Der Rabe und der Ginster

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Agiulf

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Der Rabe und der Ginster

Karge Ödnis bedeckte die Blöße des Bodenskeletts. Nur Moose und Flechten, verkrümmte Ginstersträucher und trauernde Birken bildeten das angenagte Totenhemd des Leichnams.
Keine Seele, ob Mensch, ob Tier, verirrte sich hierher.
Endlich warf die Dämmerung ihre Schatten auf das leblose Land, über dem nicht einmal der Nachtwind die Totenwache halten wollte.
Am nächsten Tag kam der Regen, peitschte und drosch auf den steinigen Leib ein, daß selbst die Moose, des Wassers überdrüssig, den schwachen Schutz verweigerten.
Einen Raben aber brachte der Regen als Gesellen mit sich, der sich bald auf einer Birke niederließ und sich die Nässe und die Nebeltröpfchen vom Gefieder schüttelte.
Drei Tage schon saß er zusammengekauert an der gleichen Aststelle und rührte sich nicht vom Fleck. Es schien, als ob er die Wache auf der erhöhten Warte widerwillig übernommen hätte.
Am dritten Tage aber ließ plötzlich der Regen nach, die Eintrübung verblasste und ein erster Sonnenstrahl, der ein Loch in die weichende Wolkendecke gerissen hatte, schien dem Raben auf den Schnabel.
Da spreizte der schwarze Vagant die Flügel und wischte sich mit dem Schnabel schließlich die Feuchtigkeit von den Federn.
Dann öffnete er seinen Mund und das sonst übliche Kra-Kra wandelte sich in Worte.
Er plusterte sich noch einmal kurz auf, drückte sodann die Krallen gegen den Ast und schwang sich auf einen Felsbrocken hinab, der einem Ginster gegenüber lag: „He du, mürrischer Genosse, ich heiße Chraban und will dir Gesellschaft leisten“ schreckte der Rabe den Ginster aus seinem weltabgewandten Schlummer auf.
„Kann gut darauf verzichten“, gab der Ginster von sich, „bin´s Alleinsein gewohnt und will auch gar nicht gestört werden. Mein Leben ist ausreichend eintönig, was willst du schwarzgefiederter Tunichtgut also von mir? Ich kann dir nichts bieten, weder Blattwerk, noch ungebetene Gäste. Spann also getrost deine Flügel auf und besuch die Wolken. Die haben wenigstens die Möglichkeit, vor dir Reißaus zu nehmen.“
Der Rabe beäugte wiegenden Kopfes den sich sträubenden und gestrüppigen Strauch und sprach nach einer Weile: „Dir ist doch niemand Feind! Und die bislang umgebende Kümmernis hat sich in ein lebendiges Fleckchen Erde verwandelt. Hast du nicht bemerkt, wie freundlich der Himmel und die Sonne verliebt auf uns hinunter lachen? Und hast du gar nicht bemerkt, wie das Wasser dir die Füße mit Leben erfrischt?
Hör auf dich zu verkriechen und nur dich allein zu sehen! Was soll der Geiz, was soll das schroffe Hadern? Sei freigebig und fang an zu leben, du alter Strauchdieb!“
Etwas kleinlaut gab da der Ginster von sich: „Ich habe nicht danach gefragt, hier zu vegetatieren. Ein tückischer Wicht hat, auf dem Rücken der Windsbraut sitzend, Samen auf schlechten Boden fallen lassen und sein Bruder, der windige Wechselbalg, hat ihn in diese steinige Ritze hineingefegt. Genau an dieser Stelle, wo ich nun mein stilles Regiment führe.
Und so muß ich leiden, seit dem Tage, da ich als Stengel das fahle düstere Licht dieser wüsten Welt erblickte. Was soll ich also an diesem Platz, wo alles vergebens?
Was soll ich tun, damit man auf mein Dasein aufmerksam wird und ich nicht umsonst hier eingewurzelt bin?“
Da sprach der Rabe: „Blühe und dufte!“
Da lief´s dem Ginster plötzlich wie süßer Saft durch die Fasern und die Sonne umschmeichelte seine frischen Knospen, die vor lauter Lust und Freude aufgebrochen waren und den zarten gelben Blüten den Weg nach außen freigaben.
Der Rabe hingegen flog in den Himmel hinein und noch lange konnte man sein Kra-Kra im warmen Windhauch hören.
Und der Ginster?
Nun, der war zum ersten Mal in seinem Leben glücklich und freute sich an dem Gesumme der Bienen, die ihm schon bald täglichen Besuch abstatten sollten.
Seither aber spiegelt sich die Frühlingssonne jedes Jahr auf´s Neue in den Osterblumen und dem gelben Ginster wider und bekundet damit die Schönheit der Schöpfung.
 

Thylda

Mitglied
Lieber Agiulf

Angelockt vom Titel finde ich hier Deine überzeugende Geschichte. Leicht fließt die Sprache artig langsam und ermöglicht das Eintauchen in Deine Bilder.

Erinnert mich an die schottischen Highlands, wo es viele Raben, Besenginster und Stechginster gibt. Letztgenannter verströmt aus seinen leuchtenden Blüten im Frühling einen cocosartigen süßbetörenden Duft und färbt die Berghänge sattgelb.
Sehr gerne gelesen

Liebe Grüße
Thylda
 



 
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