Der Schrank

4,00 Stern(e) 1 Stimme

Cirias

Mitglied
D E R S C H R A N K


Der Himmel beschreibt einen weiten Kreis. Mein Vater sagt, immer da wo ich bin, liegt der Mittelpunkt der Erde. Seitdem er mit einer anderen Frau fortgegangen ist, wohne ich in meinem Zimmer wie in einem Sarg. Wenn ich keine Antworten mehr auf meine Fragen weiß, krieche ich in den großen roten Schrank in meinem Kinderzimmer. Knarzend schließen sich die Türen und durch einen winzigen Spalt sehe ich Staubflimmer durch die Dunkelheit irren. Dumpf verebben die Geräusche im Haus. Dort bin ich allein, bis sie mich finden und ans Licht zerren.

Auch als ein anderer Vater durch das Haus geht, habe ich mich nicht mehr an das Licht gewöhnen können. Wenn mich meine Reisen zwingen, in Hotelzimmern zu übernachten, dann krieche ich schon bald in das dunkle, holzig-warme Innere des Kleiderschranks. Ich warte, bis alle Geräusche um mich herum verstummt sind und das Licht verblasst ist. Erst dann vertraue ich mich meiner Umgebung an. Erst dann schlafe ich mit Frauen, deren Gesichter ich nicht kenne und deren Körper wie Marmelade an mir kleben. Lichtbewegt, wie die verwitterten Schnäbel großer Vögel, öffnen sich die Türen der Schränke. Rätselhaft nah sind unter meinen geschlossenen Augen die Feuer am Strand, das Unvergleichliche und Märchenhaft-Abwesende der frühen Kindheit. Vater schließt mich in den großen Schrank, wenn ich böse bin. Er schließt mich ein in meine Träume.

Wenn ich nach Hause zurückkehre, öffne ich jedes Mal die schweren Türen des roten Schranks in meinem Kinderzimmer.

Diesmal ist es ein Herbsttag und ich bin allein im Haus. Ich finde den Schrank offen. Wimmernd knarzt das Holz, als ich die Türen hinter mir zuziehe. Es ist dunkel. Ich taste nach der Vertiefung im Boden des Schranks, meinem Versteck. Meine Hand bleibt dort liegen. Der traurig-graue Rauch der Träume steigt auf.
Nachts erwache ich. Vorsichtig drückt meine Hand gegen die Schranktür. Nichts. Ich rüttele und ziehe, doch die Türen bewegen sich nicht einen Millimeter. Ich erstarre. Niemand weiß von meiner Anwesenheit. Zaghaft fange ich an zu rufen, doch es bleibt still. Die Schrankwände umschließen mich wie eine zweite Haut. Sie beginnt zu atmen. Ihre Poren öffnen sich. Augenknöpfe starren aus den Ritzen. Eine Tür fällt ins Schloss. Ich höre meine Stimme: "Papa, geh nicht fort."
 
Hallo Cirias
Eine sehr traurige Geschichte, eines wahrhaft verschlossenen Jungen. Das verlassene, geprägte Kind, dass den Schrank auch im Erwachsenenalter noch nicht verlassen konnte.
Doch ein Satz stört mich in dieser mehr oder weniger freiwilligen Schutzsuche.
Vater schließt mich in den großen Schrank, wenn ich böse bin.
Dieser Satz hebt das Bild des geliebten Vaters auf. Oder habe ich alles falsch verstanden?
lG Billenstone Nati
 

Cirias

Mitglied
Hallo Billenstone Nati (interessanter Name...was immer er zu bedeuten haben mag...),

der von dir zitierte Satz ist insofern wichtig als dass er ja ein Trauma bezeichnet, das in der Wiederholung geheilt werden soll. Also ist es durchaus nicht das Bild des geliebten Vaters, sondern aufgrund der angedeuteten Umstände vielmehr der Vater, der nie da ist...Aber Missverständnisse sind ja da, um sie aufzuklären,

herzliche Grüße und Dank,

Cirias
 
Hallo, Cirias!

Ich weiß nicht recht, wie ich meinen Gesamteindruck von deinem Text zusammenfassen soll. Eine seltsame Geschichte - seltsam vermutlich durch die Metaphern und Bilder, die du mit deinen Worten beschreibst. Ich habe mir die Geschichte mehrmals durchgelesen und bei fast jedem Satz musste ich hinterher erstmal inne halten und überlegen, was du jetzt mit diesem Ausdruck für einen Hinweis geben willst.

Die Geschichte hat einen traurigen Klang, da kann ich Billenstone Nati nur zustimmen. Aber irgendwie wirkt das Wort "Träume" darin sehr stark auf mich ein. Der ganze Text wirkt irgendwie träumerisch, als hinge er nicht ganz mit der Realität zusammen - sehr passend natürlich zum Ich-Erzähler, dadurch erhöhst du noch den subjektiven Eindruck, den der Leser erhält.

Das Ende macht mir fast schon Angst. Die Verwandlung des schützenden Verstecks in ein vereinnahmendes Monster geht unter die Haut. Besonders dieser Satz am Schluss, die einzige wörtliche Rede, unterstreicht die Verlassenheit, die ja durch das ganze Schrank-Motiv insziniert wird. Vielleicht war es gerade dieser Nachhall der Geschichte, der mich dazu veranlast hat, sie genauer unter die Lupe zu nehmen.

Ich hätte dann noch eine Frage an dich. "Ich taste nach der Vertiefung im Boden des Schranks, meinem Versteck. Meine Hand bleibt dort liegen." Irgendwie kann ich mir darunter nichts vorstellen. Was meinst du mit diesem Versteck?

So, ich hoffe, das war einigermaßen verständlich.

Liebe Grüße,

Cliff
 

Cirias

Mitglied
Hallo Cliff,

erst einmal herzlichen Dank für deine Leseeindrücke. Du verstehst es, diese sehr intensiv und aus einem inneren Erleben heraus zu schildern. So erlebe ich meinen eigenen Text noch einmal aus einer ganz anderen Perspektive und fühle ihn durch dich sozusagen erkannt, da mir gerade dieses Surreale, Träumerische ein Anliegen war.
Das Versteck ist ein Motiv aus der Kindheit- viele Kinder, auch ich, haben im Schrank (ältere Schränke haben oft Geheimfächer) solche Verstecke gehabt- hier ist somit ein Moment der Vertrautheit gemeint, ein Augenblick der geborgenheit in einer bedrohlichen Situation. Ich hoffe, diese Erklärung hat dir weitergeholfen,
danke noch einmal für deine Gedanken,

herzliche Grüße, Cirias
 



 
Oben Unten