Der Sandmann

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DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Er sah das Meer und den Strand, so wie jeden Abend.Sie saßen mit diesem Blick im Restaurant und warteten auf das Abendessen, auch so wie jeden Abend.

Aber heute war es anders, und das spürte er.

Er hatte keine Lust mehr, immer nur zu sitzen. Er wollte aufstehen, weglaufen, zum Strand hin, über den Sand rennen, sich dabei anstrengen müssen, um nicht darin zu versinken... dann endlich den festeren Boden spüren, um seine Füße vom Meer umspülen zu lassen ....vor allen Dingen aber wollte er im Sand liegen, sich darin wälzen und eingraben können, ihn überall verteilen ....

Er konzentrierte sich auf die Speisekarte.

Was stand da ? Ein Gedicht ? Das war auch anders, das hatte er noch nie gesehen. Ein schönes Gedicht, er las es langsam für sich:

Ich will mit Dir ans Meer fahren
und will Deine Stimme hören,
die als Echo
am Ufer zurückbleiben wird für lange.

Du wirst Muscheln sammeln
und Dein Haar ordnen,
in dem der Wind endet.

Ich will Deinen Übermut tanzen sehen
auf den Wellen
und dabei sein,
wenn Du den Abend mit Deinen Augen entzündest ...


Er kannte den Verfasser namens Walter Helmut Fritz nicht, aber der Text berührte ihn. Würde er jemals so etwas erleben ? Mit einer Frau? Er wusste es nicht. Er hielt sich für zu jung ...aber mit sechzehn Jahren sehnte er sich doch nach einer Freundin.

Schließlich kam das Essen. Seine Eltern führten eine lebhafte Unterhaltung, aber er beteiligte sich nicht daran. Seine Gedanken schweiften ab.Er sah eine junge Frau, die ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammenband, die ihr Gesicht in die Sonne hielt, die Muscheln sammelte. Sie beugte sich zu ihm herunter... halt, das war ja schon wieder falsch. Er war mit ihr auf gleicher Augenhöhe und sie blickten sich an. Und dann küssten sie sich ...

Plötzlich legte er sein Besteck nieder und sagte zu seinen Eltern: " Ich gehe morgen nicht an unseren Strand."

Die Eltern schwiegen verblüfft. Schließlich fand die Mutter als Erste die Sprache wieder: " Aber wo willst Du denn hin ? Wir machen es doch schon seit zehn Jahren so. Wir müssen dahin!" Er warf ihr einen bösen Blick zu. "Nein, ich gehe nicht. Ich will an den anderen Strand, wo alle sind. Wenn ihr nicht mitkommt, werde ich es alleine schaffen."

Der Vater erwiderte: " Wie willst Du das bewerkstelligen ohne .." . Erschrocken hielt er inne und schlug sich auf den Mund.

Der Sohn schwieg. Er musste jetzt hier weg. Er war kein kleines Kind mehr. Er wollte nicht immerzu bemuttert werden.

Er fuhr langsam mit seinem Rollstuhl aus dem Restaurant in Richtung Promenade. Die Sonne war noch da. Er hielt ihr sein Gesicht entgegen, spürte ihre Wärme und hielt die Augen geschlossen.Morgen würde er ihn versuchen, den Besuch am anderen Strand.
Was hatte Mark Twain gesagt ?

In zwanzig Jahren wirst Du mehr enttäuscht sein über die Dinge, die Du nicht getan hast als über die Dinge, die Du getan hast.
Also löse die Knoten, laufe aus dem sicheren Hafen. Erfasse die Passatwinde mit Deinen Segeln. Erforsche Träume.

Ja, das würde er morgen machen.
 
U

USch

Gast
Hallo Doc,
habe gerade mal in älteren Texten von dir gestöbert. Diese mit Lyrik angereicherte Perle ist mir dabei besonders aufgefallen. Sehr anrührend. Das ist eine glatte ACHT für DICH.
LG USch
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Vielen Dank für Kommentar und Bewertung - hab nur versucht, mich in den Prot hineinzuversetzen - und das schöne Gedicht, im echten Leben tatsächlich auf einer Speise(n)karte zu finden, sollte auch eine Rolle spielen.
LG Doc
 
K

KaGeb

Gast
Klasse, Doc, gefällt mir gut. Man könnte vielleicht das eine oder andere ... ach, ich halt einfach mal meine Klappe und lasse deinen Text atmen :)

LG
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Er sah das Meer und den Strand, so wie jeden Abend. Sie saßen mit diesem Blick im Restaurant und warteten auf das Abendessen, auch so wie jeden Abend.

Aber heute war es anders, und das spürte er.

Er hatte keine Lust mehr, immer nur zu sitzen. Er wollte aufstehen, weglaufen, zum Strand hin, über den Sand rennen, sich dabei anstrengen müssen, um nicht darin zu versinken... dann endlich den festeren Boden spüren, um seine Füße vom Meer umspülen zu lassen. Vor allen Dingen aber wollte er im Sand liegen, sich darin wälzen und eingraben können, ihn überall verteilen ....

Er konzentrierte sich auf die Speisekarte.

Was stand da? Ein Gedicht? Das war auch anders, das hatte er noch nie gesehen. Ein schönes Gedicht, er las es langsam für sich:

Ich will mit Dir ans Meer fahren
und will Deine Stimme hören,
die als Echo
am Ufer zurückbleiben wird für lange.

Du wirst Muscheln sammeln
und Dein Haar ordnen,
in dem der Wind endet.

Ich will Deinen Übermut tanzen sehen
auf den Wellen
und dabei sein,
wenn Du den Abend mit Deinen Augen entzündest ...


Er kannte den Verfasser namens Walter Helmut Fritz nicht, aber der Text berührte ihn. Würde er jemals so etwas erleben ? Mit einer Frau? Er wusste es nicht. Er hielt sich für zu jung, aber mit sechzehn Jahren sehnte er sich doch nach einer Freundin.

Schließlich kam das Essen. Seine Eltern führten eine lebhafte Unterhaltung, aber er beteiligte sich nicht daran. Seine Gedanken schweiften ab. Er sah eine junge Frau, die ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammenband, die ihr Gesicht in die Sonne hielt, die Muscheln sammelte. Sie beugte sich zu ihm herunter... halt, das war ja schon wieder falsch. Er war mit ihr auf gleicher Augenhöhe und sie blickten sich an. Und dann küssten sie sich.

Plötzlich legte er sein Besteck nieder und sagte zu seinen Eltern: " Ich gehe morgen nicht an unseren Strand."

Die Eltern schwiegen verblüfft. Schließlich fand die Mutter als Erste die Sprache wieder: " Aber wo willst Du denn hin ? Wir machen es doch schon seit zehn Jahren so. Wir müssen dahin!" Er warf ihr einen bösen Blick zu. "Nein, ich gehe nicht. Ich will an den anderen Strand, wo alle sind. Wenn ihr nicht mitkommt, werde ich es alleine schaffen."

Der Vater erwiderte: " Wie willst Du das bewerkstelligen ohne ..." . Erschrocken hielt er inne und schlug sich auf den Mund.

Der Sohn schwieg. Er musste jetzt hier weg. Er war kein kleines Kind mehr. Er wollte nicht immerzu bemuttert werden.

Er fuhr langsam mit seinem Rollstuhl aus dem Restaurant in Richtung Promenade. Die Sonne war noch da. Er hielt ihr sein Gesicht entgegen, spürte ihre Wärme und hielt die Augen geschlossen. Morgen würde er ihn versuchen, den Besuch am anderen Strand.
Was hatte Mark Twain gesagt ?

In zwanzig Jahren wirst Du mehr enttäuscht sein über die Dinge, die Du nicht getan hast als über die Dinge, die Du getan hast.
Also löse die Knoten, laufe aus dem sicheren Hafen. Erfasse die Passatwinde mit Deinen Segeln. Erforsche Träume.

Ja, das würde er morgen machen.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo KaGeb, vielen Dank und ich freue mich, wenn dieser Text so atmet wie ein guter Rotwein.;-)
(Man kann an Texten, die schon vor längerer Zeit geschrieben wurden, immer etwas verbessern - seufz. Ein paar Kleinigkeiten habe ich geändert. )
LG Doc
 

HajoBe

Mitglied
Hallo DocSchneider, ein anrührender Text mit einem lyrisch untermalten Spannungsbogen voll unerfüllter Sehnsüchte eines behinderten Jungen auf dem Weg zum Mann. Hat mir gut gefallen.
LG HajoBe
 
A

Architheutis

Gast
Hallo Doc,

ich teile grundsätzlich die guten Kommentare; nur ein kleiner Tropfen Wermut:

Erfasse die Passatwinde mit Deinen Segeln. Erforsche Träume.
Diese Weisheit sehe ich eher als Aufmunterung für Erwachsene, nicht das Leben zu verträumen. Hormongesteuerte Jünglinge muss man doch meist eher anbinden, damit sie nicht vollends davonflattern, oder? :)

Die Adaption passt mMn nicht ganz zum Thema, daher "nur" 7 Punkte.

Lieben Gruß,
Archi
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ach Archi, Du Engel auf Erden, vielen Dank!!! Du hast aber recht, eigentlich passt es nicht. Ist mir damals im Schreibrausch nicht so aufgefallen.
Sagen wir so: Für Jugendliche mit hohem Bildungsgrad wäre das Gedicht geeignet, aber selbst diese befinden sich ja im pubertären Vollrausch, also von daher...
Aber ich lasse es so, weil es mit dem übrigen Text harmoniert.
LG Doc
 
A

Architheutis

Gast
[red]Ach Archi, Du Engel auf Erden, vielen Dank!!! [/red]
Lieber Doc, solch einen Satz musst Du doch für alle sichtbar machen. Und Fettdruck! Und rote Signalfarbe! Unbedingt!

Das habe ich hiermit nachgeholt. :)
 



 
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