuchtete Rathaus – dazwischen mitten auf dem weiten Platz die Rolandstatue. Gründer von Riga war Bischof Albert von Bremen. Neben dem Rathaus vorbei schleiche ich mich durch die dunklen, nur matt erleuchteten Gassen über schneeglattes Kopfsteinpflaster. Wie aus einem Märchen lockt ein kleines blaues Häuschen mit der verschnörkelten Aufschrift „Alpenrose“ hinter einer Straßenlaterne. Ab und zu huscht eine dunkel vermummte Gestalt durch die nächtliche Winterkälte an mir vorbei. Der Schnee scheint alles zu dämpfen: kein Laut, keine Stimme, keine Autos hier.

Mich rechts haltend, komme ich hinten am Dom mit seinem mächtigen Backsteinturm vorbei. Etwas Lärm ertönt aus den schummrig-gelblichen Fenstern der Havanna-Bar in der Nähe. Es ist immer noch zu früh, um zum Quartier einzukehren, und so halte ich mich hinter dem Domplatz weiter rechts über die Königsstraße bis zur St. Petrikirche mit ihrem wunderschönen Turm, der sich in drei immer schlanker werdenden Kuppeln, die auf Säulen übereinander stehen, bis zum Hahn auf seiner Schwindel hohen Spitze emporschwingt.

Es schneit wieder.

Hinter der St. Petrikirche liegt jetzt verlassen der alte Konventhof mit seinem dunklen Torbogen. Hier ist es jetzt richtig einsam und still. Und plötzlich tritt eine Frau aus dem Dunkel des Tores auf mich zu und bietet mir in ihrer Sprache, die ich nicht verstehe, und dann in gebrochenem Englisch, etwas aus einem Korb an. Ihr Gesicht ist kaum zu sehen unter dem verhüllenden Wollschal. Ich frage sie auf Deutsch, was sie wolle, und sie antwortet in meiner Sprache mit einem schweren fremdländischen Akzent.

„Brot“, sagt sie und dann erkenne ich unter dem schwachen Licht einer Laterne ihr selbst gebackenes Brot in einer halboffenen Tüte.

Als ich schweige, sagte sie weiter: „Es ist nicht vergiftet.“

Ich nehme es und frage: „Wie viel?“

Und sie antwortet: „Geben Sie, was gerecht ist.“

Ich gebe ihr etwas aus meiner Börse und behalte das Brot. Sie bedankt sich überschwänglich und verschwindet dann so schnell, wie sie gekommen war irgendwo im Dunkeln und im Schneegestöber.

Nachdenklich trete ich den Weg zum Herderplatz an, wo meine Wohnung in der Lutherakademie auf mich wartet. Oben blicke ich aus dem Dachfenster direkt auf den Vierungsturm des Domes. Der Schnee fällt in dichten Flocken.

„Geben Sie, was gerecht ist“, hat sie gesagt.

Was ist der gerechte Preis für das Brot einer armen Frau, die in eisiger Wintersnacht Selbstgebackenes verkaufen muß, um zu überleben? Was ist der gerechte zu zahlende Preis für den Nachfahren eines Volkes, dessen Abgesandte einst das Brot der Vorfahren dieser Frau konfiszierten? Ein Lat? 50 Centimes? Ich weiß nicht mehr, wieviel ich ihr gegeben hatte.
 
U

USch

Gast
Hallo Wolfgang,
ein sachlich und sprachlich gut geschriebener Bericht. Ich merke, dass du von der Sachliteratur kommst. Ich kam auch mal daher.
Das Problem sehe ich darin, dass dein Text sehr weitschweifige Stadteinblicke gibt, so wie es ein Reiseführer macht.
Eine gute Kurzgeschichte sollte mich als Leser in das Geschehen mehr hineinziehen.
Z.B. könntest du mit dem Absatz
Grau und starr glotzt mich jetzt der unpassend moderne Koloss des Lettischen Okkupationsmuseums an, vor dem ich gelandet bin. Er stakt wie ein fremder Finger aus den geschichtsträchtigen Häusern hervor, die sich untereinander schützend aneinander schmiegen und auf ihre Weise der Vergangenheit gedenken. In kommunistischer Zeit ursprünglich zur Erinnerung an die lettischen Roten Schützen erbaut, beherbergt es heute Dokumente von den Tragödien der vergangenen totalitären Besatzungen und des Widerstands.
beginnen und daraus eine spannende Geschichte entwickeln und dabei Stadtgegebenheiten immer mal wieder einfliessen lassen.

Zwei Kleinigkeiten:
Morgens in einem Cafe´ habe [blue]ich [/blue]schmecken können, wie köstlich heute das dunkle lettische Brot mundet.
Als ich schweige, sagt[red]e[/red] sie weiter: „Es ist nicht vergiftet.“
Bleib im Präsens!


Wünsche dir viel Erfolg als Neuling hier in der LL
und LG USch
 

Maribu

Mitglied
Hallo Wolfgang Osterhage,

Du vermittelst interessante Einblicke in die Historie der alten Hansestadt.
Dein Anliegen ist aber wohl mehr die Beantwortung der Schuldfrage und der Preis für die Wiedergutmachung. Das kann niemand beantworten!

Es ist eigentlich egal, wieviel Du der alten Frau für das Brot gegeben hast. Dein Mitgefühl und die Gedanken an die Gräueltaten und Ungerechtigkeiten waren viel wertvoller!

Das 'HWWI' sieht die Aufnahme in die Euro-Zone und die Einführung des Euro ab Januar 2014 für Lettland sehr positiv.
"Das kleine Land wird automatisch groß; es verliert seinen Nachteil des kleinen Binnenmarktes".(Direktor Thomas Straubhaar)

Ich hoffe, dass das zutrifft und nicht nur die "Großen" davon profitieren, sondern auch die alte Frau, stellvertretend für die ärmere Schicht, es nicht mehr nötig hat, ihr Selbstgebackenes in der Kälte zu verkaufen!

Liebe Grüße
Maribu
 



 
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