Der Schuss

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Wipfel

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Der Schuss

Es war am ersten Sonntag im Januar 2004. Kurz bevor ich ins Kosovo-Gebiet abkommandiert wurde. In der Nacht hatte es geschneit. Solch ein friedliches Weiß, diese Stille über dem Land. Alles sah so unschuldig aus. Uschi trug unter dem Mantel das blaue Kleid, obwohl es eigentlich viel zu kalt dafür war. Ich sehe sie noch, sehe, wie sie, an einem alten Birnbaum lehnend, ihr Gesicht im Sonnenlicht wärmt. Dann, als ob sie einer inneren Stimme gehorchen würde, öffnete sie langsam den Mantel, zog das Kleid über ihre Knie und winkte mich heran. Ich rieche noch den aufsteigenden Duft ihres Schoßes, dazu die Schneeluft gemischt mit ihrem Parfüm. Und ich höre ihr Stöhnen, ihre unterdrückten Schreie, spüre im Nacken ihre gekrallten Fingernägel.

Niemals sollte dieser Tag vergehen, niemals!
Doch auf einmal war ich in dieser Unglücksstadt Mitrovica, einer Stadt etwa so groß wie Weimar. Messerscharf geteilt leben die Menschen hier, geteilt durch die Ibar, einen harmlosen Fluss. Im kleineren Norden der Stadt leben zumeist Serben, die Albaner mit ihrer eigenen Sprache im südlichen Teil. Wie so oft zwischen den Fronten, verstecken sich in einer früheren Kaserne am Rande der Stadt einige Hundert Roma.

Mitrovica war über Jahrhunderte immer eine multiethnische Stadt. Man wohnte nebeneinander, Kinder gingen gemeinsam zur Schule. Die Männer schufteten in den nahe gelegenen Gruben, während die Frauen als Verkäuferinnen, Lehrerinnen, Ärztinnen und Krankenschwestern das restliche Leben organisierten.
Was nur ist geschehen, was hat diese Menschen so sehr entzweit, dass man inzwischen sogar die Toten ausgräbt. Tote, die seit alter Zeit auf gemeinsamen Friedhöfen ruhen und nun auf die andere Seite des Flusses gebracht werden?

Ich hatte mich zum Ende meiner Dienstzeit für einen 4-monatigen KFOR-Einsatz gemeldet; ein richtiger Kampfeinsatz reizte mich. Außerdem konnte ich den zusätzlichen Sold für den Start in ein zweites Leben gut gebrauchen. Man hatte uns so gut es ging mit Informationen versorgt. Wir wussten von den Spannungen zwischen Serben und Albanern. Seit Jahren kam es immer wieder zu Zusammenstößen. Unsere Aufgabe sollte es sein, genau diese zu verhindern.

Die ersten Tage im Feldlager waren hart. Das Lager machte seinem Namen alle Ehre: übereinander gestapelte Wohncontainer, daneben Versorgungszelte und Sanitäreinrichtungen, alles errichtet mitten auf einem Feld. Über der nahe gelegenen Stadt lag eine knisternde Spannung, wir konnten sie förmlich spüren - ab und zu hörten wir Schüsse in der Ferne.

„Vollidioten!“, rief Hauptmann Kademann, der schon den dritten Monat vor Ort war. „Das sind alles Vollidioten, ballern aus Langeweile in die Luft und schauen, wie wir darauf reagieren. Ich sage Ihnen, hier braut sich etwas zusammen. Deshalb fordere ich von jedem äußerste Wachsamkeit und Disziplin!“
Sprüche. Immer wieder nichts als Sprüche. Ich weiß nicht, wie viele Vorgesetzte schon vor mir standen und mit bemühter Wichtigkeit ihre Standards abgespult hatten. Kademann war nicht anders. Die Hände auf dem Rücken, die Beine gespreizt, das Koppel tief unter dem mächtigen Bauch geschlossen. Während er redete, wippte er auf Zehenspitzen, vielleicht, weil er so seinen Worten mehr Schwung verleihen wollte.

„Damit das klar ist: Unsere Aufgabe besteht nicht darin, hier für irgendjemand Partei zu ergreifen, uns ist es egal ob jemand Serbe oder Albaner ist. Wir sind einzig dazu da, Gewalt zu verhindern - egal von wem sie ausgeht!“

Das leichte Zittern in der Stimme des Hauptmanns ließ mich aufhorchen. Etwas schien ihn zu ergreifen.
„Soldaten! Es gibt einen feinen Unterschied zu Ihrer bisherigen Dienstzeit: Sie sind hier nicht auf irgendeinem Manöver, bei dem es zum Schluss für alle heiße Gulaschsuppe gibt! Dieser Einsatz mitten in Europa, unser Feldlager hier, die Schießereien in der Nacht und das Einsammeln der Toten am Morgen sind bittere Realität.“
Neben mir stand Reinhart und äffte die Bewegung nach. Ich musste grinsen und freute mich, dass wir diesen Hauptmann gemeinsam nicht leiden konnten.

Reinhart und ich schliefen in einem Zimmer und verstanden uns auf Anhieb. Gab es Ausgang, versuchten wir gemeinsam etwas zu unternehmen. Viel Abwechslung gab es nicht in Mitrovica, hier mal ein Café, da eine Kneipe mit einigen Tischen und einer sehr übersichtlichen Speisekarte. Und es gab dieses Tanzlokal, das seit einigen Wochen wieder geöffnet hatte. Wenn wir am Tag auf Patrouille vorbeifuhren, schüttelten wir jedes Mal ungläubig den Kopf und riefen uns zu: „Was? In diesem Schuppen waren wir? Unglaublich!“

Doch wenn das Abendlicht die Wahrheit verschluckte, wenn Fackeln vor dem Saal brannten und drinnen die Kerzen auf den Tischen leuchteten, wenn die Band auf die Bühne trat und die ersten Takte dieser Musik mit ihren eigenwilligen Rhythmen erklangen, dann strömten sie aus beiden Teilen der Stadt herbei: Frauen und vor allem Männer, die Abwechslung suchten und diese sich auch leisten konnten. Der Saal füllte sich schnell; Wein wurde aus Krügen ausgeschenkt, Bier und Slivovic dazu, aber auch Kaffee und Tee. Zunächst fragten wir uns, ob man sich hier traf, um so ganz nebenbei miteinander Frieden zu schließen. Doch es sah eher danach aus, als ob die Knochenberge der letzten Jahre nur etwas zur Seite geschoben und mit dem berauschenden Gefühl zurückkehrenden Lebens zugedeckt würden.

In Wirklichkeit kamen alle wegen Miriam, alle wollten diese Schönheit singen hören. Ich spürte eine Leichtigkeit, die ihre kristallklare Stimme in mir erzeugte; kurz darauf schnurrte sie ihre Texte wie ein Kätzchen in das Mikrofon. Und wenn sie wollte, stampfte sie voller Heißblut solange auf der Bühne herum, bis der ganze Saal bebte und voller Begeisterung ihr zujubelte. Dann tanzte sie mit ihren langen schwarzen Haaren über die Bühne und immer wieder wunderten wir uns, woher sie diese Ausdauer nahm.
Gleich am ersten Abend passierte es: Reinhart und ich saßen an einem der vorderen Tische und Miriam sang gerade voller Hingabe und scheinbar völlig in sich versunken. Als sie sich dem Publikum wieder zuwandte, traf mich ihr Blick. Sie sah mich an, streckte ihren Arm aus und zeigte zu mir – und ich begriff: jetzt, in diesem Moment singt sie nur für mich. Ein kurzes Lächeln, als sie merkte, dass ich ihr zu Füßen lag – und schon war sie beim Nächsten. Wie sie das machte war einfach genial.

Einen nach dem anderen kassierte sie. Die Einheimischen schnalzten mit der Zunge und jemand rief uns auf Deutsch zu: „Tja, die Miriam, das ist eine, was? Niemand sonst kann so von der Liebe singen! So eine habt ihr in Eurem Deutschland nicht!? Oder doch? Ob sie Albanerin ist? Albanerin oder Serbin, wen interessiert das? Miriam singt für uns alle!“

Einige Wochen später sagte so etwas niemand mehr. Hätten ich geahnt, was passieren würde, ich wäre niemals in das Lokal gegangen. Nach unserem Ausgang an diesem Abend jedoch lag ich in meinem Doppelstockbett, und noch immer spürte ich diesen Blick. Ich beugte mich zu Reinhart hinunter und scherzte: „Damit das klar ist, Miriam gehört mir!“
Erst schwieg er, statt zu lachen und fragte dann leise: „Und was ist mit deiner Uschi?“

Nach und nach lernten wir ein paar Leute kennen, setzten uns an ihre Tische und diskutierten über Europa, über Bayern München und den Rest der Bundesliga. Fadil, ein sportlicher Mann in unserem Alter, mit kantigem Gesicht und kurzen schwarzen Haaren, hatte wohl einen Narren an uns gefressen. Er sprach fließend deutsch und hat, wie er uns erzählte, viele Jahre seiner Kindheit in München gelebt. Immer neuen Leuten stellte er uns vor. Wir versuchten uns die fremden Namen zu merken und mit der Zeit lernten wir seine Clique kennen. Abresha, Fadils Freundin, war mit Miriam befreundet – und manchmal, nach ihren Auftritten, setzte sich Miriam für ein paar Minuten an unseren Tisch. Verschwand aber bald mit Abresha und ihrem Bruder Maxim in die Dunkelheit. Von dem, was um uns vor sich ging, verstanden wir nicht viel. Doch Fadil erklärte und übersetzte uns geduldig jede Einzelheit.

Wann immer es uns möglich war, zogen Reinhart und ich in das Tanzlokal. Doch es gab Abende, da musste ich Dienst schieben oder, wie an jenem Samstag, eben er. Als ich im alten Tanzlokal ankam, saßen Fadil und seine Freunde schon an einem langen Tisch und diskutierten heftig.

„Was ist los?“, fragte ich Fadil

„Kann sein, dass es hier bald ungemütlich wird. Vielleicht ist es besser du haust ab“

„Ungemütlich? Wie meinst du das? Woher wollt ihr das wissen?“

„Der Wirt hat eine Warnung erhalten, wollte eigentlich gar nicht öffnen. Viel mehr weiß ich auch nicht.“

Zum ersten Mal saß ich inmitten einer solch aufgeheizten Stimmung. Miriam sang so schön wie jeden Abend, doch heute liefen ihre Blicke ins Leere, die geduckten Köpfe wollten einfach nicht zu ihr aufsehen. Ich griff zu meinem Handy und rief Reinhart an: „Wo steckst du?“

„In der Nähe der Mitrovica Brücke, warum?“

„Hier braut sich was zusammen, keine Ahnung was hier gleich abgeht, aber irgendetwas wird passieren, da bin ich sicher!“

„Ja und? Moritz, du weißt, dass dies so nicht funktioniert. Mach eine ordentliche Meldung beim Stab und bring mich nicht in solche Schwierigkeiten!“

„Zu spät, Reinhart, zu spät. Hör zu! Vor dem Lokal hält gerade ein gelber Lada, oh Scheiße! Die Leute die da aussteigen sind bewaffnet, zwei mit Maschinengewehren, der dritte hat eine Pistole in der Hand! Sie entsichern ihre Waffen und kommen jetzt auf uns zu! Reinhart, schwing endlich Deinen Arsch hier her und hol mich hier raus!“
„Kannst Du das Kennzeichen entziffern? Ich brauch mehr Details! Du weißt, dass ich erst Meldung….“

Einer der drei, riss mir das Handy aus der Hand und schmiss es durch die offene Tür auf die Straße. Dann fuchtelte er mit der Pistole herum und rief etwas in den Saal. Diesmal brauchte Fadil nicht zu übersetzen, auch ich nahm wie alle anderen die Hände hoch. Blitzartig war die Kapelle mit Miriam von der Bühne verschwunden, nur die Boxen brummten und knackten in die Stille. Der Pistolenmensch, ein Mann in blauen Jeans und einer undefinierbaren Uniformjacke, rief kurze Anweisungen in den Saal, die ich nicht verstand. Fadil flüsterte: „Sie wollen Miriam…!“

„Miriam? Aber warum?“

„Wenn Miriam nicht rauskommt, wollen sie uns erschießen… Alle!“

In diesem Moment hatte ich Angst, eine richtige Heidenangst. Fieberhaft überlegte ich, was für Möglichkeiten mir blieben. Ich hatte keine Ahnung, mit wem wir es da zu tun hatten, geschweige denn, was die von Miriam wollten. Der Pistolenmensch zerrte willkürlich einen jungen Mann aus der Menge. Er musste niederknien und spürte kurz darauf die Pistole im Genick. In diesem Moment hörten wir lautes Motorengeräusch. Endlich, dachte ich. Wir drehten uns um, sahen, wie ein Panzerspähwagen den gelben Lada rammte und langsam vor sich her schob. Dann, als ob er sich dieses Gelb nur zurechtlegen wollte, schob er es quer auf die Straße und nahm rückwärts fahrend erneut Anlauf. Auf einmal kam Bewegung in die drei, fluchend rannten sie aus dem Saal und drohten dabei mit ihren Maschinengewehren. Sie sprangen ins Auto und rasten davon.

Erst war es mucksmäuschenstill, der arme Kerl kniete noch immer, stand jetzt auf und wischte sich den Angstschweiß von der Stirn. Dann sah ich, wie Reinhart aus dem Spähwagen kletterte, er winkte mir zu. Zunächst war es nur ein zartes Klatschen, immer mehr stimmten ein, dann schwoll das Ganze zum rhythmischen Applaus. Die Menge lief auf die Straße, wollte ihren Helden feiern. Ich strömte mit ihnen hinaus - und suchte nach meinem Handy. Als ich es endlich fand und mich danach bückte, stand plötzlich Miriam vor mir.

„Du hast Reinhart gerufen, stimmt's?“

„Miriam! Ich wusste gar nicht, dass du deutsch sprichst…“

„Dann weißt du es eben jetzt.“ Sie kam auf mich zu und küsste mich auf den Mund. „Danke!“, flüsterte sie.

Ich stand verdattert da. Was will sie denn von mir, fragte ich mich? Oder träume ich nur? Doch sie hakte sich bei mir unter, dirigierte mich zurück in den Saal - und war schon wieder entschwunden. Die Band kehrte auf die Bühne zurück und spielte was sie konnte. Der Saal tobte, alle wollten diesen kleinen Sieg feiern und alle riefen im Sprechchor: „Miriam! Miriam! Miriam!“

Fadil legte die Hand auf meine Schulter, zog mich zur Seite und sagte: „Komm mit, wir müssen etwas besprechen!“

In einem kleinen Nebenraum saßen schon Reinhart und Abresha. Typisch, dachte ich und zwinkerte Reinhart zu, du spielst nicht gern den Helden.
„Kannst du mir sagen“, erkundigte er sich und blätterte dabei in seinem Diensttagebuch, „was hier eigentlich los war?“

„Tja, soviel ich verstanden habe, wollten die Typen Miriam kidnappen…“

„Ja, das stimmt“, ergänzte Fadil, “die Männer gehören zu den Leuten von Ali, Miriams Bruder. Der hat schon immer etwas dagegen, dass seine Schwester hier singt.“

„Sie ist Albanerin?“, fragte Reinhart.

Fadil nickte und meinte wütend: „Ja, zum Teufel, sie ist Albanerin. Aber darum geht es nicht, durchgeknallte Typen gibt es auch bei den Serben. In Amerika laufen sie Amok, in Italien ballert die Mafia um sich und in Deutschland prügeln die Neonazis Ausländer windelweich. Na und?“

Er wollte noch etwas sagen, schwieg dann aber und sah mich dabei an.

„War dieser Ali mit dabei?“ wollte Reinhart wissen.

„Ach was, der macht sich doch die Hände nicht schmutzig - und Ali wird vor Wut kochen, kann ich Euch sagen.“

Abresha sagte etwas und strich sich dabei eine Haarsträhne unter ihr Kopftuch. Ihre Stimme klang hart und energisch.

„Was meint sie?“

Fadil räusperte sich und übersetzte: „Sie sagt, dass er es wieder und wieder versuchen wird. Vielleicht sogar schon heute Nacht.“ Fadil machte eine kurze Pause, sah Abresha unsicher an, bekam als Antwort nur einen festen und auffordernden Blick.

„Sie sagt auch, Ali wird die Albaner gegen die Serben aufhetzen, man muss ihn stoppen. Bevor er nicht tot ist, wird er keine Ruhe geben. Helft ihr uns? Es geht um Miriam, aber auch um diese Stadt!“
Reinhart klappte sein Buch zu und schüttelte energisch den Kopf.

„Seid ihr denn alle übergeschnappt? Wir machen ja vieles, wenn der Tag lang ist, aber wir sind bestimmt nicht hier, um irgendwelche Familienstreitigkeiten zu klären. Das macht mal schön selber!“

Reinhart hatte Recht. Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Plötzlich sprang die Tür auf, Miriam trat in den Raum, die Kapelle spielte ohne sie weiter.

„Was ist“, lachte sie, doch es war eine leichte Unsicherheit in Ihrer Stimme, „Ihr schaut ja so, als ob sie mich schon mitgenommen hätten. Kommt lacht mit mir, endlich hat sich Ali jemand in den Weg gestellt.“

„Du bist in Gefahr, Miriam“, sagte ich zu ihr.

„Und du willst mich beschützen?“

Schon wieder diese mehr als eindeutige Geste – und mir fehlte die Phantasie, zu ergründen, was dafür der Auslöser gewesen sein könnte. Ich hatte keine Ahnung. Reinhart konnte nicht darüber lachen und sah auf die Uhr.
„Komm Moritz, dein Ausgang ist sowieso gleich abgelaufen. Ich bring dich ins Feldlager zurück.“

„Spinnst du jetzt völlig?“, fragte ich ihn entsetzt. „Ich lasse doch Miriam nicht von diesem Verrückten einkassieren!“

„Nur damit ich das richtig verstehe, du willst bei ihr übernachten? Das ist unerlaubtes Entfernen von der Truppe, das weißt du!“

„Ich will, dass sie morgen früh noch lebt und abends hier wieder singen kann. Das ist alles. Und sollte mich das zwei Tage Karzer kosten, na und? Daran stirbt man nicht…“

„Warte hier!"

Reinhart verließ den Raum und schmiss wütend die Tür hinter sich zu.
Fadil, Abresha, Miriam und ich schwiegen, nur die dumpfen Klänge der Musik drangen zu uns herein. Miriam begann in stolzer Haltung und mit verschränkten Armen auf und ab zu gehen. Schön sah sie aus in ihrem roten Kleid. Ihre Absätze knallten auf den Steinfußboden, dann ein schmirgelndes Geräusch wenn sie wendete. Mein Handy klingelte.

„Hallo?“

Am anderen Ende brüllte eine Stimme: „Wuttke?“
Ich hielt das Handy zu und flüsterte: „Der Spieß…“

„Ich habe soeben Ihren Ausgang verlängert, Sie Armleuchter, ist das klar?!“

„Klar, Herr Hauptfeldwebel!“

„Nun bilden Sie sich bloß nichts darauf ein. Morgen früh pünktlich 7:00 Uhr ist für Sie Dienstbeginn – und da stehen Sie hier auf der Matte, ist das klar?“

„Verstanden Herr Hauptfeldwebel, Dienstbeginn morgen früh 7:00 Uhr! …ähm, was für ein Dienst, wenn ich fragen darf?“

„Na Sie fahren Patrouille, wie ich hörte, kennen Sie sich ja bestens aus in der Szene!“

Es klickte, Hauptfeldwebel Stelzner hatte aufgelegt – und Reinhart hatte mich heute Abend das zweite Mal gerettet.
Miriam fragte: „Was ist das, ein Spieß?“

Als ich am nächsten Morgen ins Zimmer trat, schlief Reinhart schon – oder tat jedenfalls so. Ich tauschte meine Sachen mit der Uniform, setzte mich an sein Bett und legte meine Hand auf seine Schulter.
„Danke, Alter, das werde ich dir nie vergessen!“

„Und was ist jetzt mit Uschi?“ murmelte er.

„Erzähl ich dir, wenn ich wieder komme.“

Wenig später meldete ich mich pünktlich zum Dienst und ging mit dem Gefreiten Petzold zur Waffenausgabe. Es war Sonntag, und ich hatte es geahnt: wir wurden zur Bewachung des Mitrovica Marktes abkommandiert. „Marktaufsicht“ nannten wir es – und das hieß, in der Märzkälte herumstehen und frieren. Die Müdigkeit saß mir in den Knochen. Doch ich liebte diesen Markt. Er hatte etwas Orientalisches, war übervoll mit allen erdenklichen Früchten, Gewürzen und Tieren der Region. Sie wollen eine Ziege? Kein Problem, da hinten rechts gibt es welche. Oder lieber doch etwas Safran? Probieren Sie von meinen Äpfeln!

Ein zahnloser Alter mit einer runden Filzkappe hielt mir einen rotbäckigen hin. An der anderen Hand hüpfte ein kleines Mädchen mit einer kitschigen Bommelmütze, hüpfte so sehr, dass die goldene Bommel hin und her wedelte. Eine Schweizer Hilfsorganisation hatte diesen Markt zwei Jahre zuvor völlig neu errichtet. Für alle Menschen in Mitrovica sollte er offen sein und helfen, die Trennung zwischen Nord und Süd, zwischen Serben und Albanern zu überwinden. Ich biss in den Apfel und reichte ihn Petzold. Gemeinsam lobten wir den süßen Geschmack. Die Kleine und der Alte strahlten und erzählten sich etwas in ihrer Sprache.

Miriam würde kommen, das jedenfalls hatte sie mir in unserer schlaflosen Nacht versprochen.

„Warum willst du ausgerechnet mich?“
Das erste Mal hat sie mir ihren Finger auf den Mund gelegt. Später, als wir verschwitzt nebeneinander lagen, fragte ich sie noch einmal.

„Weil du es bist“, bekam ich zur Antwort.

„Wie meinst du das?“

„Genau so“, hat sie geflüstert und dabei mit ihren langen Fingern auf meiner Brust geschrieben: DU BIST ES.

Seitdem wohnte eine Leichtigkeit in mir, die mich die Kälte und die Müdigkeit vergessen ließ. Es war noch viel zu früh, die Sonne kam gerade über die Häuserdächer gekrochen, und doch hielt ich schon nach meiner Miriam Ausschau. Petzold und ich schlenderten von Stand zu Stand und sahen in ganz unterschiedliche Gesichter, viele gezeichnet durch die letzten Kriegsjahre und durch ihre Armut. Wir kauften uns heißen Tee, ich sah, wie Petzold aus der Jacke einen Flachmann holte.

„Du auch?“

„Nee lass man“, antwortete ich und dachte dabei daran, dass Miriam es riechen würde. Wieder und wieder hüpfte die goldene Bommel wie eine kleine Sonne an uns vorbei, sang und peitschte dabei einen Kreisel vor sich her. Kinderspiele, dachte ich und fragte mich zugleich, ob es in Deutschland überhaupt noch Kinder gibt, die so ein Ding mit einer simplen Schnurpeitsche zum Kreiseln bringen könnten.

Miriam kam, begleitet von Abresha, beide hielten ihre Haare unter bunten Kopftüchern verborgen. Traurigkeit las ich in Miriams Augen – und aufgeregtes Glück. Ich hätte sie am liebsten geküsst, sie durch die Luft gewirbelt oder wenigstens in den Arm genommen. Doch Miriam hatte mir vorher das Versprechen abgenommen, dass wir in der Öffentlichkeit zu ihrem Schutz keine Zärtlichkeiten tauschen. Daher blieb es bei einem Händedruck. Not macht erfinderisch, Miriam verlieh sogar diesem Händedruck etwas Besonderes, etwas Unvergessliches.

Sie streichelte mit ihrem Mittelfinger meine Handfläche, ganz kurz nur, aber das reichte um mich erneut in höchste Erregung zu versetzen. Sie merkte es und lachte. Dicke Wolken schoben sich vor die Sonne und mit einem Mal verlor dieser idyllische Ort seinen Zauber. Der kalte Wind ließ die Menschen noch kleiner werden und auch ich schlug den Kragen meiner Jacke hoch. Zu viert gingen wir jetzt zwischen den engen Marktreihen auf und ab, Petzold immer zwei respektvolle Schritte hinter uns.

Miriam erzählte mit Tränen in den Augen, dass das Tanzlokal nicht wieder öffnen werde, jedenfalls nicht mit Weinausschank und Musik. Zuviel Angst, so schimpfte Miriam, habe dieser Hasenfuß von Wirt.
„Aber Singen ist doch dein Leben, Miriam!?“

„Vorbei…“, winkte sie ab und schluckte schwer. Sie hielt eine merkwürdige Distanz zu mir, und ich verstand es nicht, nicht nach dieser Nacht. Dann fragte sie mit schmalen Augen: „Nimmst du mich mit nach Deutschland?“

In diesem Moment schoss mit lautem Motorengeheul und durchdrehenden Reifen ein gelbes Auto auf den Markt - als ob es in einer Seitenstraße nur auf einen Wink gewartet hätte. Es war der gleiche Lada, wieder die drei Verrückten mit ihren Waffen. Zuerst griff ich zum Funkgerät und rief Verstärkung, dann gab ich Petzold ein Zeichen und wir teilten uns. Abresha und Miriam rief ich zu: „Auf den Boden legen – und Köpfe runter!“

Da fielen auch schon die ersten Schüsse – drohende Salven, die einer der drei in die Luft schoss. Die Marktleute schrieen und duckten sich unter die Tische. Wieder sah ich den Pistolenmann aus dem Auto steigen und seine Waffe entsichern. Er wird sich erneut jemand krallen, dachte ich, und ihn zwingen niederzuknien, ihm die Pistole ins Genick drücken, nach Miriam rufen und sie auffordern mit ihnen zu fahren. Kurzer Funkkontakt, der Stab wusste Bescheid und erteilte Feuerbefehl.

Anlegen, Zielen, Schießen. Tausendmal geübt. Nicht denken. Nicht atmen.

„Katjaaaa!“, rief eine alte Stimme.

Nicht denken. Nicht atmen – volle Konzentration.

„Kaaaatjaaaa!“

Der Pistolenmann hob seinen Arm, zielte, zielte in meine Richtung. Volle Konzentration – und Schuss! Etwas Goldenes flimmerte für den Bruchteil einer Sekunde vor meinen Augen. Und Schuss! Der Pistolenmann sackte zusammen, seine Waffe fiel unbenutzt auf den Asphalt.

Petzold hatte einen der drei am Arm erwischt, der dritte ließ seine Maschinenpistole fallen und hob langsam die Hände. Zwischen dem zuckenden Pistolenmann und mir lag still das kleine Mädchen. Der Kreisel kippte und kullerte davon. Langsam, doch unaufhörlich färbte sich die goldene Bommel schwarzrot.
 

ThomasQu

Mitglied
Hallo Herr Wipfel,

das hast du schon routiniert geschrieben.

Am Schluss wird nicht ganz klar, wer hier wen erschießt. Wenn der Ich-Erzähler den Pistolenmann auf dem Gewissen hat, solltest du zumindest
Volle Konzentration – und Schuss
in eine neue Zeile setzen, weil sich ja die Perspektive ändert.
Sollte der Pistolenmann das kleine Mädchen zuerst erschossen haben, dann stört das
Volle Konzentration. (Wer genau konzentriert sich denn in dieser Sekunde?)
Also, wenn du diese Szene noch etwas genauer erzählen könntest, wäre das prima.

Grüße, Th.
 

ThomasQu

Mitglied
Nochmal ich:
Wenn du mehr Herzschmerz in deiner Geschichte haben möchtest, dann versuche doch, mir das kleine Mädchen etwas näher zu bringen, damit ich mitleiden kann.
Wäre Miriam erschossen worden, wäre ich am Ende traurig gewesen, weil ich sie schon ausreichend kennengelernt habe.
Das kleine Mädchen ist für mich noch viel zu anonym und so kann ich auch nichts für sie empfinden.
 

Wipfel

Mitglied
wipfel

Hallo Herr Thomas,ganz lieben Dank für dein Lesen und für das Nachdenken über diesen Text. Den Schluss schau ich mir noch mal an. Über Katja habe ich kurz nachgedacht. Nö, das wäre wirklich eine andere Geschichte, lieber nehme ich es in Kauf, dass du weniger leidest. Kolateralschaden, nicht mehr soll Katja sein. Aber auch nicht weniger...

Grüße von wipfel
 

Vagant

Mitglied
Hallo Wipfel,

Der Icherzähler (Moritz ? Habe ich das richtig in Erinnerung?) ezählt hier als "erinnerndes Ich" seine Erlebnisse aus dem Kosovo, erzählt vom Lagerleben, von den Abenden in den Bars, von der Schwierigkeit des Zusammenlebens der Kosovaren und der Albaner und er erzählt vom Verliebtsein. Du hast da einen wunderbaren Plot, der eigentlich all das bietet was man so benötigt: Konflikt, Konflikt, Konflikt.
Aber für mich birgt die Ezählsituation des "erinnernden-Ichs" auch ein großes Manko, denn durch all die Nebenbetrachtungen, die teilweise reine Infodumps sind und nirgends hinführen, leidet der Erzählfluss, also das Nach-vorn-treiben der Story doch streckenweise erheblich.

Niemals sollte dieser Tag vergehen, niemals!
Doch auf einmal war ich in dieser Unglücksstadt Mitrovica, einer Stadt etwa so groß wie Weimar. Messerscharf geteilt leben die Menschen hier, geteilt durch die Ibar, einen harmlosen Fluss. Im kleineren Norden der Stadt leben zumeist Serben, die Albaner mit ihrer eigenen Sprache im südlichen Teil. Wie so oft zwischen den Fronten, verstecken sich in einer früheren Kaserne am Rande der Stadt einige Hundert Roma.

Mitrovica war über Jahrhunderte immer eine multiethnische Stadt. Man wohnte nebeneinander, Kinder gingen gemeinsam zur Schule. Die Männer schufteten in den nahe gelegenen Gruben, während die Frauen als Verkäuferinnen, Lehrerinnen, Ärztinnen und Krankenschwestern das restliche Leben organisierten.
Was nur ist geschehen, was hat diese Menschen so sehr entzweit, dass man inzwischen sogar die Toten ausgräbt. Tote, die seit alter Zeit auf gemeinsamen Friedhöfen ruhen und nun auf die andere Seite des Flusses gebracht werden?
Absatz eins zeichnet die Situation des Ich-Erzählers vor seinem Einsatz auf. Das ist Ok, denke ich. Uschi spielt zwar im weiteren Verlauf keine Rolle, aber wie ich schon sagte, dient der Absatzt ja nur dazu, uns den Perspektivträger näher zu bringen.

Absätze zwei und drei (die kopierten) beinhalten ausschließlich Informationen. Wichtige zwar, also Informationen, die uns befähigen, ein besseres Verständnis von den örtlichen Begebenheiten zu erlangen, aber halt allesamt Informationen, die immer noch nicht zu Geschichte führen und nur eine bedingte Relevanz für die Geschichte haben. Mich hat es ein wenig an so ein Doku-Fiktion-Format erinnert, wo das Szenischen gelegentlich durch Archivmaterial, Zeitungsausschnitte und Originalaufnahmen unterbrochen wird.
Im Grunde finde ich diese Vorgehensweise für diese Erzählerhaltung völlig okay, aber dann halt entweder in einem nüchternden Reportagestil – vielleicht kursiv in Form von Schlagzeilen, etc – oder so in das Erzählte eingebettet, dass es sich völlig organisch da hinein fügt, so, dass ich sage: hat zwar nix mit der Geschichte zu tun, aber der Typ erinnert sich so exellent, der hat so ein Auge für die kleinen Gesten und Details, der weiß wie dort die Luft schmeckt, dass es eine Freude ist, dies zu lesen.

Der Szene im Hinterzimmer, also nachdem Moritz und Reinhard den nächtlichen Angriff abgewehrt haben, fehlt es meiner Meinung nach an Atmosphäre. Die ist für mich noch nicht ganz rund.
Ich meine, das ist der Südosten, der Balkan, die rauchen doch da allesamt wie die Schlote, und das war ja auch gerade eine sehr brisante Situation, aber diese Brisanz will da einfach nicht rüber kommen.
Hier muss man richtig tief eintauchen um dies glaubwürdig darzustellen. Wer macht was? Wer zupft sich nervös am Hemsdkragen? Wr zündet sich die nächste Kippe an, obwohl die vorherige gerade noch im Aschenbecher vor sich hinglimmt? Wer schwitzt? Wer kriegt überhaut keinen Ton mehr raus. All die kleinen Gesten, all der saure Gestank von Angstschweiß. Nein, das kommt hier nicht rüber.
Er wollte noch etwas sagen, schwieg dann aber und sah mich dabei an.
Hier lässt du Chancen verstreichen. Der Satz ist teilweise auktorial, also 'auchtoriales Ich', und als Leser kann ich mir das ja zusammenreimen, also ich kann mir vorstellen, wie Fadil gerade reagiert, was er macht undso. Aber Wipfel, das muss man doch an dieser Stelle erzählen. Nicht, dass er eventuell noch etwas sagen wollte, sondern seinen Blick muss man hier beschreiben, ein kurzes Zucken der Schultern, den Rauch der in den Augen beißt, ein kaum hörbares Murmeln, kurz und gut: Atmosphäre Atmosphäre, Atmosphäre.

Am Ende gipfelt alles in der Marktplatzschießerei. Ein Mädchen ist tot. Ja scheiße, so ist der Krieg.
Ich finde es wichtig, dass solche Geschichten geschrieben werden. Danke dafür.

Klang vielleicht alles ein wenig destruktiv. Aber ich denke, du bist einer derjenigen, die damit umzugehen wissen.

Ich hab's gern gelesen, Vagant.
 

Wipfel

Mitglied
Hallo Vagant, mensch, mensch, mensch. Da hast du dir ja eine Mühe gemacht, meinen Text zu durchleuchten. Danke! Ja, ich hab es verstanden, weiß was du willst und weiß jetzt, was dem Text fehlt. Klar, die Informationen gehören nicht zur eigentlichen Geschichte. Und die Erzählstimme von Moritz (richtig erinnert) klingt zum Teil nicht wie Erzähler, sondern wie ein dozierender Oberstudienrat. Mensch, mensch - das riecht nach viel Arbeit. Geduld.

Merci und Grüße von wipfel
 

Vagant

Mitglied
Morgen Wipfel.

Ach so viel ist es ja gar nicht. Von allem. Nicht von der angesprochenen Mühe, nicht von der Arbeit, die du eventuell nochmal investieren wirst, denn wenn ich sage, dass die Geschichte an dieser oder jener Stelle nicht so richtig rund ist, so ist das halt nur eine rein subjektive Meinung. Das liest ja jeder anderes, und jeder hat so seine eigenen Vorstellungen davon, wie so etwas geschrieben werden sollte/könnte. Wir sind alle weder Schriftsteller noch versierte Kritiker, das sollte man an dieser Stelle halt auch mal gelassen sagen dürfen. Ist halt leider so, dass man hier oft nur eine Meinung zu einem Text bekommt und deshalb hier nur selten ein Austausch stattfinden kann. Auch ich würde mich gern mal in meinen manchmal wohl etwas festgefahrenen Ansichten übers Erzählen umstimmen lassen.
Übrigens - das hatte ich gestern vergessen - bin ich bei der Sicht über das Mädchen ganz bei ThomasQ, der da sagte, man könne es besser in die Geschichte einführen. Ich finde das Bild der erst hüpfenden, dann blutenden Bommel sehr gut gewählt. Das hat schon was filmisches, irgendwie, und diesem Bild nachhängend kam mir der Gedanke, dass man es im ersten Absatz schon einführen könnte. Dann wäre es halt nicht die erotische Begebenheit mit Uschi, die ich übrigens sehr schön geschrieben fand, sondern irgendeine Spielplatzszene mit Motitzs Nichte oderso, halt irgendwas, was die Bommel springen lässt.

LG Vagant.
 

ThomasQu

Mitglied
... oder ihr könnte irgendein Spielzeug runterfallen, oder ein Ball rollt auf Moritz zu. Er bückt sich, gibt ihn ihr und sie lächelt ihn mit ihren Zahnlücken an. Irgens sowas eben, muss gar nicht viel sein.
Die Uschi ist wirklich überflüssig.
 



 
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