Der Richter und sein Engel

Der Richter und sein Engel

Es ist ein Irrglaube, Geister erschienen ausschließlich nachts. Nein.- Hier in der Mittagssonne wiegte sich June an einer auf Rot gestellten Fußgängerampel zu den Klängen der Großstadt: Betonkolosse brummten vertraulich im Basso continuo mächtiger Fundamente, darüber improvisierte virtuos strahlend der Sopran gleißender Glasriesen ad libitum. Kraftfahrzeuge nahmen das schlicht gehaltene Hauptthema auf und variierten dieses in einem Brausen, Trommeln, Hupen, Schellen und Trompeten. In der Ordnung dieses kunstvollen Gefüges einer barocken Suite ließ ein kräftiges Licht Junes Wangen warm aufblühen. Kirschblüten in einem Anflug von hellem Rosé, darüber hingehaucht ein Flageolett von Rot. Schneeweiß strichen beide Hände ein unbeschwertes Winken in den klangerfüllten Raum. Den Saiten der Mittagsthermik entlockten in einem fröhlichen Pizzicato grazil gespreizte Finger ein behagliches Timbre. Der sanfte Schein vielfarbiger Punkte schneite licht und leicht in einem gemächlichen Largo auf dieses entrückte Idyll nieder, hüllte es vertraulich ein: schimmernder Schleier; fein gewirktes Netz. Jeden Widerstand mit sanfter Gewalt lösend legte es sich auf die dem Zauber von Rhythmus, Klang und Farbe verfallene Menge, die zu beiden Seiten der leeren Straße stumm in einer ganzen Pause verharrte. Ohne die Andeutung einer Regung blieben die Uhren einfach stehen. In ehrfurchtsvoller Verehrung des Moments stand die Zeit still. Verharren der Ewigkeit: der Vielklang der Stadt; im Einklang unüberwindbare Wesenheit. Heitere Gelassenheit ewigen Friedens. Darin June ganz. Durfte man von Gespenstern nicht zumindest ein wenig Schauer erwarten?! Nicht zumindest ein wenig Gänsehaut, etwa nicht mit einigem Recht zu Berge stehende Haare oder etwa nicht mit gutem Recht gar den blutleer blass in alle Fasern kriechenden Schrecken eines vor der Zeit eintretenden Nerventods nach dem stundenlang schrill kratzenden Kreischen eines von Geisterhand immer wieder quer über die Tafel gezogenen Kreidestückes?!- Doch. Das durfte man erwarten. Hier jedoch, in vollendeter Harmonie, eins mit sich selbst und seiner Umgebung, stand ein Wesen durch dessen rosig warmes Fleisch die vollen Pauken eines jungen Herzens tief und sonor das Blut trieben. Zu ihrem eigenen Rhythmus tanzte hier anmutig lebendig eine Salomé.- So jedenfalls dachte Henry in einem Anflug von Poesie. Plötzlich zerriss der Vorhang des Tempels. Henrys Blick traf auf Junes. Blut stand in ihren Augen. Tränen, siedende Blasen der Wut, quollen hoch; rot eingeschossen die Bindehaut aus überkochenden Augenhöhlen. Ihr vulkanisches Brodeln und Blubbern und Blasenschlagen spie ihm in sein eben noch poetisches Gesicht: Asche frisst sich in die schreck-starren Pupillen. Triefend glühen Lefzen; gieriges Knurren, harsches Anschlagen. Die aufstiebende Bestie versengt Wimpern und Lider, bohrt sich in die Linsen, sein Innerstes von Flammen fletschenden Reißzähnen zerfetzt. Schweißend versucht er zu flüchten. Gejagt. Gezüchtigt. Gedemütigt. Ein hektisches Hecheln; die Zunge klebt am Gaumen, schnalzt hilflos, kein Wort der Linderung oder gar Rettung für seine gemarterte Seele.
Heiser flüstert ihr Blick und stiehlt sich nach Rache schreiend in deinen Schädel. Völlig wehrlos du. Willenlos du völlig nun. Weh dir ohne Wille, ohne Wehr! Wüstenheißes Flirren entfesselt, glüht alles verzehrend der Wind, willfährig ihrer Vergeltung gehorchend: Nemesis, letzte Vollstreckerin! Stöhnend klagt die Göttin dich an, zerrt ihr Schluchzen vor den Richterstuhl dich, Böses mit Bösem vergeltend. Spießruten lodern hasserfüllt in ihren Augen, die du in flammender Furcht angsterfüllt fliehst. Gehetzt, gefangen, erlegt. Aufgebrochen. Hinabgestiegen. Schwarzes Blut im Asphalt. Rauch in rußigen Schwaden. Dort eine Böe. Sticht Sand dir in die Augen. Bisse. Hier ein Brennen. Scharfzüngig spuckt die Vergangenheit mit sengenden Odem nach dir. Würgegriff. Tausend stumpfe Nadeln hacken das Mal deiner Schuld, tätowiert auf Fetzen von Haut, dir in dein wundes Gehirn. Hilflos ringst du um Luft. Dein weiß gestärktes Hemd, Schafsmagen prall gefüllt, platzt plötzlich laut schlagend im wütenden Sturm, zieht zornig strafend Striemen auf deinen Bauch, deine Brust, deinen Rücken. Geißel der Göttin. Folterknecht. Henker. Dein Haupt voll Blut und Wunden: ein Bersten von Ohr zu Ohr. Ein Reißen entlädt sich zum Krampf, zurrender Schmerz schnürt deine Seele ein. In bitteren Kräutern gart dein Irresein schließlich. Einverleibt Nemesis‘ giftiger Wurm. Kein wohlwollendes Wähnen waltet mehr im rasenden Wahn. Dumpfe Dunkelheit endlich: Ur-Nacht. Stille. Stummer Schrei.
Nervös blinzelnd blickt Henry um sich. Tropenkrankheit. Fieber packt ihn: niemand hatte wissen können, dass June sich vor zehn Tagen in Paris das Leben genommen hatte. Niemand! Oder?!- Nein. Niemand. Und doch macht sich die wirre Menge nun gemein mit June, trägt der aufgebrachte Mobb im Wissen um die Tat June als Corpus Delicti in den Zeugenstand seines Gewissens. Im Namen des Volkes wird verhandelt: Henry. Hochmut! Fall. Hochmut vor dem Fall.- Wieso all der Hohn gegen June? Jede deiner Zeilen hatte sie getroffen wie ein Schrapnell, hatte ihr Herz zerfetzt wie ein Deformationsgeschoß. Du hast es gesehen und hast es genossen. Du hast sie verspottet, hast sie gedemütigt. Ihre Seele lag bettelnd zu deinen Füßen. Du hast nach ihr getreten. Mit dem letzten Wort aus dem Manuskript hier in der Ledertasche ist der letzte Atem aus ihr gewichen.- June! Darling! Lebe! Henry will sich ihr zu Füßen werfen, zu ihr kriechen, sie um Verzeihung anflehen. Zu spät!?- Nie!
Wie von alleine stürzt er mit einem großen Satz in die Straße. Auf sie zu. Ein Stolpern. Die Ampel noch Rot. Ein Taumeln. Sturz. Ein Poltern. Der LKW schlägt ihm die Tasche aus den Händen, ihn zu Boden. Kreischen. Bremsen. Flattern. Seiten fliegen in Wirbeln auf. Krähen mit ihnen. Sein Schädel zerschellt. Auf der Bordsteinkante der starre Blick: ohnmächtig hängt er an den offenen Fenstern des Verlagshauses, wo er sein jüngstes Werk gerade dem Lektor hatte übergeben wollen.

Anais atmete tief durch. Henry hatte die Wahrheit geschrieben. Auch über June. Sicher. Seine Wahrheit; ohne Empfindung; nüchtern und brutal. Wahr nur, was im rostlöchrigen Sieb seines Weltbildes hängenbliebe. Nun war Henrys Körper zerschunden und tot. In welchem Sieb mochte das, was von ihm übrig war, nun hängen bleiben? War überhaupt etwas von ihm übriggeblieben? Würde der liebe Gott ein Sieb der Gnade im Schrank haben, durch das das, was Henry für seine Seele gehalten hatte, nicht fiele?- Das Manuskript klebte an Häuserwänden und Asphalt. Anais blickte zur anderen Straßenseite. Die Menge starrte gelähmt auf den leblosen Körper Henrys. Zeitlupe schlich sich in die Mimik der Leute. Verzerrung. Bestürzung und Schrecken kroch anonym in das Antlitz der Masse. Arme bewegten sich, ruckartig von Zahnrädern getrieben, in Richtung des Toten; Oberkörper, von einer unbekannten Macht gehalten, neigten sich nach vorne, das Gewicht von allen auf ein einziges gemeinsames Sprungbein verlagert, schienen sich wie eine zu groß geratene Amöbe gestaltlos durch das glitschige Gel nicht abzustreifender Hilflosigkeit wabernd nach vorne wälzen zu wollen. Aus diesem zähflüssigen, fadenziehenden Brei, strahlte June sie befreit an und lächelte ihr nickend zu. Worte perlten aus Junes makellos weißen Zähnen. Wie der klare Born eines jungen Baches schien sie lustig und ewig jugendlich vor sich hinzuplappern. Nicht wirklich konnte Anais verstehen, was sie da so unbeschwert von sich gab. June winkte ihr zu: „Engel“. Sie hatte sich nie zwischen beiden entscheiden können, zwischen der Anziehungskraft von Henrys Geist, an den sich anlehnen zu können, sie bislang stets geglaubt hatte, und der Ausstrahlung einer durch und durch weiblichen Seele, in deren Anwesenheit sie sich getragen fühlen konnte. Nun hatte sich Henrys Geist verflüchtigt, war einfach im Abgas-Äther vorbeirasender Autos verpufft. Sie glaubte ins Leere zu stürzen. Ihr wurde schwindelig. In diesem Augenblick stand June plötzlich vor ihr, Angesicht zu Angesicht. Anais spürte ihren warmen Atem. June breitete ihre Arme weit aus und schloss sie mütterlich um ihren in sich zusammensinkenden Körper. Anais schwanden die Sinne. Sie ließ sich fallen. Ein warmer, breiter und ruhiger Fluss. Von unendlicher Zuneigung aufgefangen ließ sie sich tragen: ohne jede Bedingung in Liebe aufgehen dürfen. Jetzt verstand Anais, was June ihr die ganze Zeit zugerufen hatte: „Liebe geht über Wahrheit, Liebe geht über Wahrheit, manchmal zumindest, manchmal zumindest geht Liebe über Wahrheit.“ Sie nickte June wissend zu und warf mit großen Augen fragend einen letzten Blick in die plötzlich losgelassene Menge, die ungehemmt in einer gewaltigen Flut durch die eben geöffneten Schleusen eines Staudammes hin zu Henry stürzte: hatte irgendjemand hier bemerkt, dass sie Henry in die Straße gestoßen hatte? Ein ‚Nein‘ löste sich aus ihrer Kehle, als die Horde donnernd über sie hinweg getrampelt war, sie sich aus dem Schwarz einer plötzlich hereinbrechenden Nacht befreit hatte und spürte, wie ihre Seele auf flauschigen, weißen Schwingen in das Licht des blauen Mittagshimmels dorthin gehoben wurde, wo ein freundlicherer Morgen sie mit offenen Armen willkommen hieße: manchmal ist Liebe der Wahrheit vorzuziehen und manchmal ist die Liebe Wahrheit. Die einzige.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Canisius Tremble, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von Ralph Ronneberger

Redakteur in diesem Forum
 

Languedoc

Mitglied
Hallo Canisius Tremble,

Bezieht sich Deine Geschichte auf Henry und June Miller, und Anaïs Nin? Wenn ja, so ist das das einzige, was ich verstanden habe. Ich müsste den Text noch einmal lesen, um seinen Sinn zu erfassen, aber offen gesagt, er ist nicht gerade leserfreundlich. Ich mag komplexe Texte, aber das zum Beispiel:



Nicht zumindest ein wenig Gänsehaut, etwa nicht mit einigem Recht zu Berge stehende Haare oder etwa nicht mit gutem Recht gar den blutleer blass in alle Fasern kriechenden Schrecken eines vor der Zeit eintretenden Nerventods nach dem stundenlang schrill kratzenden Kreischen eines von Geisterhand immer wieder quer über die Tafel gezogenen Kreidestückes?!- Doch.


… übersteigt meine Rezeptionsfähigkeit. Ich könnte zahlreiche weitere Passagen aus dem Text anführen, die mir, dem Leser, einfach zu viel des Guten sind. Mir scheint, Du möchtest mit der Gewalt von Worten eine Dramatik beschwören, aber mit gewaltigen Worten allein kommt noch kein Drama zustande. Vermutlich hat Dir das Finden und Setzen all dieser Worte eine Freude gemacht, hast aber im Schaffensrausch den Leser vergessen.

Ich weiß auch nicht, wie Du Dein Anliegen, Dein Sujet besser „rüberbringen“ könntest. Mit dieser Überfülle an Partizip-Adjektiven wahrscheinlich nicht. Zu bemüht, zu gezwungen, zu übertrieben nach meinem Geschmack, vor allem auch in der Metaphorik. Satz für Satz müsste man Deinen Text durchgehen und vom Übermaß befreien. Orthografische Fehler sind mir auch aufgefallen, aber das ist das Wenigste.

Soweit ein erster Eindruck

von

Languedoc
 



 
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