Der Rosengarten

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Estrella

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Der Rosengarten

Schon seit ich zu denken begonnen hatte, faszinierte mich das alte Haus. Es war eines jener alten, herrschaftlichen Häuser aus dem 19. Jahrhundert.
Ein großes, stattliches Anwesen, mit einem schmiedeeisernen Tor und einer langen Zufahrt, die rechts und links von mächtigen Laubbäumen gesäumt wurde. Das gesamte Grundstück war von einer hohen Mauer umgeben, um seine Bewohner vor neugierigen Blicken zu schützen. Als kleines Mädchen hatte ich oft durch die Gitterstäbe des Tores gestarrt, um einen Blick auf die zwei Türme des Hauses zu werfen, die im Hintergrund aus dem Grün herausragten. Ich hatte mir nichts sehnsüchtiger gewünscht, als einmal über die Mauer in den Garten schauen zu dürfen. In meiner Fantasie wohnte in dem Haus ein hübscher Prinz, der sich bei meinem Anblick sofort verlieben und mich heiraten würde. Ein einziges Mal war es mir gelungen, an der Mauer hochzuklettern und hinüberzuschauen. Meine Erwartungen waren nicht enttäuscht worden. Grüne Rasenflächen wechselten sich mit Blumenbeeten und Baumgruppen ab. Dazwischen standen Steinfiguren und Springbrunnen, sogar einen Teich konnte ich sehen. Am schönsten jedoch war der Rosengarten. Büsche mit Blüten in sämtlichen Rot-, Rosa-, und Orangetönen breiteten üppig ihre Zweige aus und verströmten einen süßlichen Duft. Inmitten dieser Blütenpracht stand ein weißer Holzpavillon. Leise Musik war zu hören und ein wunderhübsches Mädchen in einem Tutu und Ballettschuhen drehte Pirouetten auf dem Holzfußboden. Mit offenem Mund starrte ich auf das Mädchen. Sie erinnerte mich an die zierliche Ballerina der alten Holzspieluhr, die meine Großmutter mir einmal vom Flohmarkt mitgebracht hatte. Wenn man den Deckel öffnete, erklang eine wunderschöne Melodie und die Ballerina begann zu tanzen.
Ich konnte mich gar nicht mehr von dem Anblick des Mädchens losreißen. Sie bewegte sich mit einer solchen Harmonie und strahlte beneidenswert viel Anmut aus in ihrem hübschen Kleid.
„Was machst Du dort oben? Scher dich sofort da weg“, fuhr mich eine Stimme grob an. Ein Mann in einer grünen Latzhose blickte drohend zu mir herauf. Ich erschrak furchtbar, sprang von der Mauer und lief so schnell ich konnte nach Hause. Das Mietshaus, in dem ich seit dem Tod meiner Eltern mit meiner Großmutter wohnte, war alt und baufällig. Überall blätterte der Putz von den Wänden und im Treppenhaus roch es meistens nach abgestandenem Essen. Die Straße vor dem Haus war nicht geteert, und wenn es geregnet hatte, versank man förmlich im Morast.
Ich erzählte Grossmutter von dem Mädchen im Rosengarten.
„Oh, das muss Mariella gewesen sein“, sagte sie, „die Tochter der Besitzer. Sie ist eine sehr begabte Balletttänzerin und man sagt ihr eine große Karriere voraus.“

Es ist mir nie wieder gelungen, über die Mauer zu schauen. Beim nächsten Mal, als ich es versuchen wollte, hatte man Stacheldraht am oberen Mauerrand befestigt, und so hatte ich mich nicht mehr getraut hinaufzuklettern.

Die Jahre vergingen. Noch oft dachte ich an die schöne Tänzerin aus dem Rosengarten. Ob sie wohl eine berühmte Ballerina geworden war?
Als meine Großmutter starb, ich war damals gerade zwanzig Jahre alt geworden, verließ ich meine Heimatstadt. Während der nächsten Jahre arbeitete ich für eine große Immobilienfirma und verbrachte viel Zeit im Ausland . Einmal erhielt ich von meinem Arbeitgeber den Auftrag, ein Haus in meinem ehemaligen Wohnort zu besichtigen, ein großes altes Anwesen. Schon als ich die Adresse des Hauses gelesen hatte, beschlich mich eine leise Vorahnung, welche in Gewissheit umschlug, als ich vor dem schmiedeeisernen Tor stand. Mein Herz begann laut zu pochen. Selbst nach all diesen Jahren übte das Haus noch immer diese besondere Faszination auf mich aus. Nun würde ich es endlich in Ruhe anschauen dürfen. Ich konnte durch seine Räume und den Garten wandern und musste nicht mehr wie ein Spion versuchen, heimliche Blick zu erhaschen. Forsch drückte ich auf den Klingelknopf. Kurz darauf ertönte eine weibliche Stimme: „Sie wünschen bitte?“ Ich nannte meinen Namen und den meiner Firma, und bevor ich noch hinzufügen konnte, dass ich einen Besichtigungstermin hatte, begann das große Tor sich schon wie von Geisterhand betätigt zu öffnen. Eine unbeschreibbare Vorfreude überkam mich, ich war regelrecht gierig danach, endlich alles zu sehen. Ich ließ mein Auto vor dem Eingangstor stehen und ging langsam auf das Haus zu. Die Bäume entlang der Auffahrt waren in all den Jahren noch dichter geworden, und fast kein Sonnenstrahl gelangte mehr durch das dichte grüne Blätterdach. Hin und wieder blieb ich stehen, um einen Blick in den Garten zu werfen. Er wirkte ziemlich ungepflegt, überall wucherte Unkraut und die Rasenflächen schienen schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gemäht worden zu sein. Aus den Springbrunnen floss kein Tropfen Wasser mehr und die Steinfiguren waren von einer grünen Moosschicht überzogen. Dann lag das Haus vor mir, majestetisch, pompös, die beiden Türme stolz in die Luft gereckt.
Doch auch hier hatte der Zahn der Zeit genagt. Der Besitz schien in den letzten Jahren ziemlich vernachlässigt worden zu sein. Über eine lange Treppe gelangte ich zum Eingangsportal, wo ich bereits von einer älteren Dame erwartet wurde.
„Mein Name ist Delia“, stellte sie sich vor, „kommen Sie doch bitte herein“. Ich betrat vor ihr die riesige Eingangshalle und hielt den Atem an. Im Inneren schien das Haus nichts von seinem einstigen Prunk verloren zu haben. Der Marmorfußboden wirkte zwar an einigen Stellen etwas stumpf, war aber ansonsten blitzsauber geputzt.
An den Wänden hingen ein riesiger eingerahmter Spiegel und viele Bilder. Als ich nach oben schaute, blickte ich auf ein wunderschönes Deckengemälde. Eine große geschwungene Treppe führte in die erste Etage auf eine Galarie.
„Ich werde Ihnen zunächst das Haus zeigen und dann führe ich Sie zu der Hausherrin, sie wartet im Rosengarten auf Sie“, riss mich Delia aus meinen Gedanken.
„Gerne“, sagte ich und zog einen Notizblock und meine Kamera aus der Tasche. Die nächste dreiviertel Stunde gingen wir durch sämtliche Räume des Hauses. Obwohl viele Zimmer schon lange nicht mehr benutzt wurden, und die Möbel mit weißen Laken abgedeckt waren, konnte man doch noch viel von der Schönheit und Eleganz ahnen, die das Haus zu seinen Glanzzeiten einmal ausgestrahlt haben musste. Ich machte mir Notizen und verknipste einen ganzen Film.
„Wenn Sie nun durch die hintere Terrassentür gehen, über die Rasenfläche und links am Teich vorbei, laufen Sie genau auf den Rosengarten zu“, erklärte mir Delia.

Wenige Augenblicke später lag er vor mir. Er war nicht mehr so, wie ich ihn in Erinnerung hatte, die Rosenbüsche wuchsen wild in alle Richtungen und auch hier nahm das Unkraut überhand. Nur der süßliche Duft der Rosenblüten schwebte wie damals in der Luft. Von dem Pavillon, in dem die schöne Ballerina ihre Pirouetten gedreht hatte, war die weiße Farbe abgeblättert. Ich ging darauf zu und bemerkte erst jetzt, dass dort im Schatten eine Frau saß. Sie hatte eine Decke über ihre Beine gelegt und blickte wie selbstvergessen vor sich hin. Ihr dunkelblondes Haar war von vielen grauen Strähnen durchzogen und lieblos im Nacken zusammengebunden. Sie hatte ein verhärmtes Gesicht und wirkt viel älter, als sie wahrscheinlich war.
„Hallo, ich komme von der Immobilienfirma“, sprach ich sie an.
Es war, als ob ich sie von einer langen Reise zurück in die Wirklichkeit geholt hätte. Langsam drehte sie ihren Kopf in meine Richtung und schien mich zu registrieren.
„Oh, guten Tag“. Sie streckte mir ihre Hand entgegen und lächelte mich zaghaft an. Doch das Lächeln umspielte nur ihre Mundwinkel, der Ausdruck ihrer Augen blieb leblos und leer.
„Was für ein schönes Anwesen“, versuchte ich ein Gespräch zu beginnen,
„ich denke, hierfür lässt sich bestimmt ein Liebhaber finden.“
„Ja, das wäre schön. Ich habe leider keine Familie mehr, und für mich alleine ist es einfach zu groß.“
Ich erzählte ihr, wie ich das Haus schon als Kind bewundert hatte, und als ich die schöne Tänzerin erwähnte, da war es, als hätten ihre Augen für einen kurzen Moment aufgeleuchtet.
„Dieses Mädchen bin ich gewesen“, kam es leise über ihre Lippen. „ich habe jeden Tag hier getanzt . Ich war so begabt, wissen Sie, ein berühmtes Tanzensemle hatte mich bereits unter Vertrag genommen. Alle Türen standen mir offen“, sie hielt einen Moment inne und räusperte sich, „bis dieser Verrückte mir alles genommen hat. Meine Träume, meine Freiheit, den Sinn meines Lebens.“
Ihre Hände umklammerten das Buch, welches sie auf dem Schoß hielt , sodass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.
„Er war betrunken und hat einfach die rote Ampel überfahren. Ich überquerte gerade die Straße und er erwischte mich mit voller Wucht. Seitdem bin ich an dieses Ding hier gefesselt.“ Sie zog mit einem Ruck die Decke weg und entblößte den Rollstuhl, in dem sie saß.
„Die Ärzte haben alles versucht, aber sie konnten nichts mehr tun. Ich bin seit dem Unfall querschnittgelähmt.“ Bitterkeit, aber auch Resignation und Hoffnungslosigkeit klangen in ihren Worten mit, und ein Zucken um ihre Mundwinkel verriet mir, wie sehr sie dies alles bewegte.
„Bitte sagen Sie nichts, ich will nicht bedauert werden, helfen Sie mir einfach, das Haus zu verkaufen. Ich kann es nicht mehr ertragen, Tag für Tag hier zu sitzen und in Erinnerungen zu schwelgen.“
Ich fühlte ein unbeschreibliches Mitleid mit dieser armen Frau. Damals, als ich bei meiner Großmutter in der schäbigen Wohnung gelebt hatte und nur meine Träume und Phantasien der einziger Lichtblick gewesen waren, da hatte sie alles gehabt, Reichtum, eine sorglose Jugend und eine vielversprechende Zukunft. Dies alles war ihr in einem einzigen Moment genommen worden und hatte sie als gebrochenen Menschen ohne Hoffnung und Perspektive zurückgelassen. Ein Spruch kam mir in den Sinn, den ich einmal irgendwo gelesen hatte: Das Leben gleicht oftmals einer Rose, die voll erblüht, Stolz und Schönheit ausstrahlt, aber manchmal einfach ohne Grund abgepflückt und weggeworfen wird, um irgendwo einsam zu verwelken.
„Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde einen Käufer für Ihr Haus finden“, sagte ich und drückte ihre Hand.
„Dann bringen Sie mich bitte ins Haus zurück, damit wir den Vertrag aufsetzen können“, forderte sie mich auf.
Während ich sie zurück schob, trug uns der Wind den Duft der Rosen nach.
 
Hi Estrella,

ich finde, deine Story ist sprachlich gut und sorgsam gearbeitet. Mir hat es auch Spaß gemacht, sie zu lesen, wenn auch das Ende sehr früh vorhersehbar ist. Manche Sachen sind m.E. plakativ: Hier das reiche Ballettmädchen, dort das arme Stadtmädchen, deren Eltern ausgerechnet auch noch beide gestorben sind (Das finde ich etwas zu deutlich, ebenso wie den Stacheldraht, der dann auf die Mauer kommt. Hier drohen Klischees.). Vielleicht sollte man an solchen Stellen eher vorsichtiger werden und auf die Geschichte vertrauen als auf solche "Zutaten". Es ist so oder so schon eine "Schicksalsgeschiche", die mich ein wenig an jene schönen Geschichten von Hebbel erinnert. Man landet aber leicht im Sentiment. Zum Schluss ist dem Leser sofort klar, um welches Haus es geht. Es klingt fast merkwürdig, dass die Maklerin nicht auf Anhieb weiß, dass es eben DAS Haus ist, sondern sie nur eine "leise Vorahnung" beschleicht, obwohl sie die Adresse bekommt.
Auch den Unfall mit der roten Ampel finde ich wieder dramatisch und schicksalhaft, ein Fremder ist Schuld, aber das wäre fast ein neues Thema, m.E. wäre auch eine "schlichte" Lösung denkbar, also einfach eine Krankheit ect., glaubhafter als eine Querschnittslähmung, die auch wieder als "Effekt" (Decke) präsentiert wird. So weit meine Gedanken zum Rosengarten, der am Ende verwildert und vernachlässigt ist. Manchmal könnte man den Leser auch "überraschen". Warum sollte zum Beispiel der Rosengarten nicht auch zum Schluss wunderbar gepflegt sein? Wir wissen ja: Verfall des reichen Mädchens - Verfall des Hauses - Verwilderung des Gartens - alles sehr eindeutig, warum nicht einmal ein paar "Widerhaken" und "Abweichungen" bringen.
Ich hoffe, dass du meine Worte als "Anregung" aus meiern Sicht und nicht als "Kritik" verstehst.

Beste Grüße
 

Estrella

Mitglied
Hallo Monfou novou,

Danke, dass Du meine Geschichte gelesen hast und sie Dir gefallen hat. Die Geschichte ist in einem anderen Forum durch vorgegebene Worte entstanden. Sie ist vielleicht etwas voraussehbar und mag auch das eine oder andere Klischee enthalten aber ich denke, ich werde sie mal so stehen lassen. Zumal sie in dieser Fassung auch schon in Österreich veröffentlicht worden ist und eine gute Resonanz bekommen hat.

Liebe Grüsse
Estrella
 



 
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