Der Schicksalsfluss - Arbeitstitel

NeKu

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Kalt! Es war sehr kühl in dieser Nacht. Sie zog die schmutzige Decke enger um ihre Schultern. Das dünne Sommerkleid wärmte sie nicht. Der Fluss lag still vor ihr. Wenn die Wolken den Halbmond freigaben und sein Licht das Wasser traf, dann sah der Fluss aus wie ein in Silber gegossenes Band. Wie eingeflochtene Perlen im Indio-Schmuck ragten die Sandbänke aus dem silbernen Wasser heraus. Es war sicher einfach von einer der kleinen Inseln zur anderen zu waten. Im Sommer war nie viel Wasser im Fluss. Die Farmer auf beiden Seiten zweigten das lebenswichtige Nass ab um ihre Felder zu bewässern. Der Fluss führte Niedrigwasser.

Das Mädchen kannte den Fluss als Rio Bravo. Rio Bravo del Norte. Der wilde Fluss des Nordens. Sie wusste, dass die Menschen auf der anderen Seite ihn als Rio Grande bezeichneten. Sie waren der Meinung der Fluss gehöre ihnen. Jeder der auch nur am anderen Ufer weilte war verdächtig. Es gab sogar schon Übergriffe vom Norden weil die Federales glaubten eine Gruppe wolle den Fluss überqueren. Sie beschossen sie und warfen Rauchpatronen die in die Augen bissen. Dabei hatten die Frauen nur die Wäsche gewaschen. Das Mädchen verstand nicht warum die Federales so streng waren und niemanden auf die andere Seite ließen. Waren Sie nicht alle die Kinder desselben Gottes? War sie ein schlechterer Mensch weil sie 150 Km weiter südlich das Licht der Welt erblickte? Sie wollten doch nur hart arbeiten und ein paar Dollar verdienen. Die Federales beschimpften sie und bespuckten sie. Sie wurde auch schon verprügelt und Schlimmeres. Wie oft hatte sie es schon versucht? Es mussten wohl sieben oder acht Versuche gewesen sein. Vor einem Jahr hatte sie es nahe der Grenze zu New Mexico versucht. Es gab dort weniger Federales. Sie hatte es sogar auf die andere Seite geschafft. Sie lief eine ganze Weile entlang der Landstraße. Immer wenn ein Fahrzeug kam versteckte sie sich. Als sie fast zwei Tage gelaufen war und sie nichts mehr zu essen und das Wasser aufgebraucht hatte riskierte sie es als Anhalterin weiterzureisen. Zwei Farmhelfer sammelten sie mit ihrem Pickup auf. Auf offener Strecke sagten sie ihr unmissverständlich, dass sie nun „lieb“ zu ihnen sein müsse, sonst würde sie zur Polizei gebracht werden. Sie wollte nicht glauben, dass ihr Versuch zwei Tage und 50 Meilen vom Fluss entfernt nun doch noch scheitern würde. Sie bettelte und wehrte sich so gut sie konnte, aber es half nichts.

Sie kämpfte gegen den Würgereiz. Auch jetzt noch nach einem Jahr. Das Gemeinste war, dass die Gringos sie trotzdem den Federales übergeben hatten. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass es den beiden wohl egal gewesen wäre ob sie einverstanden war. Sie war froh, dass sie Glück im Unglück hatte und die Männer sie nicht schwängerten. Damals hatte sie sich geschworen, dass sie lieber sterben würde als so etwas noch einmal zu erleben.

Warum hatten die auf der anderen Seite solche Angst vor ihnen? Die Federales mit ihren Jeeps, den Hubschraubern, den Ferngläsern mit denen man auch im Dunkeln sehen kann und den Bluthunden. Das Mädchen wusste, dass die USA einmal ihr Heimatland Mexico angegriffen hatten. Aber war denn immer noch Krieg? Die Gringos kamen doch auch in ihre Heimatstadt Ciudad Juarez um sich mit den Frauen zu amüsieren die mehr Wert auf den Yankee-Dollar legten als auf ihren Ruf. Sie betranken sich oft und dann wurden sie schon auch einmal von den Frauen oder anderen Menschen ausgeraubt. Waren sie daran nicht selbst schuld? „Wer Wind säht…“, sagte ihre Mutter immer.

Ihre Mutter versuchte alles um die Familie durchzubringen. Ihren Vater kannte sie nicht. Er hatte sie verlassen als sie sechs Jahre alt war. Die wenigen Erinnerungen die sie hatte waren keine Schönen. Jetzt war sie 17 und hatte mehr erlebt als es für ein junges Mädchen gut war. Ihre Kindheit war geprägt vom Kampf ums Überleben, harter Arbeit und Schule, dann, wenn es die Gelegenheit dazu gab. Sie hatte wie besessen Englisch gelernt. Nur dort im Norden hatte sie eine Chance. Sie musste es einfach schaffen. Das Wohlsein ihrer Mutter und der beiden kleinen Schwestern hing davon ab. Die ältere der beiden war 15 und war schon jetzt mutlos. Wenn sie der Familie nicht helfen konnte, würde sich ihre Schwester schon bald in die erniedrigte Riege der Frauen einreihen die für den Dollar ihre Ehre hergaben. Ihre Mutter hatte sie immer christlich erzogen. Prostitution war für sie eine Todsünde. Und doch; es war doch so einfach.

Sie schüttelte den Gedanken ab. Sie würde es auf die andere Seite schaffen. Sie würde irgendwo bei einer gütigen Familie den Haushalt führen, oder auf einer Farm hart arbeiten. Und vielleicht, vielleicht würde sie einen lieben Mann finden und vom Wetback zum Staatsbürger werden. Wetbacks, so nannten sie die Federales abfällig weil beim Überqueren des Rio Bravo ihr Rücken nass wurde.
Ihr Bruder war drei Jahre älter als sie. Als er 18 war überquerte er den Rio Bravo das erste Mal. Nach dem dritten Versuch hörten sie nichts mehr von ihm. Vielleicht hatte er es geschafft. Aber warum schickte er dann kein Geld nach Hause? Warum meldete er sich nicht? Sie glaubten nicht mehr daran jemals etwas von ihm zu hören. Aber auch das war ein Grund warum sie hinüber wollte. Sie wollte ihren Bruder suchen. Aber in Juarez sagten die Leute, „der Fluss frisst Menschen“.

Das Mädchen schreckte aus ihren Gedanken auf. Die Wolken hatten sich verzogen und gaben den Blick auf den Fluss frei. Es war ihr als habe sie auf der anderen Seite eine Bewegung gesehen. Hörte sie da ein Geräusch? Sie spähte angestrengt auf die andere Seite. Dort fuhr ein Auto am Ufer des Flusses. Mitten im Gelände. Sie sah die schwach flimmernde Tarnbeleuchtung. Langsam bewegte sich der Jeep flussaufwärts. Sie folgte der Fahrtrichtung mit den Blicken. Dann sah sie die Gruppe. Es waren vielleicht zwanzig Menschen. Fünf oder sechs waren schon bis zur Mitte des Flusses vorgedrungen. Die Federales waren noch etwa 2 Kilometer entfernt. Sie würden die Gruppe erwischen. Das Mädchen dachte traurig an die Schicksale der 20. Was würden sie mit ihnen machen. Würden sie sie einfach zurückschicken, sie verprügeln oder Schlimmeres?

Dann überkam sie der Gedanke. Vielleicht war das ihre Chance. Was wenn sie wartete bis die Federales am anderen Ufer beschäftigt waren und dann einfach loslaufen würde? Sie hatte furchtbare Angst, doch ihr Adrenalin Spiegel stieg. Unwillkürlich wanderten ihre Gedanken zu dem 14 jährigen Sergio Adrian Hernandez. Er wurde erschossen als er unter der Brücke von Juarez nach El Paso gehen wollte. Sie hatte ihn gekannt. Er war mit ihrer Schwester in der gleichen Schule. Die Federales hatten gesagt, dass die Gruppe mit Steinen nach ihnen geworfen hatte. Das Mädchen glaubte das nicht. Die Menschen die versuchten in den USA ein neues Leben anzufangen hatten alle schon viele Versuche hinter sich. Sie kämpften nicht. Sie gaben auf und versuchten es ein anderes Mal. Plötzlich fror sie nicht mehr. Sie war hellwach. So musste es gehen. Sie streifte die Decke ab und packte ihr Bündel fester. Vorsichtig rückte sie vor bis zum Ufer des Flusses. Ihre jungen Augen fokussierten den Blick auf die andere Seite. Das Ufer des Flusses bildete eine kleine Bucht. Sie musste vor der Gegenströmung und den Verwirbelungen auf der Hut sein. Schon einmal wäre sie beinahe in seichtem Wasser ertrunken. Von der Bucht stieg das Gelände etwa fünf Meter an. Es war ein steiler sandiger Anstieg von einem Geländeabbruch. Oben begann dann die Steppe. Dort gab es Busch und Baumvegetation in der sie sich verstecken konnte. Etwa dreihundert Meter weiter rechts standen ein alter Silo und eine Scheune. Sonst gab es keine Gebäude. Sie zitterte vor Aufregung.

Weiter oben am Fluss begann die Jagd. Sie hörte Lautsprecher quäken. Kommandos auf Englisch und Spanisch wurden gerufen. Schreie hallten durch die Nacht. Jetzt schob sich eine große Wolke vor den Mond. Sie bekreuzigte sich und rannte los.

Das Wasser des Flusses ging ihr sehr schnell bis zur Hüfte. Sie watete mit aller Kraft und stemmte sich gegen die Strömung. Der weite Rock des Kleides schwamm an der Oberfläche. Ihre Mutter sagte, dass Hosen nichts für Mädchen seien. Wie viel praktischer wären sie doch. Sie verdrängte die unnützen Gedanken und überquerte die erste Sandbank. Nun war sie in der Mitte des Flusses. Sie hörte einen Knall und schaute zu der Gruppe von Flüchtlingen. Mitten über dem Fluss bildete sich ein weißer Feuerball, der an einem Fallschirm herabschwebte. Es wurde taghell. Reflexartig tauchte sie unter und hielt die Luft an. Erst als der helle Schein verschwunden war und sie die Luft nicht mehr anhalten konnte tauchte sie auf. Sie erreichte die nächste Sandbank. Das andere Ufer war noch zehn Meter entfernt. Jetzt! Sie war an Land. Sie rannte auf den Abbruch zu und kletterte hinauf. An der Kante spähte sie vorsichtig in die karge Landschaft. Alles schien ruhig. Sie sprang auf und rannte zwischen den Büschen in Richtung der Scheune.
Dann hörte sie den Hufschlag des Pferdes. Ihre Hochstimmung schwang um in tiefe Enttäuschung. Die Federales würden sie erwischen. Sie versteckte sich in einem Busch, aber der Beamte hielt sein Pferd direkt vor dem Busch an.
„Raus da“, brüllte er auf Spanisch. Sie gab auf. Mit gesenktem Blick und hängenden Schultern trat sie vor den Busch. Ihr langes blauschwarzes Haar hing nass um ihren Kopf und die Schultern. Das Kleid klebte wie eine zweite Haut an ihrem Körper. Sie trug außer einem Slip nichts unter dem Kleid. Alles was man nicht unbedingt brauchte konnte man sich nicht leisten. Sie spürte die Blicke des Mannes und verschränkte die Arme vor der Brust. Er stieg vom Pferd. Der Mann war etwa 50 Jahre alt und trug eine beeindruckende Uniform. Er war groß und schwer. Angsteinflößend. Wortlos nahm er ihre Hände und zog sie nach unten. Handschellen klickten. Er band ein fingerdickes Seil um die Handschellen und saß auf. Langsam ging das Pferd los. Sie hatte keine Wahl und rannte hinter dem Reiter her.
Als sie die Scheune erreichten band der Mann das Pferd an und schob sie hinein. Am Eingang einer leeren Pferdebox stand sie ihm gegenüber und bettelte er solle sie doch gehen lassen, sie würde nie wieder zurückkommen. Jedes Mal wenn sie erwischt wurde nahm sie sich das vor. Und immer versuchte sie es erneut. Die Kiefer des Mannes mahlten auf dem Kautabak. Er spuckte braune Brühe auf den Boden und umfasste mit seiner rechten Hand ihre Brust. Sie begann zu schreien. Laut, panisch. Sie dachte an den Pickup Truck. Der Schlag der linken Hand traf sie hart im Gesicht. Ihre Lippe platzte auf. Sie taumelte mit dem Rücken gegen die Trennwand der Pferdebox. Der Mann setzte nach und riss ihre Arme nach oben. Er hängte die Handschellen in einen großen Nagel am Balken der Pferdebox ein. Sie musste auf den Zehenspitzen stehen. Dann riss er mit beiden Händen das Oberteil des Kleides auseinander. Mit einem Bein drängte er ihre Beine auseinander und zog mit einem Ruck den Slip nach unten.

Nicht noch einmal. Lieber würde sie sterben. In letzter Verzweiflung hängte sie sich mit ihnen 45 Kg in die Handschellen. Dadurch befreite sie ihre Beine vom Gewicht. Sie rammte das rechte Bein hart in den Schritt des Mannes. Dieser schrie wütend auf und beugte den Oberkörper nach vorne. Mit beiden Beinen traf das Mädchen den Mann am Oberkörper und mitten im Gesicht. Der Mann taumelte brüllend wie ein Bulle rückwärts. Sie wusste, er würde sie töten und begann zu beten.

An der Trennwand der anderen Seite hing eine Sense mit der scharfen Seite nach oben. Normalerweise lag sie eng an der Wand an und bedeutete keine Gefahr. Allerdings hatte jemand einen Sattel daneben gehängt und dieser hatte die Sense mit der Spitze nach vorne gelenkt.

Das Mädchen sah wie der Mann rückwärts gegen die Spitze der Sense taumelte. Mit vor Schmerzen geweiteten Augen stöhnte der Mann auf. Ein letzter Atemzug, und der Mann hing still an der Sense.

Das Mädchen schrie hysterisch und weinte und betete zur gleichen Zeit. Sie bemerkte nicht wie ein weiteres Pferd vor der Scheune festgemacht wurde. Sie bemerkte nicht wie sich das Scheunentor öffnete und sie sah nicht die Silhouette eines weiteren Beamten gegen das Mondlicht.

Sie spürte einen weiteren Schlag in das Gesicht. Aber seltsamerweise holte sie dieser Schlag aus ihrer Hysterie. Auch die neu hinzugekommene Person trug die Uniform der Federales, aber es war eine Frau. Die Frau sah zu dem Kollegen. Es war offensichtlich, dass er tot war. Die Sense hatte seine linke Brusthälfte fast 20 cm bis zum Herzen durchschnitten. Sie blickte zu dem Mädchen. Gefesselt, auf den Zehenspitzen stehend, mit baren Brüsten und blutendem Gesicht. Ihr zerrissener Slip um die Fußknöchel.

Sie schloss die Handschellen auf und sagte mit eindringlicher Stimme: \"Lauf um Dein Leben, Mädchen. Und wenn Du weißt was gut für Dich ist, dann kommst Du nie wieder.“

Sie schob sie am Arm nach draußen und in Richtung des Flusses. Das Mädchen konnte es nicht glauben. Zögernd setzte sie sich in Trab. Sie wusste was passieren würde. Die Frau würde sie erschießen. Einfach so von hinten. Auf der Flucht!

Egal! Zumindest hatte das Schwein sie nicht geschändet. Stolz warf sie den Kopf in den Nacken und ging gemessenen Schrittes in Richtung des Flusses. Es dauerte lange Minuten bis sie den Abbruch erreichte, und nichts war geschehen. Als sie zurückblickte sah sie die beiden Pferde vor der Scheune aber kein Zeichen von der Frau. Die Tränen strömten über ihr Gesicht als sie in den wilden Fluss eintauchte. Nie hätte sie gedacht, dass sie einmal froh sein würde ihr eigenes Ufer zu erreichen. Sie war zuhause.
Nie wieder würde sie den Fluss überqueren. Sie dachte an ihre Mutter und ihre Schwestern. Nie mehr hier so nah bei El Paso. Vielleicht weiter unten. Vielleicht. In einer anderen Nacht an einer anderen Stelle zu einer anderen Zeit.
 

Wipfel

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Hi Neku,

sehr emotionaler Text - zumindest versuchst du das zu erreichen. Es glingt auch ganz gut.
Kalt! Es war sehr kühl in dieser Nacht. Sie zog die schmutzige Decke enger um ihre Schultern. Das dünne Sommerkleid wärmte sie nicht.
Kalt. Das ist ein starkes Adjektiv. Warum relativierst du Kalt schon im darauf folgenden Satz? Sehr kühl ist relativ. Eine Sommernacht, einer Winternacht kann es sein. Warum nicht: Es war kalt in dieser Nacht. Die Wiederholung verstärkt hier das Bild. Das dünne Sommerkleid wärmte nicht - ist in Bezug auf die Protagonistin passiv. Lass sie frieren! Verstehst du, was ich meine?
Es war [strike]sicher [/strike]einfach von einer der kleinen Inseln zur anderen zu waten.
In diesem Sinn würde ich noch mal über den Text gehen - das lohnt sich!

Grüße von wipfel
 



 
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