Der Raucher

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petrasmiles

Mitglied
Er sitzt in seiner Kammer und biegt Draht.
Keiner macht ihm etwas vor bei seiner Arbeit.
Er wird respektiert, fast gefürchtet.
Schneidend kommentiert er die Fehler von anderen.
Sein noch junges Gesicht hat tiefe Furchen.
Sein Körper ist atlethisch.
Er ist verheiratet; er will keine Kinder.
Der prügelnde Vater hat ihm dies ausgetrieben.
Zu groß die Angst, selbst einer zu werden.
Wenn der Chef ihn zur Rede stellt, krümmt er sich wie im Schmerz.
Die Furchen werden grauer; die Augen an den Rändern feucht.
Noch tiefer beugt sich dann der Mann über seinen Draht.
Er wird an Lungenkrebs sterben.
 
Liebe Petra,

das ist ein durchaus eindrucksvolles Charakterbild eines Mannes. Kommt mir vor wie eine Konkretisierung von Freuds "analem Charakter". Am besten gefällt mir die viertletzte Zeile.

Kritik muss aber auch sein: Wenn der Titel schon "Der Raucher" heißt, könnte das Thema Rauchen vielleicht schon einmal vor dem Lungenkrebs in der allerletzten Zeile auftauchen. Als Endergebnis der Biographie ist diese Todesart mir für einen insgesamt recht anspruchsvollen Kurzprosatext auch nicht originell genug. Es weiß doch jeder, dass Raucher oft daran sterben. Gerade weil ich alles Vorangegangene sowohl charakteristisch wie auch z.T. rätselhaft finde - was hat es mit der Kammer und dem Draht eigentlich auf sich? -, hätte ich mir ein etwas weniger, mit Verlaub, banales Ende gewünscht.

Hinweis: Die bereits erfolgte Bewertung ist nicht von mir. Ich halte mich insofern an deine Vorgabe und werte bei dir gar nicht.

Schönen Abendgruß
Arno Abendschön
 

petrasmiles

Mitglied
Guten Abend, Arno,

nun, ich weiß nicht, ob man das darf, aber es ist die zusammengeschnurrte Lebensgeschichte eines Mannes, den ich kannte.
Eigentlich wollte ich durch die textliche Marginalisierung des Rauchens auf den Anfang und das Ende hervorheben, dass dieser Mensch nicht am Rauchen gestorben ist, sondern an der Beschädigung seiner Psyche durch die frühe Gewalt in seinem Leben. Andere fahren sich mit dem Motorrad zu Tode oder zersaufen ihre Leber oder was ihnen sonst so widerfährt.
Mein Text richtet sich gegen die Bagatellisierung des Rauchens als Lifestyleschwäche; es gibt einen Grad an seelischer Versehrtheit, da hat jeder das Recht auf seinen eigenen Tod, ohne dass ihn Gesundheitsapostel vorführen dürfen.

Vor allem richtet sich mein Text gegen Gewalt gegen Kinder.
Das ist das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann.

Die kleine Kammer war tatsächlich der Ort, an dem er sich hauptsächlich bei seiner Arbeit aufhielt und den ich als ihm angemessen empfand. Das Drahtbiegen ist nur ein Synonym für irgendeine Arbeit, die er ebenso gewissenhaft ausgeübt hätte.

Ich finde es immer spannend - gerade bei so kurzen Texten - wie unterschiedlich man etwas auffassen kann.
Ich bin mir nicht sicher, dass ich mein Anliegen stärke, wenn ich das Ende verändere.

Gute Nacht - und danke für die Auseinandersetzung mit meinem Text.

Liebe Grüße
Petra
 
O

orlando

Gast
das ist ein durchaus eindrucksvolles Charakterbild eines Mannes (arno)
Hallo Petra,
hier schließe ich mich Arno an.
Deine Kurzprosa, die eigentlich Lyrik ist :eek: ;), gefällt mir in ihrer emotionslosen Art der Darstellung, die das Ungeheuerliche ihres Inhalts um so heller leuchten lässt.
Nur einmal öffnet sich ein Türchen:
Wenn der Chef ihn zur Rede stellt, krümmt er sich wie im Schmerz.
Die Furchen werden grauer; die Augen an den Rändern feucht.
Der einzige erkennbare Mangel ist in der Tat der Titel.
Du könntest überlegen, sinngemäß in Richtung "Arbeitsleben" zu gehen, oder das Eisenbiegen andeuten ...
Aber auch so schon ein gefühltes 8erle. :)

Applaudierende Grüße
orlando
 
P

Personagrata

Gast
Hallo Petra, bündig und nachvollziehbar geschrieben.
Ich beobachte solche Schicksale auch.
Vermutlich raucht der vom Schicksal Benachteiligte,
weil es ihm die einzige Linderung seines betrüblichen
Daseins bedeutet. Falls ich mit dieser Annahme richtig
liege,könntest Du sie mit einem Satz in der Schilderung
seines tristen Alltags erwähnen. Dann würde das Leben
dieses Menschen für Außenstehende leichter erklärbar.
Ein berührender Inhalt, treffend auf den Punkt gebracht.
LG Personagrata
 

petrasmiles

Mitglied
Ich habe eine Idee ...

... wie das so ist, manchmal wird die eigene Intention einem selbst klarer, wenn man sie anderen versucht zu erklären ;)

Ich könnte den Text 'Kinderseelen' nennen, das Drahtbiegen weglassen und den Rauch in die Kammr einfügen.
Sähe dann so aus:

Kinderseelen
Er sitzt in seiner Kammer, die grau vom Rauch ist.
Keiner macht ihm etwas vor bei seiner Arbeit.
Er wird respektiert, fast gefürchtet.
Schneidend kommentiert er die Fehler von anderen.
Sein noch junges Gesicht hat tiefe Furchen.
Sein Körper ist atlethisch.
Er ist verheiratet; er will keine Kinder.
Der prügelnde Vater hat ihm dies ausgetrieben.
Zu groß die Angst, selbst einer zu werden.
Wenn der Chef ihn zur Rede stellt, krümmt er sich wie im Schmerz.
Die Furchen werden grauer; die Augen an den Rändern feucht.
Noch tiefer beugt sich dann der Mann rauchend über seine Arbeit.
Er wird an Lungenkrebs sterben.

Was meint Ihr?

Liebe Grüße
Petra
 
P

Personagrata

Gast
Hallo Petra, so ist es besser verständlich für Außenstehende.
Vielleicht noch ein Satz, der beschreibt, welche Entlastung
das Rauchen für den vom Chef Gemaßregelten bedeutet,
so daß auch ein Nichtraucher das Verhalten versteht. Für
Deinen Protagonisten ist das Rauchen ja in der engen
Eintönigkeit des Lebens der einzige Lichtblick.
Textvorschläge kann ich nicht machen, Dein zügiger
Stil ist authentisch und sollte erhalten bleiben.
LG Personagrata
 
O

orlando

Gast
Och nö,
mach das bloß nicht!
Damit versaust du m. E. das ganze Teil, nimmst ihm sein Geheimnis. Zu viel Erklärung ist immer Sch...e.
Es geht doch nicht um einen Tatsachenroman.

Zwei Titelmöglichkeiten wären
o Eisenspäne
o Metallspäne

das zeigte einerseits die Härte des Ursprungsmaterials (Kindheit) und andererseits den tödlichen Staub, der immer noch aufgewirbelt wird.

Grüßle
Heidrun
 

FrankK

Mitglied
Na, dann will ich auch mal meinen Senf dazugeben. ;)

Liebe Petra,

Die nüchterne, fast analytische Distanz, mit der Du diesen armen Mann beschreibst empfinde ich als sehr starkes Stilelement.

Nach all den vielen Meinungen - darfst Du aus meiner nun auch noch wählen ... ;)

Das "Rauchen" mit an den Anfang zu stellen, gäbe der Geschichte einen "Rahmen", der Start sollte aber nicht so explizit auf den Zigarettenkonsum eingehen, wie in Deinem zweiten Beispiel vorgeschlagen.
"Er sitzt [blue]rauchend[/blue] in seiner Kammer und biegt Draht."
Würde schon ausreichen.
Zum Ende braucht das Rauchen nicht noch extra erwähnt werden, dies ist im "Lungenkrebs" schon indirekt enthalten.

Beides impliziert ein exzessives Verhalten des Mannes, er will es, wenn überhaupt, immer richtig machen (Folge der Kindeserziehung):
Er ist der "stärkste" Raucher.
Er ist der "beste" Arbeiter.
Er ist der "einsamste" Mensch.


Der Titel mit "Kinderseelen" nimmt zuviel vorweg, "Metallspäne" wäre schon recht gut, vielleicht auch nur "Späne". Daraus ableitend möglicherweise auch "Splitter" (selbige entstehen beim Schneiden von Draht).


Ja, ich weiß, zu viele Meinungen verderben den guten Rat.


Grüßend aus Westfalen
Frank
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Frank,

danke auch für Deine Anregungen.

Als Titel könnte man auch 'Drahtkäfig' nehmen - das hat so etwas Doppeldeutiges.

Also, neuer Versuch:

Drahtkäfig
Er sitzt rauchend in seiner Kammer und biegt Draht.
Keiner macht ihm etwas vor bei seiner Arbeit.
Er wird respektiert, fast gefürchtet.
Schneidend kommentiert er die Fehler von anderen.
Sein noch junges Gesicht hat tiefe Furchen.
Sein Körper ist atlethisch.
Er ist verheiratet; er will keine Kinder.
Der prügelnde Vater hat ihm dies ausgetrieben.
Zu groß die Angst, selbst einer zu werden.
Wenn der Chef ihn zur Rede stellt, krümmt er sich wie im Schmerz.
Die Furchen werden grauer; die Augen an den Rändern feucht.
Noch tiefer beugt sich dann der Mann über seinen Draht.
Er wird an Lungenkrebs sterben.

Mal schauen.

Besten Dank an alle.

Liebe Grüße
Petra
 
Hi Petra,

ich habe deinen Text bewertet. Mir war nicht klar, dass du ebenfalls nicht bewertet werden möchest. Sorry dafür!

Ich finde den Text außerordentlich gut. Ich weiß, dass die meisten eine "8" als "normal gut" ansehen, aber ich sehe das anders. Eine 9 oder gar ein 10 sollten nur in ausnahmefällen verteilt werden. Ein Spitzenplatz muss einzigartig sein, sonst wäre es kein Spitzenplatz mehr. Und so steht es zumindest dort, in der Bewertungsskala.

Zum Text:

Ich habe ihn als starke Charakteristik gelesen. Über die folgen des Mißbrauchs in der Kindheit, sehr realitätsnah und präzise beschrieben. Aber das mit dem Rauchen und Lungenkrebs? Passt für mich nicht. Das ist für mich ' too much.' Das zurückgezogene, die verweigerung gegen über einer eigenen, neuen Familie ... das macht den Text stark. Der Lungenkrebs hat ihn für mich überreizt.

Nichts für ungut, ich find es trotzdem einen super Text.

Beste Grüße,

Sonne
 
Petra, die jüngste Version sagt mir am meisten zu. Auch der Titel ist sehr viel besser. Bei "athletisch" fehlt ein "h".

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

petrasmiles

Mitglied
Er sitzt rauchend in seiner Kammer und biegt Draht.
Keiner macht ihm etwas vor bei seiner Arbeit.
Er wird respektiert, fast gefürchtet.
Schneidend kommentiert er die Fehler von anderen.
Sein noch junges Gesicht hat tiefe Furchen.
Sein Körper ist athletisch.
Er ist verheiratet; er will keine Kinder.
Der prügelnde Vater hat ihm dies ausgetrieben.
Zu groß die Angst, selbst einer zu werden.
Wenn der Chef ihn zur Rede stellt, krümmt er sich wie im Schmerz.
Die Furchen werden grauer; die Augen an den Rändern feucht.
Noch tiefer beugt sich dann der Mann über seinen Draht.
Er wird an Lungenkrebs sterben.
 

petrasmiles

Mitglied
Der Drahtkäfig
Er sitzt rauchend in seiner Kammer und biegt Draht.
Keiner macht ihm etwas vor bei seiner Arbeit.
Er wird respektiert, fast gefürchtet.
Schneidend kommentiert er die Fehler von anderen.
Sein noch junges Gesicht hat tiefe Furchen.
Sein Körper ist athletisch.
Er ist verheiratet; er will keine Kinder.
Der prügelnde Vater hat ihm dies ausgetrieben.
Zu groß die Angst, selbst einer zu werden.
Wenn der Chef ihn zur Rede stellt, krümmt er sich wie im Schmerz.
Die Furchen werden grauer; die Augen an den Rändern feucht.
Noch tiefer beugt sich dann der Mann über seinen Draht.
Er wird an Lungenkrebs sterben.
 

petrasmiles

Mitglied
Drahtkäfig
Er sitzt rauchend in seiner Kammer und biegt Draht.
Keiner macht ihm etwas vor bei seiner Arbeit.
Er wird respektiert, fast gefürchtet.
Schneidend kommentiert er die Fehler von anderen.
Sein noch junges Gesicht hat tiefe Furchen.
Sein Körper ist athletisch.
Er ist verheiratet; er will keine Kinder.
Der prügelnde Vater hat ihm dies ausgetrieben.
Zu groß die Angst, selbst einer zu werden.
Wenn der Chef ihn zur Rede stellt, krümmt er sich wie im Schmerz.
Die Furchen werden grauer; die Augen an den Rändern feucht.
Noch tiefer beugt sich dann der Mann über seinen Draht.
Er wird an Lungenkrebs sterben.
 

petrasmiles

Mitglied
Es ist vollbracht!

Vielen Dank, Ihr lieben Mitstreiter,

ich habe jetzt die 'endgültige' Version eingestellt und bin auch sehr zufrieden.
Allerdings konnte ich den Titel, der oben im link steht, nicht ändern, habe ihn daher über den Text gesetzt.
Ich weiß nicht, ob das überhaupt geht, evtl. über einen Moderator, aber ich weiß nicht, wer das ist.

Danke, Arno, für den Hinweis auf den Tippfehler - das 'h' war da, nur an der falschen Stelle :eek:

Noch einmal zu meiner Signatur: Ich habe keine Meinung dazu, wie es andere mit der Werterei halten. Mir geht es in erster Linie darum, klar zu machen, dass ich selbst nicht werte. Ich habe mich darüber geärgert, dass meine guten Wertungen immer schlechter wurden und ich richtig gute Sachen mit meiner Bewertung runterzog. Das liegt daran, dass man quasi bestraft wird, wenn man nur gut wertet. Das soll angeblich verhindern, dass sich Grüppchen gegenseitig hochjubeln. Das mag so sein, ich muss es eh hinnehmen, aber dann werte ich lieber gar nicht. Es würde mir im Traum nicht einfallen, genügend schlecht zu werten, um adäquat gut werten zu können, denn damit ist niemand geholfen. Lieber mache ich mir ein bisschen Mühe mit dem Kommentieren - oder ich spaziere ein Haus weiter.
Natürlich habe ich mich anfangs auch über fette und lange grüne Balken gefreut, aber schnell gemerkt, dass ich bei anderen eher den gegenteiligen Effekt erziele und lass es lieber ganz. Das Kommentieren macht im Grunde mehr Spaß - und ich freue mich auch mehr über ein schriftliches Feedback.

Gute Nacht und eine schöne Woche!

Liebe Grüße
Petra
 

petrasmiles

Mitglied
Liebe schwarze sonne,

vielleicht hast Du nicht den ganzen thread gelesen, denn dort habe ich gesagt, dass es sich um eine reale Person handelt.
Mir geht es in dem Text auch darum, dass die Ursache für selbstschädigendes Verhalten in schweren frühkindlichen Verletzungen liegen kann. So hat man z.B. auch bei Prostituierten herausgefunden, dass sie in signifikant hoher Zahl Missbrauchsopfer waren. Diese Dinge hängen nun einmal zusammen, ob uns das gefällt, oder nicht.
Ich respektiere, dass das für Dich 'too much' ist, aber nicht nur, weil das Leben selbst diese Geschichte schrieb, gehört das Rauchen und der Krebstod hier dazu.

Vielen Dank für die Mühe, die Du Dir gemacht hast.

Liebe Grüße
Petra
 
Hallo Petra,

habe ich in der Tat nicht. Ich finde der Text wirkt jetzt wesentlich besser. Vielleicht auch, weil das Ende unerwarteter kommt. Dieses rauchend in der Kammer, das ist jedenfalls ein bockstarkes Bild. Ich würde eine Nummer hochgehen auf die 9,aber das ist nicht möglich. (seltsam eigentlich)

Beste Grüße,

Sonne
 
P

Personagrata

Gast
Hallo Petra, Du hast die Geschichte nach meinem
Dafürhalten optimiert. Sie lebt von bewegenden
Fakten, die kurz und verständlich geschrieben sind.
Jeder Leser füllt sie zwangsläufig mit seinen
emotionalen Inhalten, die ideale Basis dafür
hast Du geschaffen. Bewerten hätte am besten Dein Protagonist
gekonnt, inwieweit er sich wahrgenommen und verstanden fühlte.
LG Personagrata
 



 
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