Der Saxophonspieler

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animus

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Der Saxophonspieler
Bild zum Thema "Leben"



Ich konnte es kaum abwarten. Das scharfe Zischen der Pneumatik machte mich nervös und ich trat ungeduldig von einem Bein aufs andere. Endlich gab die verbeulte Tür der U-Bahn nach und die Masse der Reisenden zog mich auf den Bahnsteig hinaus. Mir war es egal, ob ich jemanden anrempelte oder nicht, ich drängte mich durch. Mein anfängliches Tempo wandelte sich zu einem hastigen Laufschritt, oft blieb ich mit meinem Koffer in der dichten Menschenmenge hängen. Ohne Rücksicht zog ich ihn immer wieder nach. Die Beschimpfungen hinter mir hörte ich nicht; um die, die ich umrannte, kümmerte ich mich nicht. Als ob ich um mein Leben liefe, durch einen stickigen unterirdischen Tunnel, der kein Ende nahm. Die Angst, zu spät zu kommen, ihn nicht mehr anzutreffen, hetzte mich unerbittlich weiter. Die letzte Treppe nahm ich immer zwei Stufen auf einmal. Mehrmals rutschte ich aus, rappelte mich immer wieder auf, bis ich mit brennenden Lungen, den Koffer fest an meine Brust gedrückt, endlich auf dem Bahnsteig stand. Es regnete durch die zerschlagenen Scheiben der Überdachung und der Wind ließ den aus vielen Ländern angereisten Staub wild durch die Luft wirbeln. Mein Herz blieb fast stehen, als ich den langsam abfahrenden Zug sah. Alle Türen waren geschlossen, nur ein paar Reisende steckten ihre Köpfe durch die schmalen Fenster. Der Anblick nahm mir die letzte Kraft um hinterher zu laufen und noch aufzuspringen. Versteinert stand ich da und beobachtete die Rückwand des letzten Wagons, bis sie verschwand. Mir kam es vor, als ob ein Meer über dem Dach des Bahnsteigs seine Wellen schlagen würde; der Regen schäumte und ich atmete schwer die nasse, staubige Luft des Bahnsteigs ein. Wie ein Gestrandeter auf einer kleinen Insel drehte ich mich hilfesuchend im Kreis. Dann sah ich ihn - auf der anderen Seite der Schienengrube. Trotz seiner Stöckelschuhe, des weißen Kleides, der kleinen Handtasche, des Hutes und der Schminke erkannte ich ihn wieder an seinen Augen. Sie lächelten mich liebevoll an, wie immer.
„Vater!“ schrie ich und streckte ihm meine Arme entgegen.

Ohne den Versuch, sich mit mir zu verständigen, legte er seinen schwarzen Koffer auf den Boden, machte ihn auf und nahm sein geliebtes Saxophon heraus. In gewohnter Manier zog er sich den Tragriemen über den Kopf, richtete ihn quer über die Schulter, hängte das glänzende Instrument ein und setzte das Mundstück auf. Jede dieser Bewegungen kannte ich auswendig aus meinen heimlichen Besuchen seiner Auftritte. Das mehrfache Befeuchten des Mundstückes, das kurze Einblasen und das schnelle Abgreifen der Klappen mit seinen schlanken Fingern glich einem Ritual. Er nahm das Mundstück langsam zwischen seine Lippen, schloss die Augen und fing an zu spielen. Sein Lied, das ihn berühmt gemacht hat.

Jede Note dieser Melodie, egal ob Viertel, Achtel oder Zweiunddreißigstel, ich kannte sie alle. Wie ein Besessener hatte ich dieses Stück wochenlang geübt, mit der Klarinette oder ohne. Bei jeder Gelegenheit trommelte ich den Takt mit den Fingern auf alle möglichen Gegenstände. In der Straßenbahn, in der Bar, in der Küche und auf der Toilette. Ich musste es lernen, um es einmal, ein einziges mal mit ihm spielen zu können.
Wie er legte ich meinen Koffer auf den Boden, nahm die Klarinette heraus, setzte die fünf Teile zusammen und bereitete mich auf das Spiel vor. Mit geschlossenen Augen stieg ich in seine Melodie ein und spielte mich von Note zu Note in einen Rausch, in dem ich nichts anderes hörte als die Sprache seines Saxophons. Es regnete immer noch und der Wind trieb weiterhin sein Unwesen in dem verrosteten Stahlgerüst des Bahnsteigs. Das Wasser lief über mein Gesicht, und ich schmeckte Salz in meinen Mundwinkeln. Ich folgte seinen harmonischen Tönen, schmiegte mich immer wieder weich mit der Klarinette zwischen die Klänge. Unser Atem floss gleichmäßig durch die Klappen der Instrumente und verwandelte das jahrelange Schweigen in einen Dialog, der schwebend über den Schienen seine volle Tiefe entwickelte.

Nur am Rande nahm ich das Geräusch des einfahrenden Zuges wahr, das hektische Gebaren der Reisenden und zuletzt den Pfiff des Schaffners, bevor die stählenden Räder sich in Bewegung setzten und mein einziges Spiel mit ihm davon trugen.
Ich richtete die Klarinette in die Ferne, wo die Schienen miteinander verschmolzen und spielte mein Solo zu Ende. Die zwei leeren Koffer auf dem Bahnsteig schenkte ich dem Wind.



[©animus]
 

animus

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Der Saxophonspieler




Ich konnte es kaum abwarten. Das scharfe Zischen der Pneumatik machte mich nervös und ich trat ungeduldig von einem Bein aufs andere. Endlich gab die verbeulte Tür der U-Bahn nach und die Masse der Reisenden zog und schob mich auf den Bahnsteig hinaus. Mir war es egal, ob ich jemanden anrempelte oder nicht, ich drängte mich durch. Mein anfängliches Tempo wandelte sich zu einem hastigen Laufschritt, oft blieb ich mit meinem Koffer in der dichten Menschenmenge hängen. Ohne Rücksicht zog ich ihn immer wieder hinter mir her. Die Beschimpfungen hinter mir hörte ich nicht; um die, die ich umrannte, kümmerte ich mich nicht. Als ob ich um mein Leben liefe, durch einen stickigen, unterirdischen Tunnel, der kein Ende nahm. Die Angst, zu spät zu kommen, ihn nicht mehr anzutreffen, hetzte mich unerbittlich weiter. Die letzte Treppe nahm ich immer zwei Stufen auf einmal. Mehrmals rutschte ich aus, rappelte mich immer wieder auf, bis ich mit brennenden Lungen, den Koffer fest an meine Brust gedrückt, endlich auf dem Bahnsteig stand. Es regnete durch die zerschlagenen Scheiben der Überdachung und der Wind ließ den aus vielen Ländern angereisten Staub wild durch die Luft wirbeln. Mein Herz blieb fast stehen, als ich den langsam abfahrenden Zug sah. Alle Türen waren geschlossen, nur ein paar Reisende steckten ihre Köpfe durch die schmalen Fenster. Der Anblick nahm mir die letzte Kraft, um hinterher zu laufen und noch aufzuspringen. Versteinert stand ich da und beobachtete die Rückwand des letzten Wagons, bis sie verschwand. Mir kam es vor, als ob ein Meer über dem Dach des Bahnsteigs seine Wellen schlagen würde; der Regen schäumte und ich atmete schwer die nasse, staubige Luft des Bahnsteigs ein. Wie ein Gestrandeter auf einer kleinen Insel drehte ich mich hilfesuchend im Kreis. Dann sah ich ihn - auf der anderen Seite der Schienengrube. Trotz seiner Stöckelschuhe, des weißen Kleides, der kleinen Handtasche, des Hutes und der Schminke erkannte ich ihn wieder an seinen Augen. Sie lächelten mich liebevoll an, wie immer.
„Vater!“, schrie ich und streckte ihm meine Arme entgegen.

Ohne den Versuch, sich mit mir zu verständigen, legte er seinen schwarzen Koffer auf den Boden, machte ihn auf und nahm sein geliebtes Saxophon heraus. In gewohnter Manier zog er sich den Tragriemen über den Kopf, richtete ihn quer über die Schulter, hängte das glänzende Instrument ein und setzte das Mundstück auf. Jede dieser Bewegungen kannte ich auswendig aus meinen heimlichen Besuchen seiner Auftritte. Das mehrfache Befeuchten des Mundstückes, das kurze Einblasen und das schnelle Abgreifen der Klappen mit seinen schlanken Fingern glich einem Ritual. Er nahm das Mundstück langsam zwischen seine Lippen, schloss die Augen und fing an zu spielen. Sein Lied, das ihn berühmt gemacht hatte.

Jede Note dieser Melodie, egal ob Viertel, Achtel oder Zweiunddreißigstel, ich kannte sie alle. Wie ein Besessener hatte ich dieses Stück wochenlang geübt, mit der Klarinette oder ohne. Bei jeder Gelegenheit trommelte ich den Takt mit den Fingern auf alle möglichen Gegenstände. In der Straßenbahn, in der Bar, in der Küche und auf der Toilette. Ich musste es lernen, um es einmal, ein einziges mal mit ihm zusammen spielen zu können.
Wie er legte ich meinen Koffer auf den Boden, nahm die Klarinette heraus, setzte die fünf Teile zusammen und bereitete mich auf das Spiel vor. Mit geschlossenen Augen stieg ich in seine Melodie ein und spielte mich von Note zu Note in einen Rausch, in dem ich nichts anderes hörte als die Sprache seines Saxophons. Es regnete immer noch und der Wind trieb weiterhin sein Unwesen in dem verrosteten Stahlgerüst des Bahnsteigs. Das Wasser lief über mein Gesicht, und ich schmeckte Salz in meinen Mundwinkeln. Ich folgte seinen harmonischen Tönen, schmiegte mich immer wieder weich mit der Klarinette zwischen die Klänge. Unser Atem floss gleichmäßig durch die Klappen der Instrumente und verwandelte das jahrelange Schweigen in einen Dialog, der schwebend über den Schienen seine volle Tiefe entwickelte.

Nur am Rande nahm ich das Geräusch des einfahrenden Zuges wahr, das hektische Gebaren der Reisenden und zuletzt den Pfiff des Schaffners, bevor die stählernen Räder sich in Bewegung setzten und mein einziges Spiel mit ihm davontrugen.
Ich richtete die Klarinette in die Ferne, wo die Schienen miteinander verschmolzen und spielte mein Solo zu Ende. Die zwei leeren Koffer auf dem Bahnsteig schenkte ich dem Wind.




[©animus]
 

Pola Lilith

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Eine ansprechende, "filmreife" Idee - der Inhalt deiner Story. Ähnliches zwar schon oftmals verwendet in Filmbildern für Männerfreundschaften, bei Road Movies u.dgl. - hier aber Vater und Sohn - beide wohl nicht integriert in sich aus dem Rahmen fallend. (Wobei mich hier interessieren würde: Was zieht den Sohn am Vater an? - dessen Berühmtheit? Seine Travestie? Oder beides?)

Formell nicht ganz gefallend, zu viel "als ob" und "wie", überflüssig manche Darstellung der U-Bahn-Szenen (das kennt man, hätte nicht so sehr beschrieben werden müssen). Unklar auch am Ende die Geschichte mit dem Zug - eine Aufgeregtheit, standen sie denn direkt auf dem Gleis? (und was ist eine Gleisgrube?)

Wunderbar die letzten zwei Sätze !

(und übrigens auch die Stimmung, die du mit der Kleidung des Vaters und der Landschaft vermittelst).

Gruß, Pola
 



 
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