Der Ring der Unsterblichkeit

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Der Ring der Unsterblichkeit

Kurzgeschichte von Richard Norden

Als Zeno Mitras den Fuß des Berges erreichte, klebte seine Kleidung vor Schweiß an seinem Körper. Ächzend nahm er seinen schweren Rucksack von der Schulter, warf ihn achtlos neben sich zu Boden und ließ sich auf einen bemoosten Felsen sinken.
Es war früher Mittag, und bevor er mit dem anstrengenden Aufstieg begann, wollte er sich und seinen müden Knochen noch eine kurze Pause gönnen. Während er versonnen zwischen den dichten Baumwipfeln den felsigen, steilen Berghang hinaufblickte, nahm er einen bedächtigen Schluck Wasser aus seiner Feldflasche und ließ seine Gedanken zurückschweifen...
Jetzt, da er so kurz vor dem Ziel war, kam es ihm fast unwirklich vor, dass seine jahrelange Suche nun endlich ein Ende haben sollte. So viele Jahre waren vergangen, so vielen falschen Fährten und Hinweisen war er gefolgt, aber diesmal war es anders, das sagte ihm sein sechster Sinn, der ihn noch nie getrogen hatte. Denn nur durch diesen sechsten Sinn hatte er es geschafft, in seinem Beruf so alt zu werden.
Er war Zeno Mitras, aber alle kannten ihn nur als Zeno Nachtschatten, den Meisterdieb. In den Diebesgilden aller Städte wurde sein Name mit Hochachtung genannt und selbst die fahrenden Sänger und Barden erzählten Geschichten über seine Geschicklichkeit und Gerissenheit.
Selbst für einen Elfen war Zeno schon recht alt, und jedes Mal wenn der Winter kam, spürte er das Herannahen der kalten Jahreszeit in seinen Knochen und Gelenken. Der Sommer war seine Zeit, da fühlte er sich noch wie ein junger Mann, aber in den langen harten Wintern spürte er mehr und mehr sein wahres Alter. Wenn die Tage kürzer wurden und die Nächte kälter, fühlte er sich zur Untätigkeit verdammt.
In diesen Monaten ging er nicht mehr seinem eigentlichen Geschäft nach, sondern suchte mit einer von Jahr zu Jahr steigenden Besessenheit nach Hinweisen auf jenes uralte Artefakt, von dem ihm einst ein alter Necromant erzählt hatte: den Ring der Unsterblichkeit.
Ein Ring mit der Macht, einem die Kraft der Jugend zurückzugeben und einem ewiges Leben zu gewähren. In der Zeit der erinnischen Kriege von einem mächtigen Chronomanten erschaffen, verloren sich die Spuren des Rings vor fast vierhundert Jahren in den Wirren der großen Völkerwanderung.
Alle Spuren, denen Zeno im Verlauf der Jahre gefolgt war, erwiesen sich als falsch oder veraltet, bis jene glückliche Fügung des Schicksals ihn im Grenzgebiet des Zwergenlands mit dem Wandermönch Artes zusammenbrachte.
Nachdem Artes in weinseliger Stimmung andeutete, dass die Mönche seines Ordens einstmals die Hüter des Rings waren, dauerte es nicht mehr lange, bis Zeno ihm entlockt hatte, dass er eine Karte bei sich trug, die den Weg zu jenem verlorenen Tempel wies, in dem bis heute der sagenumwobene Ring liegen sollte.
Zeno wäre nicht Zeno gewesen, wenn er nicht wenige Stunden später mit der Karte des Mönchs in Richtung Süden unterwegs gewesen wäre. Die folgenden Wochen hatte er genutzt, um Informationen über die Gegend einzuholen und seine Expedition vorzubereiten.
Ein zwielichtiger Flusskapitän, seinem Ruf nach ein Schmuggler, hatte ihn bis knapp zwei Tagesreisen von hier mitgenommen und ihn in einer kleinen Handelssiedlung abgesetzt. Zeno, schweigsam wie immer, hatte dort nur seine Lebensmittelvorräte aufgestockt und war anschließend mit unbekanntem Ziel in den dichten Wäldern verschwunden.
Der Weg durch die Wälder war relativ ereignislos verlaufen. Zeno reiste nur bei Tage, nachts kampierte er an einem offenen Feuer, das die zweifellos vorhandenen Raubtiere der Gegend abhalten sollte. Ein schwacher Verschleierungszauber verwischte zudem seine Spuren und verhinderte, dass irgendjemand absichtlich oder durch Zufall auf seine Fährte stoßen konnte.
Doch jetzt war er dort. Wenn alles glatt ging, trennten ihn nur noch einige hundert Meter vom Ziel seiner Träume. Ruhig und besonnen aß er noch ein Stück Dörrfleisch und spülte es mit einem großen Schluck Wasser herunter, bevor er seinen Rucksack öffnete und seine Ausrüstung vor sich ausbreitete.
Die Zeit schien hier still zu stehen. Die Geräusche des Waldes waren verstummt, kein Lüftchen wehte mehr und selbst den Strahlen der Mittagssonne gelang es nicht bis in alle Winkel vorzudringen.
Zeno ließ ein Paar kurze Messer in seinen Ärmeln verschwinden, befestigte drei kleine Ledersäckchen mit verschiedenen Diebesutensilien neben dem Dolch an seinem Lederkoppel und schlang sich ein langes, dünnes Seil um die Schultern. Obwohl das silbrige, halb durchscheinende Seil nicht dicker als ein Bindfaden war, war es imstande, selbst drei Männer von Zenos Statur zu tragen. Fast fünfhundert Goldstücke hatte ihn dieses Prachtstück aus levianischer Spinnenseide gekostet.
Er warf einen prüfenden Blick auf die zerklüftete Felswand, die zum Hochplateau hinauf führte. Am Fuße der Gesteinsformation lag stellenweise meterhoch das Geröll, das sich im Laufe der Jahre aus der massiven Wand gelöst hatte.
Zeno streifte ein Paar ebenso geschmeidige wie stabile Handschuhe aus fein gegerbtem Drachenleder über und machte sich an den Aufstieg. Mit sicherem Blick erkannte er, welche Felsvorsprünge und Spalten ihm sicheren Halt bieten würden, und arbeitete sich langsam Meter für Meter nach oben.
Auch wenn dieser Berg sehr steil und zerklüftet war, stellte er Zeno nicht vor besondere Probleme. Zwei Stunden nachdem er mit dem Aufstieg begonnen hatte, hatte er bereits über zwei Drittel der Wand hinter sich gelassen und freute sich, dass er gut vorankam. Sein Spürsinn als Meisterdieb hatte ihn auch hier nicht im Stich gelassen und mit kundigem Auge hatte er seinen Weg von unten bereits gut vorausgeplant.
Ein schriller Schrei überraschte ihn plötzlich und im gleichen Augenblick streifte ihn der Schatten eines riesigen Raubvogels. Instinktiv presste Zeno sich noch näher an den Fels. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Anscheinend drohte der Vogel ihm, weil er sich unbewusst seinem Gelege näherte.
Während er noch überlegte, was er tun könnte, schoss der Adler schon ein zweites Mal auf ihn herab und kam ihm diesmal schon bedeutend näher. Einfach abwarten war damit also ausgeschlossen, bemerkte Zeno trocken. Was also tun? Die Kletterroute ändern? Auch dies war von zweifelhaftem Erfolg, da er erstens keine großen Alternativen zum Hochsteigen sah und er zweitens nicht einmal wusste, wo dieses verdammte Gelege war.
Vorsichtig versuchte er sein Körpergewicht auf den linken Fuß zu verlagern um so noch mehr Halt zu gewinnen, so dass er seine rechte Hand frei bekam.
Er schlang das vom Felsen herabbaumelnde Seil zur Absicherung um seine linke Hand, hakte mit der rechten seine Lederpeitsche vom Gürtel und erwartete den nächsten Angriff des Vogels.
Als der Adler sich näherte, ließ Zeno die geflochtene Lederschnur nach unten ausrollen, holte aus und verpasste ihm einen gut gezielten Hieb. Wütend krächzend taumelte der Adler nach unten, fing sich auf halber Höhe wieder und ging auf respektvolle Distanz.
Zeno wartete nicht ab, bis der Raubvogel Mut zu einem erneuten Angriff fand. Er stopfte die Peitsche in seinen Gürtel zurück und hangelte sich weiter nach oben.
Endlich hatte er es geschafft, zog sich mit einer Hand über den Rand des Plateaus und sank erschöpft in sich zusammen. Während er langsam wieder zu Atem kam, sah er sich um. Das Bergplateau war nicht besonders groß, vielleicht zweihundert mal dreihundert Meter. Der Tempel, dessen verfallene Ruinen er durch das wuchernde Grün der Bäume und Schlingpflanzen erkennen konnte, war bestimmt einmal wahrhaft prachtvoll gewesen: Die Säulen des äußeren Bereichs waren mit kunstvollen Reliefs und Fresken versehen, die bestimmt die Arbeit eines wahren Meisters gewesen waren.
Aber es musste lange her sein, dass in diesem Tempel den Göttern gehuldigt wurde. Der Größe der Bäume nach zu urteilen war es wohl schon mehrere hundert Jahre her, seit die Priester diesen Berg verließen und die Natur sich zurückholte, was der Mensch ihr zuvor mühevoll abgerungen hatte.
Zeno rappelte sich auf, wischte sich die Hände an der Hose ab und näherte sich vorsichtig den Ruinen. Sein sechster Sinn für alles Magische, den alle Elfen besaßen, ließ sich seine Nackenhaare leicht aufrichten. Elfen konnten Magie erkennen, wie andere Lebewesen die vor Hitze flirrende Luft an einem heißen Sommertag sehen konnten. Und hier gab es mehrere magische Strömungen, die sich überlagerten. Eine besonders starke Präsenz kam von irgendwo innerhalb des Tempels, aber das war nicht alles.
Nein, da war noch mehr im Spiel. Ein unerfahrenerer Mann als Zeno hätte diese dezenten Überlagerungen vermutlich nicht einmal erkannt, so wie ein intensiver Geruch andere Gerüche für eine ungeübte Nase überlagert und unkenntlich macht.
Zeno grinste verschmitzt. Wenn er an der Stelle der Mönche gewesen wäre, die einst ein dermaßen wertvolles Artefakt in diesen Tempel zurückließen, hätte auch er ein paar Fallen hinterlassen, um eine Entweihung des Tempels durch Plünderer zu verhindern. Er hatte mit nichts anderem gerechnet.
Inmitten des Gestrüpps und der dornigen Sträucher erkannte er so etwas wie einen überwucherten Weg aus kunstvoll behauenen Steinplatten. Er folgte dem Weg langsam und vorsichtig, wobei seine Augen den Weg stets aufmerksam nach Stolperfallen oder anderen Auslösern für potentielle Todesfallen absuchten. Selbst wenn der Weg wohl sicher gewesen war, als der Tempel noch bewohnt wurde, musste das ja nicht bedeuten, dass er es auch heute noch war. Aber seine Vorsicht erwies sich als unnötig, und unbehelligt erreichte er den Eingang des Tempels.
Das hölzerne Tor mit den einst prachtvollen Messingbeschlägen wirkte morsch und verfallen. Die Kletterpflanzen des angrenzenden Waldes hatten bereits ihre Wurzeln in das Holz getrieben und die Bretter an einzelnen Stellen auseinandergesprengt.
Zeno tastete forschend über die Beschläge und das Schloss, kratzte vorsichtig mit seinem Dolch eine Furche in das Holz und zerrieb die Späne prüfend zwischen seinen Fingern. Mit leichtem Druck prüfte er, wie weit die Tür nachgab. Dann sprengte er das Türschloss mit einem kräftigen Fußtritt und sprang fast zeitgleich hinter eine der gewaltigen Säulen des Tempels in Deckung.
Im selben Moment, als das Tor knarrend und quietschend nach innen aufschwang, jagte ein wahrer Hagel von Pfeilen sirrend aus der Dunkelheit des Tempels und grub sich in die umliegenden Bäume. Zeno wartete kurz, aber es folgte keine zweite Salve. Nette Idee, grinste er. Hätten die Götter ihn nicht mit derart schnellen Reflexen ausgestattet, hätte er jetzt wie ein Stachelschwein ausgesehen.
Er tränkte einen Lappen mit Öl, wickelte ihn um einen kräftigen Ast und zündete ihn an. Die Fackel loderte und warf zuckende Schatten auf die Wände, als Zeno langsam den Tempeleingang betrat.
Einige Fresken in ausgeblichenen Farben an den Wenden schilderten den Aufstieg des Ordens und ihren früheren Reichtum. Zeno hatte kein Auge für die künstlerischen Aspekte. Mit jedem vorsichtigen Schritt, der ihn weiter in den Tempel führte, suchten seine Augen Boden und Wände nach verräterischen Spuren für Bolzenfallen, versteckte Schalter oder magische Schutzzauber ab. Einige Stellen, die ihm aufgrund ihrer leichten magischen Ausstrahlung suspekt vorkamen, umrundete er so weiträumig wie möglich.
Auf einmal fror er mitten in der Bewegung ein und zog seinen Fuß vorsichtig zurück. Einige der Bodenplatten vor ihm hatten eine leicht andere Farbe als der Rest. Wo die meisten Platten mit einem grünlichen, flaumigen Steppenmoos bewachsen waren, wirkte das Moos auf diesen Platten bräunlich und verdorrt. So als ob sie lange von Wasser und Luft abgeschnitten gewesen wären...
Zeno fiel eine Falle ein, die er vor einigen Jahren in der Burg eines travianischen Kriegsherren entdeckt hatte: Lose in Gelenkachsen aufgehängte Bodenplatten, die einen unvorsichtigen Eindringling unversehens in eine tödliche Fallgrube stürzen ließen. Entweder gab es irgendwo einen Schalter, der den gesamten Bodenbereich arretierte und eine sichere Überquerung ermöglichte, oder einzelne der Platten waren fest.
Die bräunlichen Platten mit dem verdorrten Moos konnten es keinesfalls sein, sie waren wohl innerhalb der letzten Jahre ausgelöst worden. Prüfend streckte Zeno seinen Fuß nach einer der moosbedeckten Platten aus, verlagerte vorsichtig sein Gewicht. Sie hielt...
Sorgsam arbeitete er sich Schritt für Schritt voran. Ein paar Mal stieß er auf lose Platten, die sich bei einer Belastung von vielleicht 20 Pfund (wie Zeno schätzte) schlagartig einmal um ihre eigene Achse drehten. Meist waren die in Drehrichtung benachbarten Platten ebenfalls manipuliert, um den Eindringling auch mit Sicherheit zu erwischen und zu erledigen.
Doch Zeno schaffte es und erreichte wohlbehalten das Ende des Gangs. Die Tür, die ihm nun den Weg versperrte, war von einem anderen Kaliber als die verrottete Eingangstür des Tempels. Massives Metall, mit rätselhaften Schriftzeichen übersät, drei unterschiedlich geformte Schlüssellöcher in der Mitte, die untereinander angeordnet waren.
Zeno pfiff anerkennend durch die Zähne. Da hatten sich die Erbauer des Tempels ja wirklich etwas einfallen lassen... Vermutlich musste man alle drei Schlüssel gleichzeitig drehen, um die Tür zu öffnen. Zeno hakte einen Ring mit verschiedenen Dietrichen von seinem Gürtel und machte sich mit äußerster Vorsicht an den Schlössern zu schaffen. Er hatte die verräterischen kleinen Öffnungen in Decke, Boden und Wänden sofort entdeckt, und er hatte nicht das geringste Interesse daran herauszufinden, was für eine Todesart sich die Erbauer des Tempels für denjenigen überlegt hatten, dem beim Öffnen der Schlösser auch nur der geringste Fehler unterlief.
Sobald er das Schloss soweit hatte, dass eine weitere Drehung des Schlüssels es öffnen müsste, ließ er den Dietrich stecken und wendete sich dem nächsten Schloss zu.
Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis alle drei Dietriche ordentlich untereinander aufgereiht in den Schlössern steckten. Jetzt kam der schwierigste Teil...
Zeno zog eine zusammengefaltete Stange aus seinem Gürtel, deren vier Teile durch ein hindurchlaufendes System von Schnüren aus Spinnenseide zusammengehalten wurden. Mit chirurgischer Präzision befestigte er die Dietriche in den Halterungen des Stabs, prüfte noch einmal ihren sicheren Halt. Dann drehte er vorsichtig an der kleinen Kurbel, die aus dem unteren Ende des Stabs ragte.
Langsam drehten sich alle drei Schlüssel. Klack, klack, klack... Irgendetwas in der Tür setzte sich in Bewegung, und langsam öffneten sich die metallenen Türflügel nach innen.
Vor Zenos Augen erstreckte sich ein gewaltiger, fast kreisrunder Raum. Vier schmale Steinbrücken führten von den Enden des Raums zu einer runden Plattform von vielleicht zehn Metern Durchmesser, die scheinbar frei über einem Abgrund schwebte. Zeno hatte in seinem Leben schon viel gesehen, aber dies erstaunte sogar ihn. Entweder war der Architekt dieser wahnwitzigen Konstruktion ein wahrer Meister seines Fachs gewesen, oder auch hier war Magie im Spiel.
Mit seiner Fackel leuchtete er die Ränder des Abgrunds aus. Sie wirkten felsig und zerklüftet, wie ein natürlicher Abgrund, der sich bis tief in die Eingeweide des Berges hinein erstreckte. Er fragte sich, wie weit es hier wohl hinunterging.
Er bereitete eine weitere Fackel mit einem ölgetränkten Tuch vor und entzündete sie an der alten Fackel. Dann schleuderte er die fast abgebrannte Fackel in die pechschwarze Tiefe des Abgrunds. Der flackernde Punkt wurde immer kleiner, bis er irgendwo in der Tiefe von der Dunkelheit verschluckt wurde. Selbst mit seinen empfindlichen Ohren hörte Zeno nicht einmal den Aufschlag. Dieses Loch musste wirklich verdammt tief sein...
Irgendetwas stand in der Mitte der Plattform, aber der Lichtschein von Zenos Fackel reichte nicht weit genug in den Raum, um mehr als ein unförmiges, kantiges Etwas zu enthüllen.
Der Elf musterte die Brücke mit bedenklichem Gesicht. Sie sah stabil aus, und die einzige magische Präsenz, die Zeno noch spürte, kam von der Mitte der Plattform. Wie auch immer, wenn er dorthin gelangen wollte, gab es ohnehin keinen anderen Weg.
Zeno hätte sich sowieso nicht davon abbringen lassen. Dort in der Mitte des Raums wartete sein Traum auf ihn, den er seit so vielen Jahren wie ein Besessener jagte...
Er packte die Fackel fester und machte sich auf den Weg. Schritt für Schritt näherte er sich der Plattform, erreichte sie schließlich. Der zuckende Fackelschein schälte einen massiven steinernen Thron aus der Finsternis, in dem eine zusammengesunkene menschliche Gestalt in einer schwarzen Kutte saß.
Zeno näherte sich vorsichtig. Der Fackelschein ließ einen auffälligen goldenen Ring mit seltsam glänzenden schwarzen Steinen an der mumifizierten, vertrockneten Hand des Mannes aufglitzern. Er spürte, wie sein Hals trocken wurde. Dies musste der Ring der Unsterblichkeit sein. Er war sich ganz sicher, spürte seine magische Präsenz. Er brauchte ihn sich nur noch zu nehmen, und dann...
Er beugte sich vor, als er eine Bewegung in den verstaubten Falten der Kutte zu erkennen glaubte. Er zuckte instinktiv zurück und starrte die vertrocknete Gestalt entsetzt an.
In diesem Moment streckte sich die Gestalt in der Kutte genüsslich und erhob sich mit einer fast schon beängstigenden Geschmeidigkeit.
Zeno spürte, wie er blass wurde. "Das kann nicht sein!" schrie er fast. "Du bist tot!"
Die Gestalt lachte heiser und krächzend. "Wie kommst du..." Er räusperte sich kurz, bevor er mit nun fast normaler Stimme weiter sprach. "Wie kommst du denn auf diese Idee? Nur weil ich mich nicht bewege, bin ich Deiner Meinung nach tot?"
Er lachte schallend. "Hier gibt es nicht viel zu tun. Solange sich kein Narr wie du hierher verirrt, schlafe ich die meiste Zeit."
"Was bist du?" fragte Zeno angewidert, während er instinktiv einen weiteren Schritt zurückwich.
Der Fremde griff mit beiden Händen in seine Kutte und zog zwei leicht gekrümmte Kurzschwerter hervor. "Sagen wir es so... Ich passe auf diesen hübschen Ring hier auf." Er hob die Hand und ließ den Ring spöttisch im Widerschein von Zenos Fackel aufblitzen.
Zeno rammte die Fackel in einen Spalt zwischen den Steinplatten und zog seinen Dolch. "Ich schätze, dass wir uns nicht friedlich einigen können?"
Der Fremde lachte. "Du hast Humor, mehr als die anderen Narren, die es vor dir hierher geschafft hatten. Aber du hast natürlich Recht. Dein Tod ist jetzt schon sicher, du kannst entweder den leichten Weg wählen und dich in diesen Abgrund hier stürzen oder dich mir in den Weg stellen." Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu. "Wenn du klug bist, wählst du die erste Alternative."
Zeno wechselte den Dolch von einer Hand in die andere. "So einfach werde ich es dir nicht machen. Ich habe verdammt lange nach diesem Ring gesucht. Er gehört mir..."
Der Fremde seufzte. "Ich wusste, dass du das sagen würdest. Von den anderen Narren ist auch keiner freiwillig gesprungen. Also gut, bringen wir es hinter uns."
Leicht gebückt begann er Zeno zu umkreisen, taxierte ihn, suchte nach Schwächen in seiner Deckung. Aber auch Zeno war ein erfahrener Kämpfer. Auch wenn er auf seinen Diebeszügen stets eine gewaltfreie Lösung vorzog, machten ihn seine Geschicklichkeit und Schnelligkeit in Verbindung mit seiner langen Erfahrung zu einem äußerst gefährlichen Gegner.
Die beiden Kämpfer umkreisten sich wie zwei Tiger. Dann attackierte der Fremde mit zwei wuchtigen Schwerthieben, denen Zeno nur um Haaresbreite ausweichen konnte. Von der Wucht seines eigenen Angriffs mitgerissen schoss der Kuttenträger an ihm vorbei, fing sich nur knapp und wirbelte wieder herum, wobei seine Kapuze ihm vom Kopf rutschte.
Er hatte ein kantiges Gesicht mit brauner, mumifiziert wirkender Haut, umrahmt von einer langen schwarzen Mähne. Aber das Auffälligste an ihm waren seine Augen: sie waren völlig weiß, ohne Pupillen.
Er schüttelte sich wie ein nasser Hund. Dann knurrte er "Genug gespielt. Wenn du so etwas wie einen Gott hast, zu dem du betest, solltest du das jetzt tun."
Seine Angriffe erfolgten nun schneller und härter. Meist schaffte Zeno es zwar, die Schläge zu blocken oder ihnen auszuweichen, aber wieder und wieder streiften ihn Schläge seines unheimlichen Gegners und fügten ihm blutende Wunden zu.
Der Fremde bewegte sich mit geradezu unnatürlicher Geschwindigkeit und Geschicklichkeit. Er schien mit seinen Waffen geradezu verwachsen zu sein und mehr als einmal kam es Zeno so vor, als ob seine unheimlichen weißen Augen jede seiner Bewegungen um einen Sekundenbruchteil vorausahnen würden.
Zum ersten Mal in seinem Leben überkam Zeno wirkliche Angst. Er ahnte, dass er diesen Kampf vielleicht nicht gewinnen würde. Dass er anstelle von ewigem Leben nur den Tod finden würde.
Er blutete inzwischen aus einem halben Dutzend mehr oder weniger tiefer Wunden und allmählich spürte er, wie der Blutverlust ihn zu schwächen begann. Dieser Kampf ging zu Ende, und er würde nicht der Sieger sein.
Der Unheimliche wirbelte erneut herum, hob seine Schwerter und stürzte sich mit mörderischer Gewalt auf ihn. Zeno reagierte instinktiv, schleuderte ihm seinen Dolch aus dem Handgelenk entgegen und warf sich zur Seite. Die lange, scharfe Klinge traf den Wächter des Rings mitten in die Brust und drang bis zum Heft ein.
Der Wächter stockte mitten in der Bewegung, drehte sich taumelnd zu Zeno um. Sein braunes, ledrig mumifiziertes Gesicht zeigte Unglauben und Erstaunen, als eines seiner beiden Schwerter aus seiner kraftlosen Hand fiel und scheppernd auf die Steinplatten polterte.
Zeno bückte sich schnell und hob das Schwert auf. "Es wird Zeit für dich zu gehen", knurrte er grimmig. Mit einem wuchtigen Schlag trennte er die Ringhand des Wächters ab, dann versetzte er dem Taumelnden einen kräftigen Tritt, der ihn über den Rand der Plattform in die Tiefe beförderte. Sein langgezogener Todesschrei verhallte irgendwo weit unten in der Dunkelheit, dann herrschte Stille.
Zeno spürte das Blut in seinen Schläfen pulsieren. Die zahlreichen Verletzungen hatten ihn bereits stark geschwächt. Mit zitternden Händen bückte er sich und zerrte den Ring von der mumifizierten Leichenhand des Wächters. Der Ring würde ihn retten, da war er sicher.
Atemlos streifte er sich den Ring über seinen Finger. Es musste einfach wirken, es musste... Auf einmal spürte er ein Ziehen in seinen Adern, das seinen ganzen Körper durchlief. Seine Wunden begannen sich mit verblüffender Geschwindigkeit zu schließen und verblassten bis auf dünne weiße Narben.
Er fühlte buchstäblich, wie sein Körper von einer Kraft und Energie gefüllt wurde, wie er sie nicht einmal in seiner Jugend gekannt hatte. Er hatte es wirklich geschafft, nach all den Jahren... Fast überwältigt vor Glück richtete er sich auf und machte sich auf den Weg zum Ausgang.
Als er die Steinbrücke erreichte, spürte er, wie etwas ihn zurückhielt. Es war, als ob die Luft um ihn herum fester würde... Er kämpfte sich weiter voran, bis er das Gefühl hatte, gegen eine feste Wand zu laufen. Außer Atem wich er wieder zurück.
Verdammte Magier, fluchte er innerlich. Sie hatten irgendeinen Bannzauber um diese Plattform gelegt, der verhindern sollte, dass jemand den Ring von hier entfernt. Er musste ihn hier zurücklassen und ihn holen, sobald er einen Zauberspruch gefunden hatte, der diese magische Barriere aufheben konnte.
Ärgerlich versuchte er, den Ring von seinem Finger zu ziehen – und stockte. Der Ring bewegte sich um keinen Millimeter, saß wie festgewachsen auf seinem Finger. Aber da war noch etwas anderes...
Mit wachsendem Entsetzen sah Zeno, wie seine Haut sich zu verändern begann. Sie wurde dunkler, ledriger, fast wie...
In diesem Moment erkannte Zeno, dass er diese Halle niemals wieder verlassen würde. Er hatte tatsächlich Unsterblichkeit gefunden: als der neue Wächter des Rings - verdammt hier auf ewig zu wachen, bis ein anderer kam, der stärker sein würde als er...
 
H

HFleiss

Gast
Mir hat die kleine spannende Geschichte gut gefallen, obwohl ich mich für Fantasy eigentlich nicht so sehr begeistern kann. Stilistisch hätte ich im Grunde nichts auszusetzen, gäbe es da nicht verschiedentlich Wortdopplungen, die mit einfachen Umformulierungen zu beseitigen wären.
Die Rückblende wird beim Präteritum nicht vollständig im Plusquamperfekt geschrieben, sondern nur der erste und letzte Satz. Das ist aber auch schon alles, was ich zu meckern hätte. Ein bisschen gestört hat mich allerdings, dass es wieder mal um Mord, Totschlag und Haudrauf ging. Vielleicht hättest du die Mumie sich auflösen lassen können oder so etwas? Kann Zeno nicht ein bisschen zaubern?

Aber nichtsdestotrotz: eine gut gebaut Geschichte, ich habe sie gern gelesen.

Viele liebe Grüße
Hanna
 



 
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